US-Verteidigungsminister Ashton Carter traf sich am Freitag im Hauptquartier der US-Streitkräfte in Europa mit zwei Dutzend amerikanischen Militärkommandanten und europäischen Diplomaten, um über die Verschärfung ihrer wirtschaftlichen und militärischen Kampagne gegen Russland zu diskutieren. Sie bewerteten außerdem die Auswirkungen der aktuellen Wirtschaftssanktionen und der Strategie der Nato, die Krise in der Ostukraine für die Stationierung von Soldaten und Kriegsgerät in Osteuropa auszunutzen, und drohten Russland mit Krieg.
Ein Vertreter des US-Verteidigungsministeriums erklärte gegenüber Reuters, dass es bei dem Treffen hauptsächlich darum gehe, „zu bewerten und Strategien zu entwerfen, wie die Vereinigten Staaten und ihre wichtigsten Verbündeten auf die verschärften Spannungen mit Russland im Laufe des letzten Jahres reagieren sollten“. Der Vertreter sagte außerdem, dass Carter der Lieferung von tödlichen Waffen an das ukrainische Regime positiv gegenüber stehe. Dieser Vorschlag war bereits Anfang des Jahres vorgebracht worden.
Besonders provokant war ein Bericht von Associated Press, der am Donnerstag veröffentlicht wurde. Laut diesem Bericht erwägt das Pentagon den Einsatz von Atomraketen gegen militärische Ziele in Russland als Reaktion auf angebliche Verstöße gegen den Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme (INF-Vertrag) von 1987. Die USA behaupten, Russland habe gegen den INF-Vertrag verstoßen, indem es Flugerprobungen von bodengestützten Marschflugkörpern durchgeführt habe, deren Reichweite die Beschränkungen des Vertrags überschreite. Russland dementierte dies.
Das Pentagon diskutiert über drei Optionen: die Stationierung von Raketenabwehrsystemen in Europa, um russische Raketen abschießen zu können, eine „Gegenschlag“-Option, die nichtatomare Präventivschläge gegen russische Militäranlagen beinhalten würde und schließlich die Möglichkeit eines „Ausgleichsschlags“, der den präventiven Einsatz von Atomraketen gegen Ziele in Russland beinhalten würde.
AP berichtet: „Dabei wird sogar die Option angedeutet – wenn auch nicht offen ausgesprochen –, dass die Atomwaffen der USA in die Lage versetzt werden müssten, militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet gezielter zu zerstören.“ Mit anderen Worten, die USA bereiten einen Atomkrieg gegen Russland vor.
Robert Scher, einer von Carters atompolitischen Beratern, sprach während der Kongressanhörung im April von „Counterforce“, also von vorbeugenden Schlägen gegen Militäranlagen, mit denen „wir es schaffen könnten, die Raketen in ihren Basen in Russland anzugreifen“.
Andere Vertreter des Pentagon erklärten, diese Option würde die Stationierung bodengestützter Marschflugkörpern in ganz Europa erfordern.
Der Pentagonsprecher Leutnant Oberst Joe Skewers erklärte gegenüber AP: „Alle Optionen, über die wir diskutieren, sollen sicherstellen, dass Russland keinen nennenswerten militärischen Vorteil aus seinem Fehlverhalten ziehen kann.“
Die Rücksichtslosigkeit und Fahrlässigkeit der amerikanischen Außenpolitik ist atemberaubend. Ein Großteil der russischen Streitkräfte ist in der Nähe von dicht besiedelten Gebieten stationiert. Ein präventiver Atomschlag könnte in Sekunden Millionen Menschen in den Tod reißen und einen Atomkrieg auslösen, in dem die Menschheit ausgerottet würde. Selbst wenn die US-Regierungsvertreter mit ihren Drohungen gegen Russland nicht wirklich dieses Ziel verfolgen und nur versuchen, Moskau einzuschüchtern, liegt solchen Drohungen eine düstere objektive Logik zugrunde.
Inmitten militärischer Spannungen und strategischer Unsicherheit erhöht die atomare Kriegstreiberei der US-Regierungsvertreter in dramatischer Weise die Gefahr eines unabsichtlichen Kriegs. Nato-Truppen führen entlang der russischen Grenzen, vom Nordmeer über die Ostsee bis zum Schwarzen Meer und dem Mittelmeer, Militärübungen durch. Alle nationalen Streitkräfte in der Region sind in höchster Alarmbereitschaft.
Die amerikanischen Regierungsvertreter wissen nicht, wie der Kreml auf ihre Drohungen reagieren wird. Da die russische Regierung einen plötzlichen Nato-Angriff befürchten muss, ist es wahrscheinlicher geworden, dass sie auf vermeintliche Anzeichen für eine Nato-Militäraktion mit dem Abschuss ihrer Raketen reagiert. Sie muss fürchten, dass die Raketen andernfalls am Boden zerstört werden. Die Gefahr, dass eine fehlerhafte Annahme oder ein Kommunikationsfehler zu einem offenen Krieg führt, ist drastisch gestiegen.
