Seit einer Woche fliegen russische Flugzeuge Luftangriffe in Syrien, während von Kriegsschiffen im mehr als 1400 Kilometer entfernten Kaspischen Meer mindestens 26 Marschflugkörper abgefeuert wurden. Die Diskussionen in herrschenden Kreisen der USA und Europas sind jedoch dominiert von immer schärferen Warnungen und Drohungen, die zu einem noch gefährlicheren Konflikt und sogar zu einem Weltkrieg führen könnten.
Frankreichs Präsident Francois Hollande, der selbst Luftangriffe in Syrien befohlen hatte, erklärte am Mittwoch vor Europaabgeordneten, die Ereignisse in Syrien könnten zu einem „totalen Krieg“ eskalieren. Europa selbst wäre vor diesem Krieg „nicht sicher“.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan reagierte auf angebliche Zwischenfälle, bei denen russische Kampfflugzeuge in türkischen Luftraum eingedrungen waren und erklärte: „Ein Angriff auf die Türkei ist ein Angriff auf die Nato“. Damit berief er sich implizit auf Artikel 5 der Nato-Charta, der alle Mitglieder des Militärbündnisses zu einer bewaffneten Reaktion verpflichtet, sollte die Türkei oder ein anderer Mitgliedsstaat angegriffen werden.
Die türkische Regierung dringt regelmäßig in den Luftraum ihrer Nachbarstaaten ein, um kurdische Lager im Irak zu bombardieren und syrische Flugzeuge über syrischem Gebiet abzuschießen. Sie war in der Vergangenheit außerdem einer der wichtigsten Unterstützer der islamistischen Milizen, die Syrien verwüstet haben, u.a. des IS und der al-Nusra-Front.
Auch hohe Nato-Funktionäre äußerten sich kriegerisch gegenüber Moskau. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg warf Russland vor, sein Eindringen in türkischen Luftraum sähe „nicht wie ein Versehen“ aus. Weiter drohte er: „Zwischenfälle und Versehen können gefährliche Situationen hervorrufen. Deswegen ist es wichtig, dass sich solche Dinge nicht wiederholen.“
Der Oberbefehlshaber des Allied Joint Force Command der Nato in Neapel, Admiral Mark Ferguson von der US-Navy, warf Russland am Dienstag während einer Rede in Washington vor, es baue einen „stählernen Bogen“ vom Polarkreis bis zum Mittelmeer, eine bewusste Anlehnung an Winston Churchills Rede über den „Eisernen Vorhang“ vom 5. März 1946. Damit stellt er das tatsächliche Kräfteverhältnis auf den Kopf und verschweigt die unablässige Umzingelung Russlands durch Washington und die Nato seit der Auflösung der Sowjetunion vor 25 Jahren.
Admiral Ferguson bezeichnete Russland als „die gefährlichste Bedrohung“ für die Nato und forderte das Bündnis zu einer zunehmend aggressiven Haltung gegenüber Moskau auf. Er empfahl der Nato außerdem, ihre „Kampfkraft für den Kriegsfall“ zu erhöhen und Streitkräfte „für ernsthafte weltweite Operationen in Bereitschaft zu halten“.
Auch ehemalige hochrangige US-Regierungsvertreter meldeten sich mit Forderungen nach einer Konfrontation mit Russland zu Wort. Ihre Ansichten entsprechen zweifellos denen mächtiger Teile des amerikanischen herrschenden Establishments und seines riesigen Militär- und Geheimdienstapparates.
Zbigniew Brzezinski, der nationale Sicherheitsberater unter der Carter-Regierung und langjährige Stratege des US-Imperialismus, schrieb in einer Kolumne in der Financial Times, die USA sollten auf die Angriffe Russlands auf von der CIA unterstützte Milizen mit „sofortigen Vergeltungsmaßnahmen“ reagieren. Wie so viele in Washington erwähnte auch er nicht, dass die bekannteste dieser Milizen die al-Nusra-Front ist, der syrische Ableger von al-Qaida.
Brzezinski wies darauf hin, dass die russische Marine- und Luftpräsenz in Syrien „verwundbar und geografisch von ihrem Heimatland isoliert“ sei und „entwaffnet“ werden könnte, wenn sie die USA weiter provozieren. Vermutlich setzte er „entwaffnet“ in Anführungszeichen, um zu signalisieren, dass es sich hierbei um einen Euphemismus für „militärische Zerstörung“ handelt.
