Eine Antwort auf Leserbriefe zu den Wahlen in Venezuela

Die World Socialist Web Site hat auf ihren Perspektiv-Artikel vom 11. Dezember, „Die Wahlen in Venezuela und die Sackgasse der ‚Linkswende‘ in Lateinamerika”, zahlreiche Zuschriften erhalten. Einige Leser - wie könnte es anders sein - waren empört darüber, dass die WSWS die „linken” Regierungen, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten in einigen Ländern ans Ruder kamen, einer marxistischen Analyse unterzog. Unser Perspektiv-Artikel betonte, dass diese Regierungen einen bürgerlichen Klassencharakter haben, ungeachtet ihrer linken und pseudosozialistischen Rhetorik.

Die Perspektive legte dann dar, dass die Krisen, von denen alle diese Regierungen gebeutelt werden, das zwangsläufige Produkt der globalen kapitalistischen Krise in diesen Ländern ist. Dadurch seien die Voraussetzungen hinfällig geworden, unter denen solche Regierungen für die kapitalistischen herrschenden Klassen in Venezuela, Argentinien, Brasilien und anderen Ländern dieser Hemisphäre möglich und nützlich waren.

Die WSWS bewertete das Wahldebakel der PSUV (Vereinigte Sozialistische Partei Venezuelas), der regierenden Partei von Präsident Nicolas Maduro, als Symptom dieser tiefen objektiven Krise und der zunehmenden Opposition von Massen von Arbeitern gegen diese Regierungen.

In Venezuela stimmten viele Arbeiter und Arme für die rechte Opposition der MUD (Tisch der Demokratischen Einheit). Sie taten dies nicht in der Überzeugung, dass diese reaktionären und halb faschistischen Politiker die immer unerträglicheren Verhältnisse in Venezuela verbessern würden. Ihnen ging es darum, die Regierung, die sie dafür verantwortlich machen, „abzustrafen”.

Wir wiesen darauf hin, dass sich die Niederlage der PSUV, der Partei von Maduro und des verstorbenen Hugo Chavez, nur kurz nach dem Sieg des rechten Kandidaten Mauricio Macri in Argentinien ereignete. In Argentinien endete damit die zwölfjährige Herrschaft der Kirchneristas, einer Fraktion der peronistischen Bewegung, die sich als „links” ausgab. Das Debakel der PSUV fällt auch zusammen mit einer tiefen Krise der Regierung der Arbeiterpartei (PT) in Brasilien. Dort zeigen Umfragen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung das Amtsenthebungsverfahren der brasilianischen Rechten gegen Präsidentin Dilma Rousseff unterstützt.

Nach unserer Einschätzung stellt dieser sogenannte Rechtsruck in Lateinamerika eine Rechtswende der herrschenden Kapitalistenklasse und ihrer sämtlichen Vertreter dar, während Massen von Arbeitern und Unterdrückten durch die Zuspitzung der kapitalistischen Krise nach links und in den Kampf getrieben werden.

Die drängendste Frage ist die der revolutionären Führung: Die Notwendigkeit, neue Parteien aufzubauen, die die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von allen bürgerlichen Bewegungen anstreben und auf Basis eines sozialistischen und internationalistischen Programms für die Abschaffung des Kapitalismus kämpfen.

Die Kommentare, die diese Perspektive ablehnen, störten sich an der Einschätzung der venezolanischen Regierung und der Ursachen ihrer gegenwärtigen Krise. Einige meinten, es ginge darum, einen Schuldigen für die Krise zu finden. Ihr Argument: Schuld an der Krise in Venezuela haben nicht die Regierung des Landes und die regierende chavistische Partei, sondern der US-Imperialismus und die venezolanische Oligarchie.

Einige Leser meinen, wir verstünden nicht, welchen Druck der US-Imperialismus und seine Verbündeten in der herrschenden Klasse des Landes auf Venezuela ausüben.

Das trifft mit Sicherheit nicht zu. Die WSWS hat die venezolanische Arbeiterklasse immer wieder vor den großen Gefahren gewarnt, die ihr durch die Verschwörungen und die Aggression der Imperialisten drohen. Wir bestanden aber immer auch darauf, dass die pseudolinken Elemente, die den Chavismus und den „bolivarischen Sozialismus” als neuen Weg zum Sozialismus anpriesen, die Arbeiter angesichtsdieser Gefahren politisch entwaffnet haben.

