Merkels schmutziger Deal mit der türkischen Regierung

Not kennt kein Gebot. Getreu diesem Motto reiste Bundeskanzlerin Angela Merkel am Sonntag nach Istanbul, um mit der türkischen Regierung die Bedingungen für den Gemeinsamen Aktionsplan zwischen der Europäischen Union und der Türkei auszuhandeln, auf den sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zuvor verständigt hatten.

Kern des Plans ist die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes vor die Tore der Festung Europa. Die Türkei soll zur Pufferzone für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien und Irak und die Regierung in Ankara zum obersten Grenzschützer der EU gemacht werden. Im Gegenzug ist die Europäische Union bereit, Forderungen der Türkei hinsichtlich der EU-Beitrittsverhandlungen des Landes nachzukommen.

Der Gemeinsame Aktionsplan sieht vor, dass die türkische Küstenwache in der Ägäis zukünftig rigoros Flüchtlinge abfängt und in die Türkei zurückbringt. In diesem Jahr wurden nur 50.000 Flüchtlinge abgefangen, während 450.000 die griechische Küste erreichten. Um dem einen Riegel vorzuschieben, soll die türkische Küstenwache technisch aufgerüstet werden und in Kooperation mit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex und der griechischen Küstenwache operieren.

Zentral ist die Beschleunigung des Rücknahmeabkommens, mit dem sich die Türkei verpflichtet, Flüchtlinge, die nach Griechenland, Bulgarien oder Rumänien eingereist sind, zurückzunehmen. Außerdem will die EU die Türkei finanziell bei der Errichtung sechs neuer Lager für mehr als 2 Millionen Flüchtlinge unterstützen.

Im Gegenzug verlangt die Regierung in Ankara aber Entgegenkommen in fünf Bereichen. Die seit 2013 stockenden Beitrittsverhandlungen sollen durch Eröffnung fünf weiterer Kapitel wieder aufgenommen werden, der türkische Staatschef soll zu EU-Gipfeln eingeladen werden, es soll Visaerleichterungen vor allem für türkische Geschäftsleute geben, die Türkei soll in die Liste „sicherer Herkunftsstaaten“ aufgenommen werden, und schließlich will die Regierung in Ankara drei Milliarden Euro von der EU für den Aufbau und Unterhalt der geplanten Internierungslager für Flüchtlinge.

In einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Merkel erklärte sich der türkische Premierminister Ahmet Davotoglu zu einer besseren Zusammenarbeit bereit, beklagte aber, dass sein Land für die Aufnahme von insgesamt 2,2 Millionen syrischer und 300.000 irakischer Flüchtlinge mehr als 7,8 Milliarden Dollar bezahlt habe. Er erklärte, „dass vor allem die Flüchtlingslast gerecht verteilt werden sollte. Die Höhe der Hilfen ist zweitrangig, wichtiger ist der gemeinsame Wille, dieses Problem zu lösen. Die Türkei ist in den letzten Jahren im Stich gelassen worden.“

Merkel bot an, „den beschleunigten Visaprozess zu unterstützen“, falls die Türkei die Unterzeichnung des Rücknahmeabkommens vorzieht. Außerdem stellte sie die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen in Aussicht. „Deutschland ist dazu bereit, Kapitel 17 zu eröffnen und Vorbereitungen für Verhandlungen zu Kapitel 23 und 24 zu treffen.“

Kapitel 17 bezieht sich auf eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik, während Kapitel 23 und 24 bezeichnenderweise Fragen der Zusammenarbeit im Bereich Justiz, Sicherheit und Menschenrechte betreffen.

Ganz offensichtlich sind die Bundesregierung und die EU bereit, der Türkei hierbei weitgehend entgegenzukommen. Im letztjährigen Fortschrittsbericht bescheinigte die EU der Türkei noch große Gegensätze zu europäischen Standards und „mahnte bedeutende Fortschritte hinsichtlich der Justiz und der Einhaltung fundamentaler Menschenrechte“ an. Die Veröffentlichung des diesjährigen Berichts wurde hingegen verschoben. Ein Kommissionssprecher erklärte zwar, dass dies der Konzentration auf die Flüchtlingsfrage geschuldet sei, tatsächlich sollen aber wohl kritische Passagen verwässert werden, um die Hilfe der Türkei bei der Flüchtlingsabwehr nicht aufs Spiel zu setzen.

Merkel, die noch vor zehn Tagen dem Fernsehsender ARD erklärt hatte, dass sie gegen eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU sei, sagte nun, dass die Beitrittsverhandlungen mit „offenem Ende“ geführt werden. „Wir hatten sehr vielversprechende Gespräche“, erklärte sie.

Merkel und Davutoglu stimmten darin überein, dass eine dauerhafte Lösung der Flüchtlingskrise nur zu erreichen sei, wenn „der Konflikt in Syrien gelöst“ ist. Davutoglu brachte erneut die Einrichtung einer Sicherheitszone im Norden Syriens ins Gespräch. „Eine Sicherheitszone ist notwendig, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Die sich zuspitzende militärische Auseinandersetzung zwischen syrischen Regierungstruppen, die von russischen Luftschlägen unterstützt werden, und ISIS-Milizen rund um die Stadt Aleppo droht eine neue Flüchtlingswelle auszulösen.“

Die Errichtung einer Sicherheitszone würde eine weitere Eskalation der ohnehin extrem angespannten Situation in Syrien mit sich bringen. Die Pläne setzen eine massive Intervention von Bodentruppen voraus und wären ein klarer Verstoß gegen das Völkerrecht, da dadurch die territoriale Integrität Syriens angegriffen würde.

