Der Fall von Kundus: Ein Debakel für den deutschen Imperialismus

Am Montag überrannten Medienberichten zufolge etwa 2000 bewaffnete Taliban-Kämpfer das nordafghanische Kundus in einem Überraschungsangriff aus mehreren Richtungen und nahmen die die mit etwa 300.000 Einwohnern fünftgrößte Stadt des Landes im Sturm.

Nachdem die Islamisten die Regierungstruppen des pro-westlichen Regimes in die Flucht geschlagen hatten, befreiten sie nach Regierungsangaben mehr als 600 Häftlinge, darunter 144 Kämpfer, aus dem Provinz-Gefängnis. Anschließend hissten sie die weiße Flagge der Taliban im Stadtzentrum und verkündeten die Einführung des islamischen Rechts in der Stadt.

Seitdem versuchen Regierungstruppen und ihre westlichen Unterstützer bislang erfolglos, Kundus zurückzuerobern. Am Dienstag flogen US-Kampfjets Angriffe auf die Stadt. Spezialeinheiten der Nato und afghanische Sicherheitskräfte lieferten sich Gefechte mit den Aufständischen. Nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP konnten diese ihre Gegner jedoch zurückschlagen. „Die Taliban haben Landminen und Sprengfallen um Kundus versteckt“, sagte ein Sprecher der Sicherheitskräfte. Die Militärkonvois zur Verstärkung der Regierungstruppen seien so gestoppt worden.

Die Einnahme von Kundus durch die Taliban ist ein schwerer Rückschlag für die US-geführte Allianz, die nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center am 9. September 2001 in Afghanistan eingefallen war, das Land über Jahre besetzt hielt und auch nach dem Abzug ihrer offiziellen Kampftruppen noch immer tausende von Soldaten vor Ort stationiert hat. Kundus ist die erste Provinzhauptstadt, die seit dem Sturz der Taliban-Regierung unter Mullah Omar im Dezember 2001 wieder unter der Kontrolle der Taliban steht.

Vor allem ist der Fall von Kundus aber ein Debakel für den deutschen Imperialismus. Die Stadt und die gesamte Provinz Kundus gehörten zum Regionalkommando Nord der Nato-Mission ISAF und standen jahrelang unter deutscher Kontrolle. Die Bundeswehr unterhielt in Kundus ein Feldlager.

Bis zu 5350 Bundeswehrsoldaten waren über Jahre hinweg zeitgleich in Afghanistan stationiert, etwa 130.000 insgesamt. Der Militäreinsatz, der offiziell im Dezember 2014 endete, verschlang fast 9 Milliarden Euro. Hinzu kommen 460 Millionen jährlich, die angeblich in den zivilen Aufbau des Landes fließen. Als die ersten deutschen Truppen am 25. Dezember 2003 in Kundus eintrafen geschah dies offiziell „zur Herstellung der Sicherheit für den Wiederaufbau des Landes“.

Der Fall von Kundus hat den wirklichen Charakter des deutschen Einsatzes offen gelegt und mit ihm die gesamte offizielle Propaganda entlarvt. Die Bundeswehr hat dem Norden des Landes nicht „Stabilität“ und „Sicherheit“ gebracht, von „Demokratie“ und „Menschenrechten“ ganz zu schweigen, sondern Terror und Chaos. Die Tatsache, dass nur wenige tausend Taliban-Kämpfer in der Lage waren, Kundus in einer Blitzaktion einzunehmen, zeigt nicht nur, wie schwach das pro-westliche Regime in Kabul ist, sondern auch wie verhasst die westlichen Truppen nach Jahren der Besatzung in der afghanischen Bevölkerung sind.

In Wirklichkeit führten die deutschen „Friedens“-Truppen an der Seite der USA von Anfang an einen aggressiven Kampfeinsatz gegen Aufständische. Den Auftakt bildete die Schlacht um Tora Bora im Dezember 2001, an der deutsche Soldaten vom Kommando Spezialkräfte beteiligt waren. Im Norden war die erste größere militärische Kampagne die Operation Harekate Yolo im Oktober und November 2007. Es war gleichzeitig die erste offensive Militäroperation unter deutschem Kommando seit dem Zweiten Weltkrieg.

Die Kämpfe um den strategisch wichtigen Norden hatten nicht nur für die deutschen Soldaten tödlichen Konsequenzen (insgesamt 54 Tote), sondern auch für die einheimische Zivilbevölkerung. So kamen allein bei der Operation Halmazag („Blitz“) im Herbst 2010 laut Recherchen des ARD-Magazins Monitor bis zu 27 Zivilisten ums Leben.

