Premierminister David Cameron verschärft aus Furcht vor einer Wahlniederlage gegen die UK Independent Party (UKIP) seine einwandererfeindliche Propaganda. Das führt zu erneuten Spannungen in Großbritanniens Beziehung zur Europäischen Union.
Der künftige Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, wies letzte Woche Camerons Plan zurück, den freien Personenverkehr innerhalb der EU einzuschränken, den er zuvor in der Sunday Times erläutert hatte. Juncker erklärte im Europäischen Parlament in Straßburg, Cameron mache einen "Fehler von historischem Ausmaß."
Juncker erklärte, er würde gerne dabei helfen, ein "faires Abkommen" mit Cameron in die Wege zu leiten, wenn er ein EU-Reformpaket vorlege. Er fügte jedoch hinzu: "Was den freien Personenverkehr angeht... denke ich, ist dieser ein grundlegendes Prinzip der EU seit ihren Anfängen, und ich bin nicht bereit, etwas daran zu ändern, denn wenn wir den freien Personenverkehr zerstören, werden später auch andere Freiheiten abgeschafft werden."
Junckers Vorgänger Jose Barroso erklärte am letzten Wochenende in einem Interview mit Andrew Marr von der BBC: "Prinzipiell scheinen mir willkürliche Beschränkungen ein Widerspruch zu den Regeln der Europäischen Union zu sein." Er wies darauf hin, dass Cameron auf die EU-Regeln zum freien Personenverkehr gepocht habe, als er sich über spanische Einschränkungen gegenüber Gibraltar beklagte. "Britische Bürger können sich frei in ganz Europa bewegen“, sagte er. "700.000 davon leben in Spanien."
Barroso fragte, ob die 1,5 bis zwei Millionen britischen Staatsbürger, die in anderen EU-Staaten leben, das auch weiterhin tun könnten und warnte, Großbritannien werde keinen Einfluss mehr haben, wenn es die EU verlasse. "Großbritannien ist ein großartiges Land mit einer großartigen Geschichte“, sagte er. "Aber es sind 60 Millionen Menschen. Glauben wir, Großbritannien könne alleine auf Augenhöhe mit den USA oder einem Riesen wie China stehen?"
Cameron versprach, die Reform des Einwanderungsrechtes in den Mittelpunkt der Neuverhandlungen über Großbritanniens Beziehung zur EU zu stellen. Diese Verhandlungen sollen vor einem Referendum über Großbritanniens weitere Mitgliedschaft im Jahr 2017 stattfinden. Laut der Murdoch-Presse würden Zuwanderer aus der EU nur für begrenzte Zeit eine Sozialversicherungsnummer erhalten, sodass sie nicht dauerhaft nach Großbritannien ziehen und Sozialleistungen beanspruchen können. Camerons erklärtes Ziel ist es, die Nettoeinwanderung auf unter 100.000 pro Jahr zu senken. Bis März lag sie dieses Jahr bei fast 250.000.
Die Reaktion der Tories auf die EU war bewusst aggressiv. Außenminister Phillip Hammond warnte, der Rückhalt in der Öffentlichkeit für die EU sei, "diplomatisch ausgedrückt, brüchig," da der Handelsblock "anscheinend ein Superstaat" geworden sei. Die Fortsetzung der Mitgliedschaft sei jetzt die "wichtigste strategische Frage, vor der das Land steht."
Er sprach im Rahmen eines fraktionsübergreifenden Gesetzentwurfs zum EU-Referendum, der im Unterhaus in zweiter Lesung mit 293 zu 0 Stimmen angenommen wurde. Hammond erklärte, der Gesetzesentwurf "entfache ein Feuer unter der Europäischen Union " und werde Brüssel dazu zwingen, Großbritannien "gehaltvolle und substanzielle Reformen" zu gewähren, da die Androhung eines Austritts Großbritanniens eine "sehr mächtige Waffe in unserem Arsenal" sei.
Der Tory-Vorsitzende Grant Shapps äußerte sich als Reaktion auf Barroso ähnlich und nannte ihn nur den jüngsten Kandidaten aus Europa, der uns sagen will, dass wir nie bekommen werden, was wir wollen... Es gibt viele unmögliche Dinge, die wir in Europa erreicht haben."
Dass Cameron und seine Regierung auf eine so waghalsige Politik mit potenziell verheerenden Auswirkungen auf die britische Wirtschaft setzen, zeigt, in welch prekärer Position sie sich befinden.
Von außen droht ihr am 20. November die zweite Niederlage in einer Nachwahl, aufgrund des Überläufers Mark Reckless zur UKIP in Rochester and Strood. Zuvor hatte im Oktober bereits Douglas Carswell seinen Sitz für Clacton aufgegeben, um der erste gewählte Abgeordnete der UKIP zu werden, nachdem er von den Tories übergelaufen war.
