Wahlkampfauftakt der IYSSE

Der Syrienkrieg und die historischen Interessen des deutschen Imperialismus im Nahen Osten

Vergangenen Mittwoch startete die Berliner Hochschulgruppe der International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) ihren Wahlkampf zum Studierendenparlament der Humboldt-Universität (HU) mit einer Vortragsreihe zum Thema „Nie wieder Krieg! Wissenschaft statt Kriegspropaganda“.

„70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Welt ein Pulverfass“, heißt es im Programmheft zu den fünf Vorträgen. „Die Entscheidung der Bundesregierung, sich am Krieg in Syrien zu beteiligen, markiert ein neues Stadium in der Wiederkehr des deutschen Militarismus und erhöht die Gefahr eines Weltkriegs.“

Die Versammlung an der Humboldt-Universität

Dutzende Studierende und junge Arbeiter füllten den Seminarraum und folgten gespannt dem ersten Vortrag von Johannes Stern, Mitglied der Redaktion der World Socialist Web Site, zum Thema „Der Syrienkrieg und die historischen Interessen des deutschen Imperialismus im Nahen Osten“.

Sven Wurm, Leiter der IYSSE-Hochschulgruppe an der HU und Mitglied im Studierendenparlament (StuPa), betonte einleitend, der gerade beschlossene Kriegseinsatz in Syrien sei „kein kurzfristiges Abenteuer“, sondern ein Wendepunkt mit weitreichenden Konsequenzen. Die IYSSE nehme an den StuPa-Wahlen am 19. und 20. Januar 2016 teil, um „der Kriegsentwicklung entgegenzutreten und eine Antikriegsbewegung aufzubauen“. Dazu sei „eine genaue Kenntnis der zentralen politischen und historischen Fragen“ die Voraussetzung.

„Deutschland ist auf einmal mitten im Krieg. Und es ist jetzt schon klar, dass wir erst am Anfang stehen“, sagte Stern zu Beginn seines Vortrags. Verteidigungsministerin von der Leyen spreche bereits von einem „langen Kampf“, und der ehemalige Bundeswehrinspekteur und General a.D. Harald Kujat stelle im aktuellen Spiegel den Einsatz 50.000 bis 60.000 Nato-Soldaten als Bodentruppen in Aussicht, falls die bisherige Strategie gegen den IS scheitern sollte.

Die Eile, mit der der Bundestag vor wenigen Tagen einen Kriegseinsatz in Syrien beschloss, habe viele überrascht. Aber er sei von langer Hand vorbereitet worden und Bestandteil der Rückkehr Deutschlands zu einer aggressiven Außen- und Großmachtpolitik, wie sie von Präsident Gauck und der Bundesregierung Anfang 2014 angekündigt worden sei.

Nur eineinhalb Jahre später könnten die deutschen Eliten ihre neuen „geopolitischen Machtphantasien“ kaum mehr unter Kontrolle halten, sagte Stern und verwies auf das „Schlüterhof-Gespräch“ mit den beiden Humboldt-Professoren Herfried Münkler und Jörg Baberowski vom vergangenen Montag. Münkler habe in seinen Ausführungen den geografischen Raum umrissen, auf den Deutschland seine neue „Realpolitik“ oder besser Kriegspolitik ausdehnen müsse. Es sei derselbe, der bereits im Ersten und Zweiten Weltkrieg im Fokus deutscher Wirtschaftsverbände, Generalstäbe und Geostrategen gestanden habe, sagte Stern.

„Wir haben zwei postimperiale Räume, die uns Sorge machen“, zitierte er Münkler. „Der eine geht vom westlichen Balkan bis zum Kaspischen Meer und der andere ist tendenziell der gesamte arabische Raum.“ Die „großen Herausforderungen der europäischen Stabilität und Sicherheit“ reichten „vom östlichen Balkan bis zum Kaukasus“ und vom „Raum zwischen Mesopotamien und Libyen, der Levante und dem Indischen Ozean“ bis an die „gegenüberliegende Küste des Mittelmeers und auf die andere Seite der Sahara“.

Im weiteren Verlauf seine Vortrags zeigte Stern auf, in welcher historischen Kontinuität die deutsche Kriegspolitik im Nahen und Mittleren Osten steht. Bereits vor und während des Ersten Weltkriegs habe die rohstoffreiche und geostrategisch wichtige Region eine zentrale Rolle für den deutschen Imperialismus gespielt.

