Brief aus Athen: Eine Bestandsaufnahme von Syrizas Kapitulation

Die World Socialist Web Site hat von einem Leser in Athen folgenden Bericht über die Reaktion auf Syrizas Abkommen über weitere brutale Sparmaßnahmen erhalten.

Die Wut kocht unter den 62 Prozent der Griechen, die in dem Referendum am 5. Juli mit „Nein“ gestimmt hatten. Eine von ihnen ist Danae, eine Kindergärtnerin um die Vierzig, die mir am 16. Juli in der Warteschlange vor einem Geldautomaten erklärte: „Das war kein Putsch der Troika. Syriza hat vollständig und bedingungslos kapituliert.“

In Athen zirkuliert momentan ein Witz, der die Stimmung ziemlich gut einfängt: Die Abkürzung ATM [Automatic Telling Machine, Geldautomat] stehe eigentlich für „Aristero Trito Mnimonio“, also „ Linkes Drittes Memorandum.“

Nikos, ein arbeitsloser Elektriker, der Syriza gewählt hatte, sagte mir: „In den letzten sechs Monaten bin ich mehrere Tode gestorben. Die Hoffnung kam, die Hoffnung sah, jetzt ist die Hoffnung weg.“

Ein anonymer linker Blogger schrieb: „Sie sind jetzt mein Feind, Tsipras. Holen sie die Bereitschaftspolizei und die eisernen Absperrgitter – Sie werden sie brauchen.“ Eine andere Bloggerin, deren Facebook-Pseudonym „Maria Magdalena“ lautet, erinnerte den Ministerpräsidenten daran: „Kein Kaiser ist friedlich im Bett gestorben.“

Premierminister Alexis Tsipras trägt mittlerweile unter Linksradikalen den Spitznamen „Tsiprakoglou“ – eine indirekte Anspielung auf Georgios Tsolakoglou, ein Offizier, der während der deutschen Besatzung zum ersten Ministerpräsidenten der Kollaborationsregierung ernannt worden war.

Einige verbitterte Linke sagen, der Name Alexis Tsipras wird in einer Reihe mit den anderen Staatsmännern, die die vorangegangen Sparpakete durchgesetzt haben, in die Geschichte eingehen: nebst Giorgos Papandreou von PASOK, Lukas Papadimos, ein Absolvent des Massachessetts Institute of Technology und 2011 bis 2012 Chef einer Technokratenregierung, und dem rechten Ex-Premier der ND, Antonis Samaras. Ein weiterer Blogger schrieb: „Werde kein Tsipras! Das werden wir noch jahrelang zueinander sagen.“

Anastasia, früher eine Syriza-Aktivistin, sieht die Partei mittlerweile als „eine der verräterischen sozialdemokratischen oder sozialistischen Parteien, die in Wirklichkeit bürgerliche kapitalistische Parteien“ sind. Dazu zählt sie auch „die niederländische Partei der Arbeit, die deutsche SPD, die britische Labour Party, die französische Sozialistische Partei, die spanische Sozialistische Arbeiterpartei, die griechische PASOK (davon gibt es jetzt zwei!), die italienische PSI, die australische Labor Party, die bulgarische Sozialistische Partei und die ungarische MSZP.“

Die Flüche über Griechenlands jungen Regierungschef blieben nicht unbeantwortet. Tsipras’ Büro veröffentlichte am 16. Juli eine inoffizielle Stellungnahme, in der er die 32 Abgeordneten zurechtwies, die am Tag davor gegen das Memorandum gestimmt hatten. Er warf diesen „Genossen“ vor, sie hätten gegen die „sozialistische Tradition der Kameradschaft“ verstoßen und beklagte sich, dass seine Regierung jetzt ihre Mehrheit verloren habe.

Griechenlands „Che Guevara“ wirkt heute auf viele, die ihn am 25. Januar gewählt haben, mehr wie Judas Ischariot. Anstatt das eindeutige „Nein“ bei dem Referendum als grünes Licht zu sehen, sich gegen die Troika zu stellen, hat Tsipras es – genau wie „der Feind“, d.h. alle Pro-Austeritäts-Parteien – als „Befehl“ interpretiert, dass Griechenland die Eurozone nicht verlassen darf.

Einige hoffen schadenfreudig, dass Tsipras’ Frau, mit der er seit zwanzig Jahren zusammen ist, ihn verlässt. Betty Baziana, eine Elektroingenieurin, hat einen starken Willen, ist dynamisch, militant und hasst Shopping. Sie hat angeblich angekündigt, ihren Partner (sie sind nicht offiziell verheiratet) zu verlassen, wenn er eine von Syrizas roten Linien überschreitet – und er hat sie alle überschritten! Angesichts der Tatsache, dass sie einen ihrer Hochschulprofessoren verklagt hat, weil er ihre Arbeit an einer Dissertation gefährdet hat, scheinen einige das für wahrscheinlich zu halten.