Ivo Daalder, der bis Mitte 2013 Obamas Nato-Botschafter war, äußerte sich gegenüber Politico ähnlich: „Wenn wir ihre Streitkräfte dort ausschalten wollen, können wir es vermutlich mit relativ niedrigen oder ganz ohne Kosten für uns selbst tun. Die Frage ist, wie Putin reagieren wird. Ich glaube, wenn man in der Einsatzzentrale sitzt, muss man das durchspielen.“
Obamas ehemaliger Sondergesandter für Syrien, Frederic Hof, verglich Putins Vorgehen derweil mit dem von Nikita Chruschtschow während der Kubakrise im Oktober 1962. Damals stand die Welt am Rande eines Atomkrieges. Hof schrieb: „Genau wie sein Amtsvorgänger vor 50 Jahren, sieht Putin bei einem US-Präsidenten Schwäche. Genau wie sein Vorgänger riskiert er die Erkenntnis, dass es ungesund ist, sich mit den Vereinigten Staaten anzulegen. Doch dieses Risiko birgt Gefahren für alle Beteiligten.“
Der Chefkolumnist für den Bereich Außenpolitik der Financial Times, Gideon Rachman, veranschaulichte die bedrohlichen Impliktionen dieser Diskussionen, indem er den Konflikt in Syrien mit dem Spanischen Bürgerkrieg der 1930er Jahre verglich. Er schrieb: „In Syrien findet heute ein ähnlicher Stellvertreterkrieg statt. Russische und amerikanische Luftstreitkräfte bombardieren Ziele in dem Land und ausländische Kämpfer strömen hinein.“
Weiter schrieb er: „Die Länder, die in Spanien in den 1930ern ihre jeweiligen Seiten unterstützten, haben in den 1940ern gegeneinander gekämpft. Die Gefahr, dass der Konflikt in Syrien zu einem direkten Zusammenstoß zwischen den Iranern und den Saudis oder sogar zwischen Russen und Amerikanern führen könnte, darf nicht unterschätzt werden.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Diese Gefahr besteht, weil Russland mit seiner Intervention zur Verteidigung der Interessen des russischen Staates und der herrschenden Oligarchenklasse, die Pläne der USA durcheinander gebracht hat. Washington plant schon seit Jahrzehnten, in Syrien einen Regimewechsel herbeizuführen und die Grenzen im Nahen Osten neu zu ziehen.
Der Vorschlag, durch die Unterstützung von Stellvertreterkräften einen Regimewechsel in Syrien herbeizuführen, wurde vor zwanzig Jahren in einem Dokument mit dem Titel „A Clean Break: A New Strategy for Securing the Realm“ formuliert. Verfasst wurde es für den damaligen israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu von einer Arbeitsgruppe, der u.a. Richard Perle, Douglas Feith und David Wurmser angehörten. Alle drei erhielten später hohe Posten in der Bush-Regierung und beteiligten sich an der Verschwörung, die zum amerikanischen Angriffskrieg gegen den Irak führte.
Laut einem Dokument, das bis vor kurzem als vertraulich galt und an WikiLeaks weitergegeben wurde, begannen die Planungen der USA für einen Regimewechsel mindestens fünf Jahre vor dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges. Der Geheimbericht des amerikanischen Botschafters in Damaskus beschrieb „Schwachstellen“ der syrischen Regierung, die Washington ausnutzen könnte. Ganz oben auf der Liste stand die Förderung „sunnitischer Ängste vor dem Einfluss des Iran“, um religiöse Konflikte zu schüren und „die Anwesenheit durchreisender islamistischer Extremisten“ auszunutzen.
Der gesamte Hintergrund des Dokuments verdeutlicht, dass diese Vorschläge bewusst gemacht wurden, um ein Blutbad zu provozieren. Es wurde im Jahr 2006 auf dem Höhepunkt der religiösen Gewalt im Irak geschrieben, die Washington durch seinen Einmarsch und seine Taktik des „Teile und Herrsche“ verursacht hatte. Fast zehn Jahre später hat dieser Kurs in Syrien u.a. zu etwa 300.000 Todesopfern, vier Millionen Flüchtlingen und sieben Millionen Binnenvertriebenen geführt.
Die USA nutzen zwar das Leid der syrischen Bevölkerung zynisch aus, um die Eskalation ihres Militarismus zu rechtfertigen, aber sie werden nicht zulassen, dass Russland ihre Versuche vereitelt, zur Hegemonialmacht im ölreichen Nahen Osten und auf der ganzen Welt zu werden.
Der Kriegskurs gegen Russland ist voll beabsichtigt. Die US-Intervention zum Sturz des Regimes in Damaskus zielte von Anfang an darauf ab, die wichtigsten Verbündeten Syriens, den Iran und Russland zu schwächen, um einen direkten Angriff auf beide Länder vorzubereiten.
Durch den Ausbruch des amerikanischen Militarismus, dessen Wurzeln in der historischen Krise des amerikanischen und des Weltkapitalismus liegen, wächst die Gefahr eines atomaren dritten Weltkrieges für die Menschheit mit jedem Tag.