Perspektive

Die Explosionen in Tianjin und die Krise des Kapitalismus

Die offizielle Zahl der Todesopfer bei den riesigen Explosionen vom Donnerstag, die einen Großteil der Hafenanlagen von Tianjin zerstörten, ist auf über 110 gestiegen, und die Opferzahlen werden sicher noch weiter steigen. Die Krankenhäuser der Vierzehn-Millionen-Stadt kämpfen noch um das Leben zahlreicher Schwerverletzter. Mehr als 700 Menschen liegen im Krankenhaus.

Die Informationen über die Ursachen der Katastrophe, die bisher durchsickern, lösen offene Kritik an dem Regime der stalinistischen Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) aus. Berichte weisen darauf hin, dass in einem Lagerhaus der Firma Rui Hai International Logistics bis zu 700 Tonnen der hochgefährlichen Chemikalie Natriumzyanid und unbekannte Mengen von Kalziumkarbid gelagert hätten. Container mit diesen Substanzen können explodieren, wenn sie zu heiß werden. Die Feuerwehrleute, die einen Brand in dem Lagergaus löschen sollten, wurden nicht über diese Chemikalien informiert. Mindestens 21 Mitglieder der Rettungsdienste starben in Folgeexplosionen.

Hunderte Hafenarbeiter schliefen kaum 600 Meter entfernt in überfüllten Schafsälen. In einem Radius von ungefähr fünf Kilometern um den Lagerkomplex lebten etwa 90.000 Menschen. Hätten sich die Explosionen am Tage ereignet, wenn die Straßen und Gebäude um den Hafen herum sehr belebt sind, dann wäre der Blutzoll noch wesentlich größer gewesen.

Die Explosionen in Tianjin zeigen einmal mehr die Folgen der unkontrollierten kapitalistischen Entwicklung der letzten 35 Jahre. Die Reaktion der Öffentlichkeit darauf macht die KP-Regierung in Beijing ganz nervös. Offiziellen Berichten zufolge lagerte Rui Hai International Logistics die tödlichen Chemikalien in jener Halle ohne Wissen und Kontrolle von irgendwelchen Behörden. Nun jagt und verhaftet die Polizei die Besitzer und Manager der Firma. Es ist davon auszugehen, dass man sie in vielbeachteten Prozessen verurteilen wird, und dass sie hingerichtet oder schwersten Strafen zugeführt werden sollen. Damit sollen die tiefer liegenden Fragen, die die Katastrophe aufwirft, unter den Teppich gekehrt werden.

Die Behauptung, „niemand hat etwas von den Chemikalien gewusst“, ruft ungläubiges Staunen und Empörung hervor. Der Zorn der Bevölkerung, der sich in sozialen Medien im Internet Luft macht, wurde noch durch die Tatsache verstärkt, dass diese offen kriminelle Gleichgültigkeit gegenüber der öffentlichen Sicherheit gerade in Tianjin stattfand.

Der Hafen von Tianjin ist der zehntgrößte der Welt und der siebtgrößte Chinas. Er schlägt die größte Zahl von Importautos von allen chinesischen Häfen um, sowie enorme Mengen von Eisenerz, Kohle, Öl und anderen Rohstoffen, mit denen die Industriekomplexe und Kraftwerke im Norden Chinas versorgt werden.

Die Stadt selbst ist die viertgrößte Stadt Chinas und steht wegen ihrer strategischen und wirtschaftlichen Bedeutung als verkehrsmäßiger, industrieller und technischer Umschlagsplatz für die Hauptstadt Beijing unter der direkten politischen Verwaltung des Wohnungsbauministeriums, also der zentralen KP-Regierung.

Es ist Teil der Regierungspropaganda, dass Tianjin, Beijing und die ganze Provinz Heibei bis 2020 zur weltweit größten zusammenhängenden „Megacity“ werden sollen. Hier soll sich eine Bevölkerung von 130 Millionen Menschen ansiedeln; hier hat man den Menschen die besten Arbeitsplätze und die höchsten Löhne Chinas versprochen.

Die Explosionen vom Donnerstag bringen die schönen Hoffnungen auf den Boden der Tatsachen zurück: Sei es in Tianjin oder in einem abgelegenen Dorf: Das Regime ordnet das Wohlergehen der chinesischen Arbeiterklasse immer den unmittelbaren Bedürfnissen transnationaler und nationaler Konzerne und der kapitalistischen Elite unter. Die Akkumulation von Profit geht vor.