Kehrt „Sexi Alexi“ (wie er wegen seines guten Aussehens genannt wird) zu seinen Wurzeln zurück? Wie so viele andere Syriza-Politiker entstammt er einer bürgerlichen Familie. Sein Vater Pavlos war ein Bauingenieur, der unter der Militärdiktatur von Georgios Papadopoulos (1967–1973) lukrative Regierungsaufträge bekommen hat. Solche Aufträge wurden an niemanden vergeben, von dem auch nur angenommen wurde, seine politischen Ansichten wären irgendwo links von rechts außen. Tsipras’ Vater hat außerdem großzügig an die Kirche gespendet. Einige unzufriedene Syriza-Wähler haben in den Medien angedeutet, das könnte der Grund sein, warum die Regierung die orthodoxe griechische Kirche nicht antastet, eine Institution, die Immobilien und andere Vermögenswerte im Wert von Milliarden Euro besitzt und traditionell Steuervorzüge genießt.

Maria, die bei der Feuerwehr in Rafina arbeitet, einer kleinen Hafenstadt außerhalb von Athen, ließ sich über ausnahmslos alle Politiker aus. „Links oder rechts, die sind alle gleich“, sagte sie zu mir. „Ab jetzt vertraue ich nur noch Armen die Führung über uns an! Die einzige mögliche Ausnahme sind Reiche, die für ihre Ideen gelitten haben und im Gefängnis waren!“

Viele bezeichnen Syrizas jüngste Kapitulation vor der Troika als ein „Anti-Austeritäts-Varkiza“ – eine Anspielung auf das Abkommen von Varkiza am 12. Februar 1945. An diesem Tag hatte der Sekretär der KKE, der Kommunistischen Partei Griechenlands, trotz erbitterten Protests (und sogar bitterer Tränen) der Parteibasis ein Abkommen mit der griechischen Regierung unterzeichnet, die von Großbritannien unterstützt wurde. Das Varkiza-Abkommen zwang die griechischen Widerstandskämpfer, die in der KKE-dominierten Nationalen Befreiungsfront (EAM) und ihrem militärischen Arm ELAS organisiert waren und nach dem Abzug der deutschen Armee einen Großteil des Landes kontrollierten, ihre Waffen abzugeben und den Kampf einzustellen.

Tsipras hat die Entscheidung, vor die er gestellt wurde, als eine Wahl zwischen einem schnellen und einem langsamen Tod bezeichnet. Er habe letzteres gewählt. Aber viele sagen, das sei ein falsches Dilemma gewesen. Ich hörte, wie ein alter Mann wütend in der Warteschlange vor einem Geldautomaten murmelte, die „Troika-Bankster“ wollten, „dass wir uns für unser Leben oder unser Geld entscheiden – und Syriza hat ersteres gewählt.“

Die Anzeichen waren von Anfang an da. Der Blogger Ilias A. macht sich darüber lustig, dass Freunde und Wähler von Syriza „jammern wie betrogene Ehepartner.“ Wann hat auch jemals eine echte linke Regierung so viel Energie darauf verwendet, eine wachsame Volksbewegung auszutricksen? Hatte Syriza nicht 2012 die Demonstranten von den Straßen geholt, um sich als legale, respektable Opposition zu präsentieren? Hatte Syriza nicht dem Kampf der entlassenen ERT-Beschäftigten (des staatlichen Fernsehsenders, der am 11. Juni 2013 eingestellt wurde), einen Dämpfer verpasst? Und wer könnte die Reisen und Treffen in den USA vergessen, bei denen Tsipras mehrfach erklärt hatte, er sei gegen eine Konfrontation mit den europäischen Mächten? Seine Treffen am Comer See mit den Wachhunden des wirtschaftlichen und politischen Status-quo in Europa, seine Geheimgespräche mit Londoner Fonds? Die Bevölkerung, sogar Syrizas organisierte Anhänger, wurden darüber weder informiert noch danach gefragt.

Der Keim für ihr gegenwärtiges Versagen war von Anfang an in Syrizas Politik angelegt. Vangelis, der in einer Pizzeria in der Nähe des Athener Omonia-Platzes arbeitet, sagte: „Ihr Verrat an unseren Kämpfen hat seine Wurzel in Syrizas Strategie und der naiven Vorstellung, sie könnten Europa am Verhandlungstisch ändern – dieses Europa, das sich mit der Eurozone und ihren Führern identifiziert, die die Oligarchen und Banken gegen die Interessen der Bevölkerung vertreten.“

Viele Linke schimpfen jetzt auf Janis Varoufakis. „Der Superstar in Sachen Verführung der Bevölkerung hat uns getäuscht.“, schrieb Eleni in ihrem Blog. „Der ehemalige Finanzminister ist nicht einmal zehn Minuten lang auf irgendeiner Demonstration aufgetaucht. Überrascht das irgendwen? Für wen sprechen Tsipras, Varoufakis, Stathakis, Tsakalotos oder Papadimoulis überhaupt – für die Fabrikarbeiter in Piräus, die 600 Euro im Monat verdienen?“

