Türkische Regierung hatte Vorkenntnisse über das Selbstmordattentat in Ankara

Die Beweise häufen sich, dass die regierende türkische Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) von den Plänen des Selbstmordanschlags vom 10. Oktober wusste und auch die beteiligten Bombenattentäter kannte.

Berichte finden sich in einigen heimischen Quellen. Hierzu zählen unter anderem die kemalistische Oppositionspartei Republikanische Volkspartei (CHP) und die prodkurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) sowie die Tageszeitungen Radikal, Hurriyet Daily News und Today’s Zaman.

Trotz der Mediensperre, die über die Untersuchung des schlimmsten Terroranschlags in der Geschichte der Türkei verhängt wurde, ist bekannt geworden, dass die Behörden im Voraus auf das Attentat hingewiesen wurden. Der Selbstmordanschlag forderte über 100 Leben von Menschen, die wegen des eskalierenden Konflikts mit der kurdischen Minderheit sowie der Verwicklung in den Krieg mit dem benachbarten Syrien gegen die Regierung protestierten.

Am Montag entschied die zweite Strafkammer von Ankara, dass die Untersuchungen zum Doppelselbstmordanschlag in der Hauptstadt vertraulich bleiben sollen. Diese Entscheidung geht auf einen Antrag des Amts für Verbrechen gegen die verfassungsmäßige Ordnung zurück und steht der Forderung der Staatsanwaltschaft von Ankara entgegen.

Juristen wird somit der Zugang zu allen Dokumenten verwehrt, außer zu jenen, die Aussagen von Verdächtigen oder Expertenmeinungen enthalten oder offiziellen Berichten, die in Zusammenhang mit dem Gerichtsverfahren stehen. Und selbst diese beschränkte Einsichtnahme wird nur gewährt, wenn eine Regierungsgenehmigung vorliegt.

Am 14. Oktober verhängte ein Gericht in Ankara entsprechend dem Beschluss vom Montag mit sofortiger Wirkung eine weitgehende Nachrichtensperre über die Untersuchung des Selbstmordattentats. Darunter fallen „alle Arten von Neuigkeiten, Interviews, Kritik und Publikationen in gedruckten, visuellen und sozialen Medien sowie allen Arten von Medien im Internet.“

Auf diesen Beschluss folgte die Bekanntgabe der Namen zweier verdächtigter Selbstmordattentäter. Es handelt sich um Yunus Emre Alagoz und Omer Deniz Dundar. Berichten zufolge sind sie Mitglieder eines Ablegers des Islamischen Staates (IS) in Adiyaman in der südlichen Zentraltürkei.

Alagoz ist der ältere Bruder von Seyh Abdurrahman Alagoz, dem Selbstmordattentäter, der am 20. Juli in der Grenzstadt Suruç 33 pro-kurdische Friedensaktivisten und Studenten tötete. Die beiden Brüder betrieben das „Islamische Teehaus“, ein Café in der südöstlichen Stadt Adiyaman, das als Zentrum der Aktivitäten des Islamischen Staates in der Türkei gilt.

Eine der bekannteren Verbindungen der Brüder war Orhan Gonder, der beschuldigt wird, am 5. Juni ein Bombenattentat auf eine HDP-Versammlung in Diyarbakir verübt zu haben. Bei der Friedenskundgebung am 10. Oktober in Ankara waren sehr viele Anhänger der HDP anwesend.

Berichten zufolge verzögerte die Regierung jegliche Maßnahmen gegen das Islamische Teehaus und seine Besitzer, selbst nachdem die Eltern der beiden mutmaßlichen Mörder sich über die Tatenlosigkeit der Regierung beschwert hatten.

Ein bei Bloomberg erschienener Artikel, in dem die Berichte aus Radikal übersetzt wurden, merkte an: „Familien, die in Sorge um ihre Kinder waren, stürmten mehrere Male selbst das Café, bevor die Polizei tätig wurde. (…) Im vergangenen Jahr wurde es geschlossen, da es ohne Lizenz betrieben wurde, wie Radikal berichtet. Anschließend fuhren Yunus Emre Alagoz und sein Bruder Seyh Abdurrahman nach Syrien.“

Bloomberg schrieb, die Familienmitglieder hätten „sich acht Monate lang bei den Behörden über ihr Verschwinden beschwert“, bevor sie die Sache Premierminister Ahmet Davutoğlu (AKP) persönlich vortragen konnten, was „während einer regionalen Tagung der Regierungspartei geschah.“ Bloomberg schreibt weiter: „Davutoğlu sagte ihnen, dass er dem Leiter des nationalen Geheimdienstes eine Order betreffs ihres Sohnes gegeben habe. Als eine weitere Familie sich an Davutoğlu wandte, weil ihr Sohn mit seiner Frau nach Syrien gegangen sei, habe er angeblich geantwortet: ‘Es ist gut, dass sie zusammen gehen, sie werden einander unterstützen’. So wird ein [CHP]-Bericht zitiert.“

