Die Türkei vor Neuwahlen: Politische Instabilität, Wirtschaftskrise und Krieg

Am Freitag verkündete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan vor Pressevertretern in Istanbul, dass am 1. November in der Türkei Neuwahlen stattfinden werden. Er folgt damit dem Vorschlag der türkischen Wahlkommission vom Donnerstag. Die offizielle Frist zur Regierungsbildung läuft am Sonntag aus. Bei den Parlamentswahlen am 7. Juni hatte Erdogans AKP eine Niederlage erlitten, ihre absolute Mehrheit verloren und war seitdem nicht in der Lage gewesen, eine Regierung zu bilden.

Gemäß der türkischen Verfassung müsste nun eine Übergangsregierung aus allen im Parlament vertretenen Parteien geformt werden. Inwieweit dies jedoch praktisch umgesetzt werden kann, bleibt abzuwarten. Die kemalistische CHP und die rechtsextreme MHP lehnen es ab, einer solchen Regierung beizutreten. Nur die pro-kurdische HDP hat sich dazu bereit erklärt.

Die Regierungsbeteiligung einer kurdischen Partei wäre allerdings nicht nur ein Novum in der Geschichte der Türkei. Die HDP ist Erdogan und der AKP spätestens seit ihrem Wahlerfolg im Juni ein Dorn im Auge, und das brutale Vorgehen des türkischen Militärs gegen die kurdischen Provinzen im Osten und Südosten des Landes zielt nicht zuletzt darauf ab, die HDP zu schwächen, sie unter die 10-Prozent-Hürde zu drücken und damit wieder aus dem Parlament zu befördern.

Im Moment sieht es nicht danach aus, dass Erdogans zynische Strategie aufgeht. Im Gegenteil: das aggressive Vorgehen gegen die Kurden, das direkte Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg und die zunehmende Unterdrückung jeder Opposition im Inneren lassen den Widerstand gegen Erdogan und seine Pläne, die Türkei in eine Präsidialrepublik mit ihm an der Spitze umzuwandeln, weiter anwachsen.

Aktuelle Umfragen zeigen, dass Erdogan und seine islamisch-konservative AKP weiter an Unterstützung verlieren. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gecisi hat die AKP im Vergleich zu ihrem Wahlergebnis vom Juli drei Prozentpunkte eingebüßt und liegt nur noch bei 39 Prozent. Die HDP konnte einen Prozentpunkt zulegen und steht nun bei 14 Prozent.

Mit den bevorstehenden Neuwahlen droht sich die Situation in der Türkei, die bereits jetzt von politischer Instabilität, einer tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krise und Krieg geprägt ist, zu verschärfen. Sie birgt enorme Gefahren für die türkische Arbeiterklasse.

Die Schlagzeilen der vergangenen Woche vermitteln das Bild eines Landes, das sich zunehmend in „Auflösungserscheinungen“ befindet und „am Abgrund“ (Tagesspiegel) steht. Hier nur eine kleine Auswahl an Überschriften im deutschsprachigen Internet: „Giftcocktail am Bosporus: Türkische Lira stürzt ab“, „IS erklärt der Türkei den Krieg“, „Wo bleibt der Krieg gegen IS? USA verlieren die Geduld mit der Türkei“, „Kurdische Städte erklären ihre ‚Selbstverwaltung‘“ und „Anschlag in Istanbul: 6 Hinweise, dass der Terror in der Türkei eine neue Stufe erreicht“.

Seit sich Ankara Ende Juli offiziell dem US-geführten Krieg gegen den Islamischen Staat (IS) in Syrien angeschlossen hat, versinkt das Land immer tiefer im syrischen und irakischen Bürgerkrieg.

