Britischer Premierminister Cameron wirbt für Reformen der EU

Die einwöchige diplomatische Offensive des britischen Premierministers David Cameron in Europa erreichte am Freitag offenbar einen Höhepunkt: Bundeskanzlerin Angela Merkel deutete an, der Vertrag von Lissabon könne entsprechend seiner Forderungen neu verhandelt werden.

Gleichzeitig betonte sie, die europäische Integration werde weitergehen, jedoch auf der Grundlage eines „Modells der zwei Geschwindigkeiten“, bei dem Großbritannien außerhalb des deutsch-französischen Kerns bleiben würde.

Die Tories sind entschlossen, bis Ende 2017 ein Referendum über den Verbleib oder Austritt aus der EU abzuhalten. Da es jedoch enorme politische Unsicherheit für die britische Wirtschaft mit sich bringt, würden sie es gerne schon ins nächste Jahr vorziehen.

Cameron fordert, dass Großbritannien sich nicht an den Bestrebungen der EU zum Aufbau einer „immer engeren Union“ beteiligen müsse. Außerdem verlangt er zusätzliche Befugnisse für das britische Parlament, EU-Gesetze blockieren zu können, und Maßnahmen, die die Freizügigkeit europäischer Bürger einschränken. Auch sollen Sozialleistungen für neue Zuwanderer eingeschränkt werden. Für Zuwanderer soll eine Mindestarbeitszeit von vier Jahren gelten, bevor sie Anspruch auf beschäftigungsabhängige Transferleistungen haben. Für Bürger aus EU-Beitrittsländern soll ein Einreiseverbot gelten.

Nach seiner Kalkulation haben sein Wahlsieg am 7. Mai und seine Drohung, die EU zu verlassen, seine Position gestärkt. Außenminister Philip Hammond warnte: „Der Premierminister macht in seinen Verhandlungen mit europäischen Amtskollegen sehr deutlich, dass wir das Referendum nicht gewinnen werden, wenn wir in diesen wichtigen Bereichen keine Erfolge gegenüber der britischen Bevölkerung vorweisen können.“

Im Großen und Ganzen haben sich solche Annahmen als falsch erwiesen. Die führenden EU-Politiker sind gegen den EU-Austritt Großbritanniens (Brexit). Er wäre ein schwerer Schlag für die Union – vor allem angesichts der Gefahr eines Austritts Griechenlands, den Verlusten der spanischen Volkspartei bei der Regionalwahl in Spanien und dem Sieg von Andrzej Duda von der rechten, antieuropäischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) in der polnischen Präsidentschaftswahl.

Doch obwohl kein Staatsoberhaupt der EU einen Brexit riskieren will, wurde Cameron mit teilweise unverhohlener Feindseligkeit empfangen, weil er in dieser Situation Forderungen stellt, die den Interessen anderer Mitgliedsstaaten zuwider laufen. Zudem sind viele davon überzeugt, dass Cameron politisches Theater spielt und ein Abkommen schließen wird, um sein Gesicht zu wahren.

Daher erklärte Merkel, bevor der Vertrag von Lissabon überarbeitet werden könne, sei es notwendig, zu klären, was dafür verändert werden müsse und ob dafür eine Vertragsänderung notwendig sei oder ob man das im Sekundärrecht machen könne. Natürlich könne man, wenn man inhaltlich von etwas überzeugt ist, nicht sagen: „Eine Vertragsänderung ist eine völlige Unmöglichkeit.“

Merkel sagte, Deutschland hoffe, dass Großbritannien Mitglied der EU bleibe. Auf die Forderung nach einer Austrittsmöglichkeit für Großbritannien aus der Verpflichtung der Römischen Verträge von 1957, eine „immer engere Union“ aufzubauen, erklärte sie jedoch: „Das Europa der zwei Geschwindigkeiten [ist] die heutige Realität... Verschiedene Geschwindigkeiten haben wir und werden wir haben, und ich habe überhaupt kein Problem damit, dass wir das auch in Zukunft so handhaben werden.“

Damit hat Merkel recht eindeutig erklärt, dass Deutschland und Frankreich entschlossen sind, eine Kerngruppe von EU-Staaten zu dominieren, und dass Großbritannien, zusammen mit schwächeren und großenteils krisengeschüttelten Ländern wie Griechenland, an der Peripherie des Binnenmarktes stehen werde.

Ein gutes Beispiel für Deutschlands Ablehnung gegenüber Camerons Vorgehen war die Aussage des stellvertretenden Hauptgeschäftsführers der deutschen Industrie- und Handelskammer. Er bezeichnete die Entscheidung für ein Referendum als „erstaunlich“. Auf die Frage der BBC, wie weit Merkel Großbritanniens Forderungen entgegenkommen sollte, erklärte er: „Wir empfehlen unter solchen Umständen kein Abkommen zu treffen.“

Vor seinem Besuch in Deutschland war Cameron in den letzten zwei Tagen seiner „Charmeoffensive“ zu Besuch in den Niederlanden, Frankreich und Polen. Seine Reise begann mit einer Diskussion mit den Regierungschefs von Schweden, Ungarn, Lettland, Bulgarien und Polen während des Treffens der Östlichen Partnerschaft in Riga, gefolgt von einem Essen mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, am Montag vor einer Woche.

