Flüchtlinge stürmen Berliner Asylzentrum

Am Montagnachmittag, dem 31. August, durchbrachen mehrere Hundert Flüchtlinge die Polizeiabsperrung vor der Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Berlin. Es war ein verzweifelter Versuch, in die Räume des LAGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales), der Flüchtlingsanlaufstelle in Berlin-Moabit, zu gelangen. Er entsprang der Frustration der Asylsuchenden über die erbärmlichen Zustände auf dem Gelände.

Der Protest endete, als ein halbes Dutzend Mannschaftswagen aufkreuzte und Polizisten die Flüchtlinge mit Hilfe von Pfefferspray aus dem Haus drängten.

Schlangestehen zur Erstaufnahme

Tagtäglich strömen hunderte Flüchtlinge auf das Gelände der LAGeSo, da sie gezwungen sind, sich hier registrieren zu lassen. Die Flüchtlinge erhalten dort eine Nummer, worauf sie jeden Morgen aufs Neue antreten müssen, manchmal wochenlang, bis ihre Nummer aufgerufen wird.

Der Autor dieses Berichts sprach mit einigen Flüchtlingen, die schon über dreißig Tage darauf warteten, dass ihre Nummer an die Reihe komme. Die Zustände sind völlig unhaltbar. Viele Flüchtlinge sind gezwungen, auf offener Straße vor dem Gebäude zu kampieren, weil es keinen Ort gibt, wo sie übernachten könnten.

Flüchtlinge campieren vor dem LAGeSo

Die hygienischen Bedingungen am LAGeSo spotten jeder Beschreibung. Es gibt nur eine Wasserstelle auf dem Gelände, und die wenigen Toiletten reichen für die Hunderte, die täglich auf ihre Registrierung warten, bei weitem nicht aus. Ganze Familien drängen sich mit all ihrem Hab und Gut auf den wenigen Bänken vor dem Gebäude, während die Wartenden stundenlang in langen Schlangen anstehen müssen.

Das Polizei- und Security-Aufgebot vor dem Eingang wurde verstärkt, um neuerlichen Unruhen vorzubeugen.

Polizeiaufgebot vor der Erstaufnahme

George, der aus Syrien nach Berlin geflüchtet ist, sitzt auf einer Absperrung vor dem Haupteingang und sagt, er warte nun schon 33 Tage darauf, sich eintragen zu lassen. Während der Tage des Wartens versuche er, sich selbst mit Hilfe eines kleinen Notizbuchs Deutsch beizubringen.

„Ich bin vor den Kämpfen in Syrien geflohen“, erzählt George. „Jeder versucht, dort wegzukommen. Ich bin Christ, und so geriet ich zwischen die Fronten: auf der einen Seite das Assad-Regime, auf der andern die islamistischen Extremisten. In Damaskus war ich einmal ein reicher Mann. Ich besaß ein Hotel und mehrere Supermärkte. Das alles wurde bombardiert, und nun habe ich nichts mehr. Hier in Berlin bin ich ein Bettler. Im Verlauf der Kämpfe habe ich auch meinen Bruder und eine Schwester verloren.

Meine Reise nach Berlin war illegal, und zwar deshalb, weil sich die deutschen Behörden in einem Land nach dem andern weigerten, mit ein Visum auszustellen. Ich ging zur deutschen Botschaft in Libanon und in der Türkei, und jedes Mal wurde es abgelehnt.

Am Ende ließ ich meine Familie in Libanon zurück, bezahlte 12.000 Euros an die Schlepper und gelangte nach Europa. Das sind Kriminelle, und ich riskierte fast täglich mein Leben. Die Reise nach Berlin dauerte fast acht Monate, und durch Osteuropa musste ich eine lange Strecke zu Fuß gehen. Jetzt bin ich hier, wo die Behörden mich schon über einen Monat lang zwingen, darauf zu warten, dass ich meinen Asylantrag stellen kann. Das ist doch keine Art, mit Menschen umzugehen.“

Stefan

Auch Stefan wartet vor dem LAGeSo-Gebäude. Er ist mit Ali und dessen Sohn hierhergekommen. Stefan hatte Ali am Flughafen kennengelernt und spontan beschlossen, dem Flüchtling aus Syrien und seinem siebenjährigen Sohn ein Dach über dem Kopf zu gewähren.