Camerons innerparteiliche Situation sieht auch nicht besser aus. Die UKIP ist im Grunde genommen eine außerhalb der Partei stehende Fraktion der euroskeptischen Tory-Abgeordneten, die entweder ebenfalls zur UKIP überlaufen oder Cameron als Regierungschef stürzen könnte. Ein anonymer Kabinettsminister warnte, es werde ein Misstrauensvotum gegen Cameron geben, wenn die Partei den Wahlkreis Rochester und Strood verliert. "Wenn Reckless gewinnt, werden 46 Abgeordnete von der Fahne gehen“, drohte er.
Peter Bone, Abgeordneter für Wellinborough, erklärte, die Regierung sollte das Referendum als Regierungsvorlage einbringen, auch wenn dies einen Bruch der Koalition mit den Liberaldemokraten bedeuten würde. "Wenn die Liberaldemokraten die Regierung verlassen wollen, sollen sie das tun“, sagte er.
Eine der möglichen Herausforderinnen der Tories in Rochester and Strood, Anna Firth, unterstützt eine Politik, die sowohl von Reckless von der UKIP als auch von dem Londoner Bürgermeister Boris Johnson, Camerons Hauptrivalen in der Konservativen Partei, unterstützt wird. Firth erklärte, die Zuwanderungspolitik der Regierung sei "unvernünftig". Sie forderte, das auf Punkten basierende System wie in Australien, mit dem "rumänische Obstpflücker" aus Großbritannien rausgehalten werden, auch auf Zuwanderer von außerhalb der Europäischen Union auszudehnen.
Cameron versuchte seine Position zu stärken, indem er im Sunday Telegraph warnte, Stimmen für die UKIP könnte eine Labour-Regierung an die Macht bringen. "Lassen Sie sich nicht einreden, es gäbe einen dritten Weg. Eine Stimme für UKIP ist eine Stimme für Labour“, schrieb er und rühmte sich damit, dass "die Einwanderung aus Nicht-EU-Ländern heute auf dem niedrigsten Stand seit den 1990ern" sei. "Wir verpflichten uns, die Zuwanderung aus der EU ins Zentrum unserer Verhandlungen mit Europa zu stellen..."
"Wir haben außerdem versprochen, Labours Human Rights Act abzuschaffen, sodass Europa uns keine betrügerischen Urteile auf der Grundlage der Menschenrechte mehr aufzwingen kann. Und vergessen Sie niemals: nur die Konservative Partei bietet Ihnen ein umfassendes Referendum über Europa im Jahr 2017."
Labour reagierte darauf wie üblich, indem es die zuwandererfeindliche Diktion übernahm. Der Schatten-Einwanderungsminister David Hanson erklärte: "Labour unterstützt Reformen der Regeln zur europäischen Bewegungsfreiheit, und wir werden alle Vorschläge der Regierung zur Bewältigung der Zuwanderung mit Interesse überprüfen. Aber warum sollte jemand dem Premierminister glauben, der dafür bekannt ist, große Versprechen abzugeben und sie nicht einzuhalten..."
Labour hat außerdem versprochen, einen Vorschlag der Tories zu unterstützen, sich wieder an dem System der Europäischen Haftbefehle zu beteiligen, durch das britische Staatsbürger auf Anforderung jedes EU-Landes verhaftet und ausgeliefert werden können. "Wir machen damit keine politischen Spielchen. Wir werden nicht weich gegenüber dem Verbrechen sein," erklärte ein Sprecher von Labour-Chef Ed Miliband.
Labour ist uneins bezüglich seiner Reaktion auf das geplante Tory-Referendum über Europa. Es gab zahllose Forderungen, die Partei sollte eine harte Linie gegen Zuwanderer einnehmen - vor allem nachdem sie in Heywood und Middleton eine Nachwahl gegen die UKIP mit nur 617 Stimmen gewonnen hatte.
Die Partei hat das Referendum über die EU-Mitgliedschaft offiziell als "völlig absurd" und Bedrohung für die Wirtschaft bezeichnet. Allerdings zeigt eine Umfrage unter Labour-Abgeordneten, dass 34 von ihnen ein Referendum unterstützen.
Die Abgeordnete für Vauxhall, Kate Hoey, erklärte, es sei "sehr falsch“, ein Referendum abzulehnen, das unter traditionellen Labour-Wählern sehr populär sei. Sie fügte hinzu: "Milibands innerer Kreis ist insgeheim über die Frage gespalten, ob man das Referendum unterstützen sollte. Ich habe wirklich den Eindruck, dass ich bei Labour-Wählern im Land nicht in der Minderheit bin“, erklärte sie.
Es gab sogar Gerüchte, dass Miliband durch den ehemaligen Abgeordneten Andrew Mackinlay ersetzt werden sollte, der Milibands Führung als "völlige Katastrophe" bezeichnete; der ehemalige Berater von Premierminister Gordon Brown, Damian McBride, erklärte: "Labour muss entweder bereit sein, seinen Vorsitzenden auszutauschen, oder der Vorsitzende muss bereit sein, sich zu ändern."