Die WSWS hatte schon letztes Jahr gewarnt, dass die Entscheidungen der Nato, einen von faschistischen Kräften angeführten Putsch in Kiew zu unterstützen und Russland ohne jeden Beweis die Schuld am Abschuss des Fluges MH17 zu geben, die Kriegsgefahr erhöht hat. Sie schrieb damals: „Wollen wir wirklich zulassen, dass es zwischen den USA, Europa und Russland zu einem Krieg kommt, bei dem Atomwaffen eingesetzt werden könnten? Diese Frage muss sich jeder stellen, der die Ereignisse seit dem gewaltsam herbeigeführten Absturz des Malaysian-Airlines-Flugs MH17 verfolgt hat.“ Diese Warnungen werden von Schers und Carters Aussagen bestätigt.
Im März hatte Putin erklärt, dass er nach dem Putsch in Kiew das russische Militär, inklusive der Atomstreitkräfte, in Alarmbereitschaft versetzt habe, da er einen Nato-Angriff auf Russland fürchtete. Jetzt hat das US-Militär durch seine eigenen Aussagen bestätigt, dass die Politik der USA das Risiko eines Krieges birgt.
Vor der internationalen Arbeiterklasse wurden diese Bedrohungen weitgehend geheim gehalten. Die Arbeiter in den USA, Europa und auf der ganzen Welt haben immer wieder gezeigt, dass sie die Kriege der USA im Irak und Afghanistan ablehnen. Doch fast fünfzehn Jahre nach dem Beginn dieser Kriege steht die Welt am Rande eines noch blutigeren und verheerenderen Konflikts. Doch die Medien und herrschenden Eliten verheimlichen die Gefahr eines Atomkriegs.
Voraussichtlich wird US-Präsident Obama beim G7-Gipfel am Wochenende den Druck auf Russland weiter verschärfen und die europäischen Regierungschefs dazu drängen, die Wirtschaftssanktionen beizubehalten. Diese wurden im letzten Jahr gegen Russland verhängt, nachdem es die Krim in die russische Föderation aufgenommen hatte. Als Vorwand für die Fortführung der Sanktionen soll der erneute Ausbruch von Kämpfen in der Ukraine dienen, für den die USA Russland verantwortlich machen.
Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko warnte am Donnerstag in einer Rede im Parlament vor der „immensen Gefahr erneuter schwerer Kämpfe mit russischen und terroristischen Kräften“. Er behauptete, ohne einen Beweis zu liefern, dass in den von Rebellen kontrollierten Gebieten Donezk und Lugansk in der Ostukraine 9000 russische Soldaten präsent seien.
Poroschenko sagte: „Das ukrainische Militär sollte sich auf eine neue feindliche Offensive und eine Großinvasion entlang der gesamten Grenze zur Russischen Föderation vorbereiten. Wir müssen darauf wirklich vorbereitet sein.“ Er erklärte, das ukrainische Militär habe mindestens 50.000 Soldaten im Osten stationiert und sei bereit, das Land zu verteidigen.
Einen Tag vor Poroschenkos Äußerungen kam es in der Ostukraine erneut zu Kämpfen zwischen Regierungstruppen und prorussischen Separatisten mit Dutzenden von Todesopfern. Die Kämpfe in dieser Woche waren der bisher schwerste Verstoß gegen den Waffenstillstand, der im Februar unterzeichnet wurde.
Kremlsprecher Dimitri Peskow erklärte am Donnerstag vor der Presse, Russland sei davon überzeugt, dass die Kampfhandlungen am Mittwoch von Kiew provoziert worden waren, um die Diskussionen auf dem G7-Gipfel am Wochenende und dem EU-Gipfel in Brüssel Ende Juni zu beeinflussen. „Dieses provokante Vorgehen geht von den ukrainischen Streitkräften aus und das beunruhigt uns“, sagte er.
Beide Seiten gaben der jeweils anderen die Schuld am Ausbruch der Kämpfe in Marjinka, etwa vierzehn Kilometer westlich der Rebellenhochburg Donezk. Poroschenkos Berater Juri Birjukow sagte am Donnerstag, dass bei den Kämpfen fünf ukrainische Soldaten getötet und weitere 39 verwundet worden seien. Der stellvertretende Verteidigungsminister und Sprecher der Volksrepublik Donezk (DNR) Eduard Basurin erklärte gegenüber Interfax, dass sechzehn Rebellenkämpfer und fünf Zivilisten getötet worden seien.
Ukrainische Truppen hatten am Mittwoch außerdem die Innenstadt von Donezk mit Artillerie beschossen. In den südwestlichen Stadtteilen Kirowski und Petrowski wurden sechs Menschen durch Granaten getötet und weitere 90 verwundet. Der städtische Marktplatz Sokol wurde schwer beschädigt, mehrere Ladenstraßen brannten nieder.
Als Reaktion auf die Entwicklungen am Mittwoch wurden Mitglieder des faschistischen Rechten Sektors angewiesen, sich auf den Kampfeinsatz vorzubereiten. Der Oberbefehlshaber des paramilitärischen Bataillons der Organisation, Andrei Stempitzki, rief in einem Post auf Facebook alle Mitglieder, die während des Waffenstillstands zu Hause waren, dazu auf, „zu ihren Kampfeinheiten“ zurückzukehren. Er drohte, der Rechte Sektor werde „Krieg führen, egal was die Anhänger des Waffenstillstands tun werden.“