Am Donnerstag forderte US-Verteidigungsminister Ashton Carter die Türkei auf, sich stärker am Krieg gegen den „Islamischen Staat“ (IS) zu beteiligen. Nachdem die Türkei bereits ihre Basen für amerikanische Angriffe geöffnet hat, verlangte Carter, dass sich die türkische Luftwaffe auch mit eigenen Kampfflugzeugen am sogenannten „Air Tasking Order“ (ATO), also den Luftangriffen auf den IS, beteiligt. Der türkische „Beitrag“ im Kampf gegen die Dschihadisten sei „bedeutend, aber nicht genug“, erklärte der US-Verteidigungsminister.

In den vergangenen Wochen war es zu wachsenden Spannungen zwischen Ankara und den imperialistischen Mächten gekommen. Erdogan hatte die Islamisten bis zuletzt unterstützt und den „Krieg gegen den IS“ danach vor allem als Deckmantel genutzt, um gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK und ihre syrischen Ableger PYD/YPG vorzugehen, mit denen die USA im Kampf gegen den IS teilweise zusammenarbeiten. Die deutsche Bundeswehr bewaffnet und trainiert die kurdischen Peschmerga im Nordirak und unterstützt damit ebenfalls indirekt die syrischen Kurden.

Die türkische Armee begann den Krieg gegen die PKK im Osten und Südosten des Landes auch, um zu verhindern, dass sich die de facto unabhängigen Kurdenregionen in Syrien und im Irak über die türkische Grenze hinweg ausdehnen. Seit dem Beginn ihrer Offensive vor einem Monat wurden laut der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu bereits 771 kurdische Rebellen getötet. Bei Luftangriffen auf PKK-Stellungen im Nordirak starben 430 Rebellen. Allein auf türkischem Boden seien 260 PKK-Kämpfer getötet worden.

Viele ausländische Kommentatoren ziehen bereits Parallelen zu den 1980er und 1990er Jahren, als die türkischen Kurdengebiete unter der berüchtigten „OHAL“-Verwaltung, also de facto unter Kriegsrecht, standen und es in einem regelrechten Bürgerkrieg zwischen der türkischen Armee und der PKK etwa 30.000 Tote gab.

In den letzten Tagen hat die Armee in den kurdischen Provinzen mehr als 100 sogenannte „Special Security Zones“ eingerichtet. Zwölf kurdische Städte haben nach einem Aufruf der PKK ihre „Selbstverwaltung“ erklärt, darunter die etwa 60.000 Einwohner zählende Provinzhauptstadt Sirnak, In der etwa 90.000 Einwohner zählenden Stadt Silvan hielten am Dienstag PKK-Kämpfer vier Stadtteile besetzt, die schnell von der Polizei und Einheiten der Armee umstellt wurden. Berichten zufolge wurde bei Gefechten mindestens ein Kämpfer der YDGH, der Jugendorganisation der PKK, getötet.

Die PKK reagiert ihrerseits mit Anschlägen. Am Mittwoch kamen türkischen Medienberichten zufolge acht Soldaten bei einem von der PKK verübten Sprengstoffanschlag in der Provinz Siirt ums Leben. Die kurdische Nachrichtenagentur Firat meldete, dass zahlreiche weitere Soldaten verletzt worden seien. Am Abend zuvor starben vier Soldaten bei Gefechten zwischen Sicherheitskräften und PKK-Kämpfern in der ebenfalls mehrheitlich kurdischen Provinz Diyarbakir.

Erdogan und die AKP reagieren auf die sich zuspitzende Krise und den Druck der USA mit einer Verschärfung der Kriegspolitik.

Ebenfalls am Donnerstag berichtete die englischsprachige Ausgabe der türkischen Tageszeitung Hürriyet, dass sich die USA und die Türkei in einem sogenannten „Memorandum of Understanding“ (MoU) auf die Einrichtung einer militärisch gesicherten Pufferzone in Nordsyrien geeinigt hätten.

Das Abkommen würde eine massive Eskalation des Kriegs in Syrien und des blutigen Kampfs der imperialistischen Mächte und ihrer regionalen Statthalter um die Neuaufteilung der rohstoffreichen und strategisch zentralen Region des Nahen und Mittleren Ostens bedeuten.