Der britische Daily Telegraph teilte Bemerkungen des Vaters des zweiten mutmaßlichen Selbstmordattentäters von Ankara mit, der erklärte, dass Dundar 2013 die Türkei verlassen habe und nach Syrien gegangen sei: „Im Jahr 2014 kam mein Sohn nach Adiyaman und lebte acht Monate lang mit mir zusammen. Ich sagte der Polizei, sie solle ihn einsperren. Sie verhörten ihn und entließen ihn wieder. Acht Monate später ging er nach Syrien.“

Hurryet Daily News berichtete zudem von einer Enthüllung der Journalistin Ezgi Basaran, die im Radikal schrieb, dass die Polizei in Adiyaman “eine Liste von fünfzehn Jugendlichen besitzt, die nach Syrien gegangen sind. Diese Liste, die auch den Namen von Yunus Emre Alagoz aufführt, wurde an alle Polizeikräfte mit der Aufforderung verschickt, die Jugendlichen festzunehmen. (…) Basaran schließt ihren Artikel mit der elementaren Frage: ‘Wenn Journalisten sie aufspüren können, wie kommt es dann, dass die staatlichen Geheimdienste dazu nicht in der Lage sind?’”

Eine vom türkischen Geheimdienst MIT angefertigte Liste mit 21 potentiellen Selbstmordattentätern kursierte bis zum 10. Oktober im Internet – sie führte beide mutmaßlichen Selbstmordattentäter auf. Bloomberg berichtet, dass Basaran in einer E-Mail vom Mittwoch schrieb: „Ich finde es schwer zu glauben, dass diese Attentäter, über deren Namen und Familien in der Presse ausführlich geschrieben wurde, vom Staat unbeobachtet nach Ankara gehen konnten und dass der Geheimdienst nichts davon wusste.“

Am 23. Juli veröffentlichte sie eine Kolumne unter dem Titel „Der nächste Bombenanschlag liegt näher als wir glauben“, in welcher sie insbesondere vor Yunus Emre Alagoz warnte, dessen Initialen sie benutzte ohne ihn namentlich zu erwähnen. „Wir schrieben pausenlos darüber“, sagte sie. „Wir haben Listen mit ihren Namen. Weiß der Staat nicht, was wir wissen?“ Hurryet Daily News erwähnte zudem, dass vor dem 10. Oktober „Twitternachrichten von gefälschten Accounts kursierten, die darauf hindeuteten, dass in der Hauptstadt Ankara ein Terroranschlag bevorstehe.“

Die einzige Antwort, die Premierminister Ahmet Davutoğlu gab, war: „Als ein Land, in dem Gesetze herrschen, kann man [Selbstmordattentäter] nicht einsperren, bevor sie handeln.“

Vor den Wahlen vom 5. Juni haben Polizei und Sicherheitskräfte dieses Landes, “in dem Gesetze herrschen”, über 3.000 Menschen in Anti-Terror-Operationen verhaftet, die meisten von ihnen Kurden und Mitglieder anderer oppositioneller Gruppen. Viele von ihnen wurden aufgrund „begründeten Verdachts“ festgenommen.

Die jüngsten Terrorgesetze der Türkei definieren Terrorismus als “jegliche Art von Aktionen, die mittels Erpressung, Einschüchterung, Gewaltandrohung durch eine oder mehrere Personen begangenen werden, welche einer Organisation angehören, die den Charakter der Republik zu ändern beabsichtigt.“

Von Verhaftung bedroht sind Mitglieder verbotener Organisationen (drei bis fünf Jahre Haft unter verschärften Bedingungen), jeder, der Mitgliedern solcher Organisationen Unterstützung zukommen lässt (ein bis fünf Jahre Haft) und jeder, der Propaganda für solche Organisationen betreibt. Today’s Zaman berichtet, dass laut Yusuf Halaçoğlu von der rechtsstehenden Nationalistischen Aktionspartei (MHP), “mehreren ausländischen Botschaften in Ankara vor dem Selbstmordanschlag eine Warnung zukam, dass in Ankara ein Attentat stattfinden könnte.“

Halaçoğlu sagte der Zeitung: „Diese Botschaften wussten von dem Anschlag und trafen Vorkehrungen.“

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