Der schreckliche Höhepunkt des deutschen Einsatzes war aber zweifellos der vom damaligen Bundeswehrkommandeur von Kundus, Oberst Georg Klein, befohlene Luftangriff auf zwei Tanklastzüge am 4. September 2009, der als das „Massaker von Kunduz“ in die Geschichte einging. Zum Zeitpunkt des Bombardements befanden sich in der Nähe der Laster hunderte Menschen, darunter viele Frauen und Kinder. Nach offiziellen NATO-Angaben wurden im Flammeninferno bis zu 142 Menschen getötet oder verletzt. Dies ist die bislang mit Abstand größte Zahl von Opfern bei einem Einsatz sowohl in der Geschichte der Bundeswehr als auch durch Truppen der ISAF.

Der offiziellen Propaganda in Politik und Medien vom Aufbau des Landes, dem gerechten Kampf gegen den Terror und für Menschenrechte und Demokratie taten diese Gräueltaten allerdings nie Abbruch. Als am 6. Oktober 2013 das Feldlager in Kunduz in einer feierlichen Zeremonie an die selbst ausgebildeten afghanischen Sicherheitskräfte übergeben wurde, pries der damalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle (FDP) die erreichten „Fortschritte“ und prahlte mit dem Bau von Schulen für Jungen und Mädchen. Die Übergabe bezeichnete er als einen „Meilenstein im Prozess des Abzugs deutscher Kampftruppen“ und der souveränen Entwicklung des Landes.

Nun sind zumindest Teile der deutschen Medien gezwungen, etwas Kreide zu fressen. Der Berliner Tagesspiegel veröffentlichte am Montag einen Bericht unter dem Titel „Land ohne Frieden“ und stellte die verzweifelte Frage: „Ist der Afghanistan-Einsatz umsonst gewesen?“ Der Artikel verweist u.a. auf eine Studie des in Zürich ansässigen Thinktanks Center for Security Studies (CSS), der die aktuelle Lage in Afghanistan mit der Zeit nach dem Abzug der sowjetischen Truppen Ende 1989 vergleicht. Ähnlich wie damals rutsche Afghanistan ins Chaos und möglicherweise in einen neuen Bürgerkrieg.

Waren die erste Reaktion noch eine Mischung aus Schock und Verzweiflung, werden nun die Rufe nach einem längeren und noch aggressiveren Eingreifen in Afghanistan immer lauter. So forderte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) auf einer offiziellen Pressekonferenz am Dienstag eine Überprüfung der Nato-Abzugspläne und warnte vor Entscheidungen, die sich „nach starren Zeitlinien“ richten. Kundus „habe eine besondere Bedeutung für die Soldaten der Bundeswehr“, so die Verteidigungsministerin. Bislang war zumindest der offizielle Plan, im Laufe des kommenden Jahres alle verbliebenen Nato-Truppen aus Afghanistan abzuziehen, darunter auch die restlichen 850 Soldaten der Bundeswehr in Masar-i-Sharif und Kabul.

Andere Regierungspolitiker gehen bereits einen Schritt weiter. So plädierte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Wolfgang Hellmich (SPD), für ein Verbleiben deutscher Truppen in Afghanistan über 2016 hinaus. „Die Afghanen sind noch nicht so weit, dass wir sie allein lassen können“, erklärte in bester imperialistischer Manier.

Am aggressivsten treten wenig überraschend die Grünen auf, die den Afghanistan-Einsatz als damalige Regierungspartei der rot-grünen Koalitionsregierung unter Gerhard Schröder und Joschka Fischer mit allen Konsequenzen zu verantworten haben. Omid Nouripour erklärte Anfang der Woche im Tagesspiegel, das sich Deutschland nun konkret zwei Fragen stellen müsse: „Ist Afghanistan relevant?“ und „Haben wir unseren Job erledigt?“ Während die erste Frage nur ein „Ja“ zulasse, erfordere die zweite „ebenso eindeutig“ ein „Nein“.

Mit ihrem aggressiven Auftreten verfolgen die deutschen Eliten die gleichen Ziele wie zu Beginn des Afghanistan-Feldzugs: die Verteidigung der geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen des deutschen Imperialismus mit militärischen Mitteln. Es gibt aber einen Unterschied. Nach 14 Jahren Kriegseinsatz in Afghanistan ist es für den deutschen Imperialismus nicht mehr möglich, sich pazifistisch zu geben. Eine erneute Entsendung tausender Soldaten an den Hindukusch, um den „Job zu erledigen“, dürfte einen gesellschaftlichen Sturm auslösen.

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