Die drei waren auch am Montag hier gewesen, als die Flüchtlinge versuchten, das Gebäude zu stürmen. Stefan erzählt: „Sie hatten nichts Schlechtes im Sinn. Es war bloß ein Ausdruck ihrer Frustration mit dem ganzen System hier. Ali wartet jetzt zehn Tage darauf, dass man ihn einlässt. Nicht einmal ich durchschaue die Logik dieses Systems, und es gibt niemanden, der es erklärt.“

Wie Stefan berichtet, waren Ali und seine Familie vor dem Krieg aus Damaskus geflohen: „Sie haben versucht, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Im Oktober 2013 sank ihr Boot, und dabei sind Alis Frau und der zweite Zwillingssohn ertrunken. Im Ganzen drängten sich auf diesem Boot 450 Flüchtlinge.“

Stefan stimmt zu, dass die westlichen Regierungen mit ihrer Außen- und Sicherheitspolitik die Hauptverantwortung für das Chaos und die Zerstörung im Nahen Osten tragen, was Millionen Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen hat.

„Die Westmächte führen alle ihre Kriege im Namen des Kampfs gegen Terrorismus. Dabei würde es ohne den Golfkrieg 2003 gar keinen IS geben“, sagt Stefan. Er weist darauf hin, dass die Extremisten ihre Waffen von den Vereinigten Staaten und deren arabischen Verbündeten erhalten. „So ist es kein Wunder, dass der Westen jetzt gezwungen ist, die Konsequenzen für die Politik der USA und ihrer Verbündeten zu tragen.“

Stefan kritisiert die Politik der EU und der deutschen Regierung: „Kanzlerin Merkel versucht, ein positives Bild abzugeben, wenn sie jetzt Mitleid mit den Flüchtlingen äußert, aber das ist durch und durch Heuchelei. Sie unterscheiden zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Flüchtlingen. Die EU hat jetzt erklärt, sie werde 250.000 Flüchtlinge aufnehmen, aber das ist vollkommen unzureichend. In der Türkei gibt es Städte, die allein schon die gleiche Anzahl aufnehmen. Und was das Ertrinken der Flüchtlinge im Mittelmeer betrifft, so wissen die EU und ihre Mitgliedstaaten schon mehr als zehn Jahre lang darüber Bescheid.“

Stundenlanges Warten

Unter den Hunderten, die vor dem Behördenzentrum warten, ist auch eine Gruppe von drei Brüdern aus Pakistan, die vor den dortigen Kämpfen und den amerikanischen Drohnen und Bomben geflohen sind. Sie haben ihre Freunde und Familien verlassen und sich via Iran, Türkei, Ungarn und Serbien zu Fuß auf den Weg nach Deutschland gemacht. Die Brüder sagen, sie warteten nun schon neun Tage darauf, zur Anmeldung in das Gebäude eingelassen zu werden. Einer der Brüder, Hassan, hat ein kleines Stück Papier mit ihrer Nummer drauf in der Hand: Es ist die 16.

Die Zustände am LAGeSo sind seit vielen Monaten, ja Jahren bekannt. Während die Berliner Bevölkerung auf überwältigende Weise freiwillige Hilfe leistet, verschleppt der Berliner Senat bewusst jede Entscheidung zur Verbesserung der Flüchtlingssituation.

Verantwortlich sind sowohl der jetzige Berliner Senat mit dem Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD) und Sozialsenator Mario Czaja (CDU), als auch Müllers Vorgänger Klaus Wowereit (SPD), der ab 2002 zehn Jahre lang mit der Linkspartei regiert hatte. Schon jener rot-rote Senat hatte mit einem drastischen Sparprogramm die Weichen gestellt und städtisches Personal und Sozialleistungen massiv gekürzt: So wurden 35.000 öffentliche Stellen abgebaut, darunter mehrere hundert Stellen am LAGeSo.

Die Gewerkschaft Verdi betrachtet die Flüchtlinge mit Argwohn und Misstrauen. Dies wird auch an der beleidigten Reaktion der Verdi-Personalräte deutlich. Sie beschwerten sich – nicht etwa über die unhaltbaren Berliner Zustände für Menschen, die vor Krieg und Zerstörung Schutz suchen, sondern über die Kritik der Medien an diesen Zuständen. So heißt es in einem Leserbrief des LAGeSo-Personalrats von Verdi, durch die Kritik an „den offenbaren und scheinbaren Mängeln“ werde die Arbeit der Angestellten „pauschal schlechtgeredet“.

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