Stern sprach über die „Orientreise“ von Kaiser Wilhelm II im Jahr 1898, den anschließenden Bau der Bagdad-Bahn und das sogenannte „Revolutionsprogramm“ des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg. Ziel des Auswärtigen Amtes und der Obersten Heeresleitung sei es damals gewesen, einen islamischen Aufstand gegen die britische Herrschaft in Ägypten und Indien zu provozieren, um in der Region die deutschen Interessen durchzusetzen.

Auch beim zweiten deutschen „Griff nach der Weltmacht“ (Fritz Fischer) sei der Nahe Osten von großer Bedeutung gewesen. Stern sprach über den deutsch-italienischen Afrikafeldzug, die gescheiterten Versuche, im Irak ein pro-deutsches Regime zu installieren, und zitierte u.a. aus der Denkschrift „Politik und Kriegführung im Vorderen Orient“ (1939) von Prof. Oscar Ritter von Niedermayer, der damals an der Berliner Universität lehrte und Kriegsstrategien für den deutschen Imperialismus ausarbeitete.

„Während die deutsche Eliten nach ihren Verbrechen in zwei Weltkriegen gezwungen waren, etwas Kreide zu fressen, sprechen sie spätestens seit der Auflösung der Sowjetunion und der deutschen Wiedervereinigung vor 25 Jahren wieder offen über ihre imperialistischen Gelüste, auch im Nahen und Mittleren Osten“, sagte Stern.

Er zitierte aus einem Strategiepapier der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem Jahr 2001, in dem es heißt: „Das grundlegende deutsche Interesse an der Region ist rasch umschrieben.“ Es gehe darum, eine „reibungslose Rohstoffversorgung […] und Exportmöglichkeiten für die deutsche Wirtschaft“ sowie „einen möglichst ungehinderten Marktzugang zu gewährleisten und sich der Konkurrenz der USA, der osteuropäischen Staaten, aber auch der ostasiatischen Industrieländer zu stellen“.

Stern betonte, die Wiederkehr des aggressiven deutschen Imperialismus sowie die wachsende Kriegsgefahr hätten ihre Wurzeln in den „tiefen Gegensätzen des Kapitalismus und seines Nationalstaatensystems“. Der Widerspruch zwischen globaler Produktion und den Nationalstaaten, auf die sich die Wirtschafts- und Finanzeliten stützten, bedrohe die Menschheit mit einem Dritten Weltkrieg, der zwischen Nuklearmächten ausgetragen würde. Das heutige Pulverfass im Nahen Osten, wo alle imperialistischen Mächte und Russland in der ein oder anderen Form militärisch intervenieren, könne wie das Pulverfass auf dem Balkan vor hundert Jahren explodieren. Dies zeige der Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei.

Auf die Hoffnung zu bauen, dass die regierenden Kreise selbst Angst vor einer solchen Entwicklung hätten, sei eine gefährliche Illusion. 1934 habe Leo Trotzki gewarnt: „Nur die Furcht vor den Folgen eines neuen Krieges bremst gegenwärtig noch den Drang des Imperialismus zum Kriege. Doch ist die Kraft dieser Bremse begrenzt.“ Fünf Jahre später wirkte diese Bremse nicht mehr, der Zweite Weltkrieg begann.

Am Ende seines Beitrags rief Stern dazu auf, am Aufbau einer Antikriegsbewegung, die sich gegen den Kapitalismus richtet, teilzunehmen und den Wahlkampf der IYSSE zu unterstützen. „Es ist ein Punkt erreicht, an dem man nicht mehr indifferent sein kann.“

Im Anschluss an den Vortrag gab es eine intensive Diskussion über die heutigen geostrategischen Interessen Deutschlands, die westliche Kriegspolitik im Nahen Osten seit dem Überfall auf den Irak 2003, die Entstehung und die Politik des Islamischen Staats und die Rolle von Kriegstreibern wie Münkler und Baberowski. Die nächste Veranstaltung findet am Mittwoch, 16. Dezember an der HU statt. Das Thema: „Herfried Münkler: Ein Akademiker im Dienste des deutschen Imperialismus.“

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