Viele befürchten, dass die Kehrtwende dieser „ersten linken Regierung“ das Todesurteil für die griechische Bevölkerung sein wird. In den letzten Wochen hat es mich mehrfach erstaunt und beeindruckt, wie diese bewegten Zeiten den Menschen mächtige Worte und Phrasen in den Mund gelegt haben. Myrto, eine zweifache Mutter ohne Schulabschluss, arbeitet in Nachtschicht in einer Brotfabrik an der Marathon-Autobahn außerhalb von Athen. Ihre Aussage hat mich gestern wie ein Blitz getroffen: „Wir alle sind Worte im Totengedicht dieses Landes.“

Die Ironie dabei ist, dass die meisten Austeritätsbefürworter, die bei dem Referendum mit „Ja“ gestimmt haben, jetzt die Regierung unterstützen. Noch vor kurzem haben sie Gift und Galle über die „kommunistisch-bolschewistische Bedrohung“ gespuckt. Niki, eine junge Anwältin, sagte, sie sei „sehr beeindruckt“ von Alexis Tsipras. Sie hatte befürchtet, der Ministerpräsident würde seine Partei über sein Land stellen, aber er habe das Gegenteil getan – „und das erfordert Mut!“, fügte sie hinzu.

Stratis, ein arbeitsloser Bauarbeiter, erinnerte mich an etwas, was Lenin einst so ähnlich gesagt hatte: „Wenn der Feind dich lobt, halt inne, schau zurück und sieh, was du falsch gemacht hast!“ Damit meinte er Alexis Tsipras.

Böse Zungen witzeln, unser junger Premierminister könnte bald Parteichef der rechten Nea Dimokratia werden! Panos, ein Schiffsbauingenieur, meinte in einer E-Mail scherzhaft, Tsipras könnte der erste Parteichef in der Geschichte werden, der gleichzeitig zwei Parteien anführt: Syriza und Nea Dimokratia! Manolis, ein junger Elektriker, dessen Sohn mit meinem zehnjährigen Kind Fußball spielt, hat mir eine „Formel“ verraten, mit der er feststellen konnte, welche Syriza-Abgeordneten sich an das System verkauft haben. Er erklärte mir, man erkenne es daran, wie die Massenmedien sie behandeln. „Nach diesem neuen Memorandum werden wir bald wissen, wer der schlimmste Syriza-Abgeordnete von allen ist – derjenige, der den ganzen Tag auf den Fernsehsendern der Oligarchen zu sehen ist.“

Einige haben die Hoffnung geäußert, dass sich Syrizas Kapitulation zu einem Pyrrhussieg für Deutschland und die Troika entwickeln könnte. Sie sind überzeugt, dass diese „Einigung“ Deutschland die Maske vom Gesicht gerissen und die europäischen Eliten (und ihre griechischen Kollaborateure) als das entlarvt hat, was sie wirklich sind: bösartige, egoistische Zyniker, die mit Zähnen und Klauen gegen Griechenlands linke Regierung gekämpft und sie schließlich vernichtet haben, indem sie sie in ihr Gegenteil transformierten. „Europa verändert sich.“, sagte zu mir ein Taxifahrer namens Antonis, der den Euro unterstützt. „Es wäre eine Schande, wenn wir ab übermorgen aus der Union ausgeschlossen wären.“ Etwas rätselhaft ergänzte er: „Griechenland hätte den Euro nicht einführen sollen, aber wir sollten ihn auch nie wieder abschaffen.“

Es gab zwei Strategien, die Syriza hätte verfolgen können. Die erste hätte der Versuch sein können, Europa von innen zu verändern. Die andere wäre gewesen, Griechenland durch einen gut formulierten Plan B oder Grexit zu retten. Sie hat weder das eine, noch das andere getan. Varoufakis hat selbst zugegeben, dass Athen nicht ernsthaft versucht hat, die Unterstützung der Massen in Europa zu mobilisieren, die auf ihrer Seite waren, nicht einmal die der spanischen populistischen Partei Podemos. Andererseits hatte Pablo Iglesias Turrión, Podemos’ Parteichef, der einen Pferdeschwanz trägt, vor kurzem erklärt, Syrizas Kapitulation vor der Troika sei „realistisch“ gewesen. Seine Partei stürzte in den Umfragen sofort ab. Wer braucht Verlierer? Katerina, eine Kassiererin in einem örtlichen Lidl-Supermarkt, sagte mir: „Diese Spanier scheinen aus dem gleichen Holz geschnitzt zu sein wie unsere ‘Linken’. Sie sehen das Dilemma durch die gleiche Brille. Entweder demütige Unterwerfung unter die Troika oder Austritt aus der Eurozone!“

Der 72-jährige Witwer Stelios, dessen Rente so klein ist, dass er zur Suppenküche gehen muss, um über die Runden zu kommen, hat mir freiwillig seine Ansichten dargelegt. „Syriza sollte sich schämen,“ stotterte er erhitzt. „Sie hatten keinen Plan B und sind unvorbereitet in den Krieg gezogen. Die Regierung hat uns nie zum Kampf aufgerufen. Sie hat die Leute nie auf harte Schlachten vorbereitet. Wenn das keine kriminelle Inkompetenz ist, dann weiß ich nicht, was sonst!“

Loading