Ein geplanter Besuch in Dänemark scheiterte an der wachsenden Instabilität in Europa. Dänemark konnte zwar für sich einige Ausnahmeregelungen aus dem Vertrag von Lissabon aushandeln, dennoch hätte Cameron nicht mit einem warmen Empfang rechnen dürfen. Die dänische Premierministerin Helle Thorning Schmidt versucht momentan, sich als Gegnerin der Austeritätspolitik zu inszenieren, um ihre konservativen Rivalen in die Schranken zu weisen.

Am freundlichsten wurde Cameron in den Niederlanden empfangen. In Den Haag erklärte er, Großbritannien und die Niederlande seien „alte Freunde und gleichgesinnte Verbündete“. Über den niederländischen Premierminister Mark Rutte sagte er: „Wir haben zusammen daran gearbeitet, sicherzustellen, dass der europäische Staatshaushalt unter Kontrolle ist, wir haben zusammen Handelsabkommen mit anderen Teilen der Welt ausgearbeitet, wir haben zusammen eine starke, markt- und wirtschaftsfreundliche Agenda ausgearbeitet. Deshalb werden wir das alles und meine Pläne für Reformen in Europa diskutieren.“

Er meinte damit den niederländischen Vorschlag für weniger Regulierung in der EU und Unterstützung für eine Ausweitung des freien Marktes auf weitere Dienstleistungsbereiche.

Die polnische Regierung teilt die rechten wirtschaftspolitischen Ansichten der britischen Tories, allerdings bereitete sie Cameron wegen seiner Einstellung zu Sozialhilfeansprüchen für Zuwanderer aus der EU dennoch einen eher frostigen Empfang.

Ein Sprecher der britischen Regierung erklärte nach einem Frühstückstreffen mit der polnischen Premierministerin Ewa Kopacz: „Sie konnten sich in vielem einig werden: dass Europa durch eine Stärkung des Binnenmarktes wettbewerbsfähiger gemacht werden muss; dass die Bürokratie abgebaut werden muss; dass ein Gleichgewicht zwischen Ausgaben und Einnahmen und mehr Subsidiarität sichergestellt werden und die Souveränität der Mitgliedsstaaten respektiert werden muss.“

Er fügte hinzu: „Es gab Fragen bezüglich der Interaktion zwischen der Freizügigkeit und nationalen Sozialsystemen, die weiterer Diskussion bedürfen“ – eine Meisterleistung an Untertreibung.

Kopacz erklärte in einer Stellungnahme, sie habe Cameron gesagt, dass sie „Maßnahmen, die zur Diskriminierung von Polen und anderen EU-Staatsbürgern, die legale Beschäftigung in Großbritannien suchen“, entschieden ablehnt. In Großbritannien leben und arbeiten ungefähr 700.000 polnische Staatsbürger.

Bedeutsamer war jedoch der recht feindselige Empfang, den Cameron in Frankreich erhielt. Das Land wird im rechten Flügel der Tories und in der UK Independence Party sehr negativ angesehen. Es gilt als Beispiel für alles, was am über-regulierten europäischen Kapitalismus schlecht sei.

Cameron hatte mehrere Jahre lang versucht, einen Keil zwischen Berlin und Paris zu treiben, indem er Deutschlands Wunsch nach mehr wirtschaftlicher Deregulierung ausnutzte. Aber noch vor seinem Besuch bei Präsident Francois Hollande im Élysée-Palast wurde Le Monde ein Dokument zugespielt, das darauf hindeutet, dass Frankreich und Deutschland entschlossen sind, die bestehenden EU-Verträge zu wahren. Das lässt darauf schließen, was sich am Donnerstag abspielte.

Hollande steht im Jahr 2017 eine Präsidentschaftswahl bevor. Bis dahin könnte sich der antieuropäische Front National zu einem gefährlichen Rivalen entwickeln. Daher betonte der Präsident, dass Frankreich kein Interesse an Änderungen der EU-Verträge habe. Außenminister Laurent Fabius hatte zuvor gewarnt: „Wir wollen, dass Großbritannien in der EU bleibt. Wir sind offen für Verbesserungen an der Union, aber wir können es nicht gutheißen, dass sie zerstört wird.“

Für wie gefährlich er die Lage für die europäische Bourgeoisie einschätzt, machte Fabius mit dieser Aussage deutlich: „Das Vereinigte Königreich ist eine der größten Wirtschaftsmächte der Welt. Es ist eine Militärmacht und eine diplomatische Macht. Wenn ein so wichtiges Land die Europäische Union verlassen würde, würde das ein sehr schlechtes Licht auf Europa werfen.“

Cameron will vor dem Gipfeltreffen des Europarates am 25. Juni noch mit den Regierungschefs aller 27 EU-Mitgliedsstaaten diskutiert haben. Seine hektische Shuttlediplomatie wird nicht nur die Rivalitäten zwischen den krisengeschüttelten europäischen Mächten verschärfen. Auch die Streitigkeiten in den herrschenden Kreisen in Großbritannien über Camerons gefährliches Spiel mit wichtigen nationalen- und Handelsinteressen spitzen sich zu. Denn sie sie sind von Großbritanniens Zugang zu den europäischen Märkten abhängig und von der Möglichkeit – im eigenen Interesse und im Namen der Vereinigten Staaten – politischen und militärischen Druck auf Europa auszuüben.

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