Laut Hürriyet beinhaltet das Memorandum einen Zweistufenplan. In einer ersten „Säuberungsphase“ („clearing phase“) sollen die Milizen des „Islamischen Staats“ (IS) in einem rund 100 Kilometer langen und 50 Kilometer tiefen Gebiet entlang der türkisch-syrischen Grenze zwischen der westlich des Euphrats gelegenen Stadt Dscharablus und Azaz im Norden Aleppos bekämpft werden. In einem zweiten Schritt soll das Gebiet dann an die „moderate“ Rebellenmiliz Freie Syrische Armee (FSA) übergeben werden.

Die „Säuberungsphase“ besteht aus Luftangriffen US-amerikanischer und türkischer Kampfflugzeuge von der Nato-Basis im türkischen Incirlik gegen den IS und zur Unterstützung „lokaler Kämpfer“. Anschließend würden in der Pufferzone Zone Zeltlager für syrische Flüchtlinge errichtet, die momentan in Lagern in der Türkei untergebracht sind. Hürriyet zufolge trägt das Memorandum die Unterschriften von US-Präsident Barack Obama und Erdogan.

Hürriyet zufolge geht das MOU nicht auf die kurdischen Kampfverbände ein. Die Zeitung berichtet aber, dass sich die USA und die Türkei „mündlich“ darauf verständigt hätten, die syrischen PYD-Einheiten nicht auf die Westseite des Euphrat zu lassen.

Die „praktischen Details“ des MoU seien in einem „Operationsplan“ des türkischen und amerikanischen Militärs ausgearbeitet. Laut diesem sollen mindestens 26 US-Kampfjets, vier bewaffnete Drohnen und eine Reihe von Aufklärungsflugzeugen neben der Basis in Incirlik auf drei weiteren Basen in den Provinzen Batman, Diyarbakir und Malaty stationiert werden.

Zusätzlich sei geplant, auf diesen Basen ein Raketenabwehrsystem zu installieren, das weit über die Fähigkeiten des Flugabwehrraketensystems „Patriot“ hinausgeht. In den vergangenen Wochen hatten Deutschland, die Niederlande und die USA angekündigt, ihre „Patriot“-Batterien aus der Türkei abzuziehen, die dort 2013 als Bestandteil der Offensive der imperialistischen Mächte gegen das syrische Assad-Regime stationiert worden waren.

Viele ausländische Kommentatoren hatten die Entscheidung zunächst als einen Ausdruck wachsender Spannungen mit Ankara gewertet. Nun schreibt Hürriyet, dass die Entscheidung über das Ende des amerikanischen Patriot-Einsatzes in der Türkei Bestandteil des Deals zwischen Washington und Ankara sei, die türkischen Basen für US-Luftschläge gegen den IS zu öffnen.

In einem Interview mit dem Tagesspiegel sagte der türkische Minister Volkan Bizkir am vergangenen Wochenende, dass die Pläne auch von der Bundesregierung unterstützt werden. Es gebe eine „Vereinbarung mit den USA, dass deren Kampfjets von Incirlik aus Angriffe gegen den Daesch [IS] fliegen, um die Sicherheitszone freizukämpfen“. Daneben gebe es ein „zweites Abkommen mit den USA und westlichen Koalitionskräften, zu denen auch Deutschland gehört, mit uns diese Gegend zu befreien“.

Die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hatte am Samstag betont, dass Deutschland auch nach dem Abzug der Patriot-Raketen in der Region militärisch engagiert bleibe. Der einflussreiche CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter hatte am Wochenende den Einsatz deutscher „Tornados“ gegen den IS ins Spiel gebracht. Aus Unionskreisen hieß es, man könne nicht ausschließen, dass die Anti-IS-Koalition von der Bundeswehr demnächst mehr Einsatz fordern werde.

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