Seit die KPCh 1979 Kurs auf die Restauration kapitalistischer Beziehungen nahm, setzt sie ihren Militär- und Polizeiapparat systematisch ein, um jede Opposition von Arbeitern gegen die Ausbeutung rücksichtslos zu unterdrücken. Sie hat China in das Zentrum globaler Niedrigproduktion verwandelt.

Ungenügende Sicherheitsvorkehrungen sind die Norm, nicht die Ausnahme. Andy Furlong, Politikdirektor der Institution Chemical Engineers in London sagte dem Guardian: „Erst vor ganz kurzem erklärten uns chinesische Experten, dass auf dem Gebiet der Lagerung chemischer Stoffe ihre Technologie veraltet sei. Ihre Ausrüstung sei teilweise primitiv, das Sicherheitsmanagement ein Witz und die Ausbildung der Beschäftigten von gestern.“

Ähnlich könnte man die Lage in allen möglichen Wirtschaftsbereichen beschreiben. Die Folgen für die Menschen sind verheerend.

2014 wurden 68.061 chinesische Arbeiter bei „Arbeitsunfällen“ getötet, das sind mehr als 185 jeden Tag, und hunderttausende verletzt. Allein in den 24 Stunden nach den Explosionen brachte eine Gasexplosion in einem Kohlebergwerk in der Provinz Guizhou dreizehn Bergarbeiter um; und in der Provinz Shaanxi wurden 64 Bergarbeiter infolge schwerer Regenfälle von einem Erdrutsch überrascht und mit ihren Familien in den primitiven Schlafhütten verschüttet.

Den Staatsmedien zufolge sterben jeden Tag 1.600 Menschen, hauptsächlich besser bezahlte Fachleute, an ihrem Arbeitsplatz infolge eines Phänomens, das als Guolaosi oder extreme Überarbeitung bekannt ist.

Luft, Boden und Wasserversorgung sind in den meisten Stadtzentren aufgrund fehlender Kontrollen der Industrieproduktion und -Entwicklung so stark vergiftet, dass man davon ausgeht, dass jeden Tag 4.400 Menschen, oder 1,6 Millionen im Jahr, an den Folgen der Umweltverschmutzung sterben.

Skandale in der Lebensmittelsicherheit wurden bekannt, als in 2008 vergiftetes Milchpulver auftauchte. 300.000 Menschen erkrankten und sechs Kleinkinder starben. Das Kentern einer Fähre auf dem Jangtse im Juni mit 400 Toten ist nur ein Beispiel für die regelmäßigen Katastrophen, die das öffentliche Verkehrssystem treffen. Auch sie hängen in der Regel mit der Verletzung von Sicherheitsbestimmungen zusammen.

Alle Versprechen der KPCh in den letzten 36 Jahren, die chinesischen Massen würden schließlich von der ungezügelten kapitalistischen Entwicklung profitieren, liegen in Scherben. Die Legitimität des Regimes ist infrage gestellt, schon wegen der Verlangsamung der Wirtschaftsentwicklung, einem Börsenkrach, dem Verfall der Immobilienpreise, der Umweltkrise, endemischer Korruption im Staatsapparat und immer weiter wachsender sozialer Ungleichheit. Durch die Katastrophe von Tianjin werden die Herrschaft der KPCh und der Kapitalismus selbst weiter in Misskredit geraten.

Die politischen Folgen der Explosionen in Tianjin werden auch von transnationalen Konzernen und Banken und von Regierungen in aller Welt mit Sorge beobachtet. Größere soziale Unruhen könnten die Profitproduktion der Transnationalen auf den Knochen der chinesischen Massen beeinträchtigen, und jede Störung vertieft die globale Wirtschaftskrise und könnte eine Finanzpanik auslösen. Mit anderen Worten würde jede Veränderung der Produktionsbedingungen in China, die solche Katastrophen wie in Tianjin hervorrufen, für den globalen Kapitalismus eine Katastrophe bedeuten.

Diese Tatsache unterstreicht den historischen Bankrott des Profitsystems und die Dringlichkeit der Einheit der chinesischen und der internationalen Arbeiterklasse in einem gemeinsamen politischen Kampf. Sie muss den Kapitalismus abschaffen und eine weltweit geplante sozialistische Wirtschaft aufbauen.

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