Unsere Kritiker reden eine Situation schön, in der der Zugriff des privaten Kapitals auf das Land stärker als bei Chavez’ Amtsantritt vor 17 Jahren ist, und das Finanzkapital Superprofite einstreicht, während der Lebensstandard der Arbeiter sinkt. Damit decken sie einige der gefährlichsten Feinde der venezolanischen Arbeiterklasse, zu denen auch zwei Säulen der chavistischen Regierung gehören: Die so genannte Boliburguesia, die sich selbst durch ihre Beziehungen zur Regierung und durch nackte Korruption bereichert hat, und das Militär, das in der Regierung enormen Einfluss ausübt und bei Bedarf bereit steht, eine politische Lösung à la Pinochet durchzusetzen.

Ein Leser schreibt: „Schuld haben die US-Regierung, die Republikanische Partei, die venezolanische Oligarchie und die venezolanische Mittelklasse. Erinnern wir uns, dass die Mittelklasse in allen Ländern der Welt sehr weit rechts steht.”

Mit dieser Einschätzung vertuscht man nur, dass die Maduro-Regierung keinen wirklichen Kampf gegen den US-Imperialismus oder die venezolanische Oligarchie geführt hat. Und man verschleiert die Tatsache, dass die Regierung die Macht der Finanzoligarchie und der Schlüsselinstitutionen des kapitalistischen Staates und des Militärs nicht angetastet hat, und dazu auch organisch unfähig ist.

Soweit es die Einschätzung der venezolanischen Mittelklasse betrifft, hat sie nichts mit dem Marxismus gemein und schließt den Sieg der sozialistischen Revolution praktisch in jedem Land aus. Die venezolanische Mittelklasse wandte sich nach rechts, weil die „Linken” ihr keinen Ausweg boten.

Wie Leo Trotzki in seinem Werk „Wohin geht Frankreich?” (1934) schreibt:

„Das Kleinbürgertum zeichnet sich durch seine wirtschaftliche Unselbständigkeit und soziale Ungleichförmigkeit aus. Seine oberen Schichten gehen unmittelbar in die Großbourgeoisie über. Die unteren Schichten verschmelzen mit dem Proletariat und sinken selbst in den Zustand des Lumpenproletariats hinab. Seiner wirtschaftlichen Lage entsprechend, kann das Kleinbürgertum keine eigene Politik haben. Stets wird es zwischen den Kapitalisten und den Arbeitern hin- und herschwanken. Seine eigene Oberschicht stößt es nach rechts; seine unteren, unterdrückten und ausgebeuteten Schichten vermögen unter gewissen Umständen schroff nach links zu schwenken.”

Spitzt die Krise sich zu, wie in Venezuela, und fehlt es an einer wirklich revolutionären Führung, dann, so Trotzki, „beginnt das Kleinbürgertum, die Geduld zu verlieren. Seine Haltung den eigenen Oberschichten gegenüber wird immer feindseliger, es überzeugt sich in der Tat von dem Unvermögen und der Treulosigkeit seiner politischen Führerschaft. …Eben dieser Enttäuschung des Kleinbürgertums, seiner Ungeduld, seiner Verzweiflung bedient sich der Faschismus. … Die Faschisten zeigen sich kühn, gehen auf die Straße, greifen die Polizei an, versuchen mit Gewalt das Parlament auseinanderzujagen. Das imponiert dem in Verzweiflung verfallenen Kleinbürger.”

In Venezuela hat neben der Arbeiterklasse auch die Mittelklasse einen starken Verfall ihrer Realeinkommen und ständige schmerzliche Einschnitte erlebt. Hinzu kam eine deutliche Verschlechterung staatlicher Dienstleistungen. Die Maduro-Regierung hat aber gegen die Kapitalisten, die sie ständig beschuldigt, einen „Wirtschaftskrieg” gegen sie zu führen, nichts unternommen.

Stattdessen bedient sie die Schulden Venezuelas bei der Wall Street in Höhe von Dutzenden Milliarden Dollar und lässt Chevron und andere kapitalistische Ölkonglomerate den venezolanischen Ölreichtum ausbeuten. Sie versorgt die Kapitalisten, d. h. die Oligarchen und ihre eigenen Unterstützer in der Boliburguesia, mit Dollars (angeblich für Importe) zu einem günstigen Kurs, die dann in profitable Währungsspekulationen und Schmuggelgeschäfte fließen. Beides treibt die Inflation hoch und verschärft den allgemeinen Mangel.

Die Regierung hat sich durch Entlassungen im öffentlichen Dienst inzwischen dem Wirtschaftskrieg gegen die Arbeiterklasse angeschlossen. Arbeiter, die sich dagegen zur Wehr setzen, bezeichnet sie als „Arbeitskriminelle”. Sie verteidigt diese reaktionäre Politik mit scheinlinken Worten, was sie nur noch verhasster macht.