Präsident Erdogan behauptet zwar, in der Sicherheitszone sollten Flüchtlingslager errichtet werden, tatsächlich will die türkische Regierung aber vor allem gegen kurdische Milizen vorgehen und verhindern, dass in Nordsyrien ein zusammenhängendes Kurdengebiet mit Zugang zum Mittelmeer entsteht.

Merkel ging auf die Frage der „Sicherheitszone“ in Syrien nicht ein, versprach der türkischen Regierung aber Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus. Da Präsident Erdogan darunter auch die verbotene Arbeiterpartei PKK und deren Verbündete in Syrien zählt, bedeutet dies, dass Merkel der türkischen Regierung signalisiert, sie werde das weitere Vorgehen Ankaras gegen die Kurden zumindest billigen. Eine weitere militärische Eskalation in der Region wird katastrophale Folgen für die dortige Bevölkerung haben und zu einem dramatischen Anstieg der Flüchtlingszahlen führen.

Merkels Besuch in der Türkei und ihre weitreichenden Zugeständnisse sind eine direkte Unterstützung für Erdogan und seine Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) in der Endphase des Parlamentswahlkampfes. Die Bundeskanzlerin tut das, obwohl die Regierung Erdogan immer brutaler gegen die kurdische Minderheit vorgeht und den Bürgerkrieg im Osten der Türkei wieder entflammt, Journalisten inhaftiert, Fernsehsender schließt und missliebige Richter und Staatsanwälte entlässt.

Das Ansinnen, Erdogan zum Türsteher der EU zu machen und Flüchtlinge an deren Außengrenzen abzuwehren, war so groß, dass die Stärkung der korrupten und autoritär regierenden AKP billigend in Kauf genommen wurde.

Einhundert türkische Akademiker protestierten in einem offenem Brief gegen den Besuch Merkels und listeten die fortwährenden Verstöße der AKP-Rergeirung gegen fundamentale Rechte der Bevölkerung auf.

In dem Brief heißt es, „diese Verstöße zeigen, dass sich der Präsident und der Premierminister offen den gemeinsamen Werten der EU widersetzen. Wir sind sehr besorgt, denn Merkels Besuch wird als Unterstützung eines Politikers betrachtet werden, der von Amts wegen während des Wahlkampfs unparteilich agieren sollte, und als Befürwortung der Verletzung wichtigster Werte der Europäischen Union.“

Von den offiziellen Oppositionsparteien, der kemalistischen CHP und der kurdischen HDP, wurde keine Kritik an Merkel laut, da sie zumindest bei der Flüchtlingsfrage mit der Regierung Erdogan an einem Strang ziehen und die schutzsuchenden Menschen aus Syren und dem Irak ebenfalls lieber heute als morgen wieder loswerden wollen.

Auch in Deutschland wurde Merkels devote Haltung gegenüber dem autoritären Regime in Ankara verteidigt. Innenminister Thomas de Maizière erklärte in der ARD: „Wir können nicht immer nur auf dem moralischen Sockel sitzen und alle Welt belehren über Menschenrechtszustände.“ Die Türkei sei nun einmal der „Hauptschlüssel“ bei der Flüchtlingsfrage „weil von dort ganz viele Menschen kommen“.

Auch SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi wies jede Kritik an Merkels Türkeibesuch zurück. „Auch wenn die Voraussetzungen außenpolitisch und in der türkischen Innenpolitik höchst schwierig sind, führt kein Weg an der Zusammenarbeit mit der Türkei vorbei“, sagte sie dem Boulevardblatt Bild und fügte zynisch hinzu: „Schließlich gehe es darum, die Situation der Flüchtlinge zu verbessern.“

Während die Türkei zukünftig den Grenzschützer Europas spielen darf, spitzt sich innerhalb der europäischen Grenzen die Flüchtlingssituation weiter zu. Seitdem die ungarische Regierung am Sonntag sämtliche Grenzübergänge zu Kroatien geschlossen hat, müssen die Flüchtlinge nun über Slowenien ausweichen. Die Regierung in Ljubljana hat jedoch angekündigt, höchstens 2.500 Flüchtlinge pro Tag an der Grenze zu registrieren und passieren zu lassen.

Da gleichzeitig die österreichische Regierung nur 1.500 Flüchtlinge pro Tag aus Slowenien einreisen lassen will und die kroatische Regierung zeitweise die Grenze zu Serbien geschlossen hat, bildete sich nahe der serbisch-kroatischen Grenzstadt Berkasovo ein Lager mit annähernd 10.000 dort gestrandeten Flüchtlingen, die ohne Versorgung und Zelte bei Kälte und Dauerregen ausharren mussten.

Da insbesondere die deutsche Regierung die kleinen Länder entlang der Balkanroute weiter dazu drängt, die Flüchtlinge ordentlich zu registrieren, bevor sie weiterreisen dürfen, haben sich immer unzumutbarere Zustände an den Grenzübergängen ergeben. Die slowenische Regierung hat zwischenzeitlich 2.000 Flüchtlinge in einem Zug festgesetzt. Außerdem hat die slowenische Regierung in einer nächtlichen Sondersitzung den Einsatz der Armee an der Grenze beschlossen, um gegen die Flüchtlinge vorzugehen.

„Es geht darum die Kontrolle an den Grenzen zu verstärken“, erklärte Regierungschef Miro Cerar im staatlichen Rundfunk. Slowenien, das nur zwei Millionen Einwohner hat, beklagt sich darüber, dass Österreich und Deutschland immer weniger Flüchtlinge ins Land lassen.

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