Perspektive

Tod als Abschreckung

Das Ende von Mare Nostrum

Am 1. November hat die italienische Regierung die Marineoperation Mare Nostrum, die im Laufe eines Jahres mehr als 100.000 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gefischt hat, offiziell eingestellt. Grund ist eine bewusste Entscheidung der Europäischen Union, in Zukunft tausende Flüchtlinge jämmerlich ertrinken zu lassen, um weitere von der Flucht nach Europa abzuschrecken.

Die italienische Regierung hatte die Operation Mare Nostrum am 18. Oktober 2013 begonnen, nachdem vor der italienischen Insel Lampedusa in einer Woche nahezu 500 Flüchtlinge ertrunken waren. Durch eine intensivere Überwachung des Mittelmeers sollten ähnliche Katastrophen in Zukunft vermieden werden.

Dabei stand die Seenotrettung nur an zweiter Stelle. Der Einsatz der italienischen Kriegsmarine diente in erster Linie dem Aufspüren von Schlepperbanden. Flüchtlingsboote vor der libyschen und tunesischen Küste sollten frühzeitig entdeckt und wieder zurück nach Afrika eskortiert werden.

Trotzdem wurden im Rahmen der Mission Mare Nostrum insgesamt rund 150.000 Flüchtlinge gerettet, rechnet man jene hinzu, die Handelsschiffe vor den Küsten Italiens aufgriffen. Tausende bezahlten die gefährliche Flucht allerdings auch weiterhin mit dem Leben. Allein in den ersten zehn Monaten dieses Jahres sind mehr als 3.000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken. Seit dem Jahr 2000 waren es über 25.000.

Obwohl die anderen europäischen Regierungen und die Europäische Union nach der Katastrophe von Lampedusa beteuert hatten, ähnliche Katastrophen zukünftig zu verhindern, stellten sie nicht einen Euro für die Seenotrettung im Mittelmeer bereit. Mit dem Anwachsen der Flüchtlingszahlen, die aus Italien in andere europäische Länder zogen, erhöhten sie den Druck auf die italienische Regierung, Mare Nostrum wieder einzustellen.

Sie taten das mit der zynischen Begründung, die Rettung von Flüchtlingen aus dem Mittelmeer erhöhe den Anreiz, die gefährliche Flucht zu wagen. So verurteilte die zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström Mare Nostrum mit dem Argument, Flüchtlinge seien in kleinere und unsichere Boote gepfercht worden, weil die Operation „die Wahrscheinlichkeit ihrer Rettung erhöht“ habe.

Die Staatsministerin im britischen Außenministerium, Baroness Joyce Anelay, behauptete, dass „Seenotrettungsmaßnahmen zu einem Anziehungsfaktor für Migranten werden und dadurch zu mehr tragischen und unnötigen Todesfällen führen“.

Schließlich erklärte die italienische Regierung, sie sei nicht länger fähig, die monatlich neun Millionen Euro für Mare Nostrum aufzubringen. Die europäischen Partner lehnten es ab, sich an den Kosten zu beteiligen. Die Operation wurde eingestellt.

Zum Vergleich: Allein in den ersten 43 Tagen des Irakkriegs hatten die USA 2003 Munition im Wert von 2,7 Milliarden Dollar verschossen. Mit dieser Summe ließe sich Mare Nostrum 20 Jahre lang finanzieren. Ähnlich hoch waren die Kosten der Kriege in Afghanistan, Libyen, dem Gazastreifen und jetzt in Syrien – den Regionen, aus denen die meisten Mittelmeerflüchtlinge kommen.

Die Europäische Union hat seit 2007 vier Milliarden Euro für den Fonds „Solidarität und Steuerung der Migrationsströme“ zur Verfügung gestellt. Dieses Geld diente allerdings nicht der Unterstützung von Flüchtlingen, sondern ihrer Abwehr. Es floss größtenteils in die militärische Aufrüstung der Grenzsicherung, den Bau von Zäunen, Grenzposten, Infrarot- und Wärmebildkameras sowie die drohnen- und satellitengestützte Beobachtung der Außengrenzen.

An die Stelle von Mare Nostrum tritt nun die Operation Triton unter Federführung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Sie dient nicht der Rettung von Flüchtlingen, sondern der Sicherung der Grenzen vor irregulärer Einwanderung. „Frontex ist für die Überwachung der Grenzen zuständig und hat nicht den Auftrag, Flüchtlinge zu retten“, erklärte Frontex-Direktor Gil Arias-Fernandez unlängst dem Tagesspiegel. „Anders als die Flotte von Mare Nostrum fahren wir nicht raus, um gezielt nach Flüchtlingsbooten zu suchen.“

Das von Frontex erstellte Konzept zur Operation Triton, gibt offen zu, „dass der Rückzug von Marineeinheiten aus dem Seegebiet nahe der libyschen Küste ... wahrscheinlich zu einer höheren Anzahl von Todesfällen führt“.

Es bewertet diesen Anstieg der Todeszahlen positiv, da bei einem Rückzug der Marineeinheiten, „deutlich weniger Migranten die Überfahrt bei schlechtem Wetter wagen und die Preise für die Überfahrten steigen werden“. Dadurch werde die Zahl der Flüchtlinge wieder auf „das Niveau der Vorjahre“ sinken.

Der UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte von Migranten, François Crépeau, hat diese menschenverachtende Politik scharf verurteilt. „Darauf zu setzen, dass ein Anstieg der Zahl der Todesopfer auf zukünftige Migranten und Asylsuchende abschreckend wirkt, ist entsetzlich“, sagte er. „Es ist, als ob man sagen würde: Lass sie sterben, denn das ist eine gute Abschreckung für andere.“

Die bewusste Entscheidung, die Seenotrettungsmaßnahmen im Mittelmeer einzustellen und Flüchtlinge zur Abschreckung ertrinken zu lassen, zeigt das wahre Gesicht der Europäischen Union. Sie verkörpert nicht die „Einheit Europas“, sondern die Diktatur der rücksichtslosesten Kapitalinteressen über Europa.

Mit derselben Rücksichtslosigkeit, mit der sie an ihren Außengrenzen Flüchtlinge abweist und kaltblütig ertrinken lässt, geht die EU auch gegen die eigene arbeitende Bevölkerung und gegen ihre internationalen Rivalen vor. Seit der Finanzkrise 2008 diktiert sie ein Sparpaket nach dem anderen, um die Billionen für die Rettung der Banken auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung wieder einzutreiben. In der Ukraine provoziert sie eine Konfrontation mit Russland, während sie im Nahen Osten einen neuen Krieg vorbereitet, der das bisherige militärische Eingreifen in Afghanistan, Irak und Libyen in den Schatten stellt.

Die Arbeiterklasse kann der EU und den europäischen Regierungen nur entgegentreten, wenn sie sich international zusammenschließt und für ein sozialistisches Europa, für Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa, kämpft. Die bedingungslose Verteidigung von Flüchtlingen ist die Voraussetzung, um die demokratischen und sozialen Rechte der gesamten arbeitenden Bevölkerung zu verteidigen.

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