Einige der Kritikpunkte an der WSWS-Perspektive scheinen ernsthafte Fragen über die komplexe politische Situation in Venezuela und den Charakter der Beziehung zwischen dem US-Imperialismus, der nationalen Bourgeoisie und der Maduro-Regierung anzusprechen. Andere vertreten eine fertige Perspektive, die man von etlichen pseudolinken Gruppen kennt, welche seit langer Zeit ihre Politik darauf ausrichten, die Arbeiterklasse konterrevolutionären Bürokratien, d.h. den Stalinisten und Gewerkschaften, und verschiedenen bürgerlich-nationalistischen Bewegungen unterzuordnen.

Zur letzteren Kategorie gehört „WVN”, der den Perspektiv-Artikel als „Sophisterei” und „leeres Gerede” bezeichnet, das ignoriere, dass „der US-Imperialismus allgegenwärtig ist. … Großartige Reden von satten Schreibtisch-Revolutionären werden ihn nicht beeindrucken.”

Weiter lesen wir von ihm: „Lateinamerikaner zeigen der Welt, wie eine Revolution aussieht …blutig, mit Rückschlägen, bei der viele wohlmeinende Kritiker, die weitab vom Geschehen sind, die Revolte, für die sie keine Opfer bringen, für ,tot‘ erklären.“ Seinen zweiten Brief beendet er mit: „Es lebe Fidel! Es leben Che, Hugo und die lateinamerikanischen Kämpfer.”

An dieser Politik ist nichts revolutionär, nicht einmal radikal. Diejenigen, die die reaktionäre Politik der Maduro-Regierung mit der Allmacht des US-Imperialismus entschuldigen, rechtfertigen damit auch Unterstützung für Obama.

Als Hugo Chavez im März 2013 starb, schrieben wir über diese pseudolinken Elemente, die im Chavismus einen neuen Weg zum Sozialismus sehen: „Sie fühlen sich zu Chavez‘ ,Sozialismus im 21. Jahrhundert’ hingezogen, weil sie die marxistische Ansicht ablehnen, dass eine sozialistische Umgestaltung nur durch den unabhängigen und bewussten Kampf der Arbeiterklasse für ein Ende des Kapitalismus und die eigene Machtübernahme erfolgen kann. Stattdessen unterstützen diese kleinbürgerlichen Elemente eine Politik, die von einem charismatischen Comandante von oben durchgesetzt wird, und durch die der Kapitalismus vor der Revolution gerettet werden soll.”

Abstrakte rhetorische Beschwörungen der „lateinamerikanischen Revolution” dienen nur dazu, die blutigen Lehren vergangener Kämpfe und den bitteren Preis zu verschleiern, den die Arbeiter Lateinamerikas für eine Politik kleinbürgerlicher Linker bezahlt haben, welche die Arbeiterklasse verschiedenen Varianten des bürgerlichen Nationalismus untergeordnet haben.

Sie schürten Illusionen in bürgerlich-nationalistische Offiziere, von Juan Peron in Argentinien bis General J. J. Torres in Bolivien und General Juan Francisco Velasco Alvarado in Peru, der wie Chavez Teilverstaatlichungen durchführte, antiimperialistische Reden schwang und bescheidene Sozialprogramme für die Armen durchführte. In jedem einzelnen Fall waren diese Regimes nur die Vorstufe zum Militärputsch und rechten Diktaturen, unter denen Zehntausende ermordet wurden.

Die gleichen Elemente priesen den „chilenischen Weg zum Sozialismus”, bei dem die Allende-Regierung mit Unterstützung der Kommunistischen Partei Chiles den revolutionären Aufschwung der chilenischen Arbeiter dem Kapitalismus unterordnete und ab 1973 die von den Arbeitern übernommenen Fabriken ihnen gewaltsam wieder entriss und die Generäle, auch Pinochet selbst, in sein Kabinett aufnahm, um die Repression besser zu koordinieren. Das Ergebnis waren 17 Jahre faschistischer Militärdiktatur.

Blutige Niederlagen in Lateinamerika in den 1970er Jahren wurden ebenfalls von denen vorbereitet, die „Viva Fidel!” und „Viva Che!” skandierten und den kleinbürgerlichen Guerillakampf als einen neuen Weg zum Sozialismus darstellten. Mit dieser rückwärts gewandten Perspektive wurden revolutionäre Elemente von den Arbeitern isoliert und in ungleiche bewaffnete Konfrontationen mit dem Staat geführt. Der Aufbau revolutionärer Arbeiterparteien wurde so verhindert.

Wir geben uns keinen Illusionen darüber hin, dass diese geschichtlichen Erfahrungen das Interesse derer finden, deren Politik darin besteht, bürgerliche Nationalisten hochzujubeln, die den Massen angeblich den „Sozialismus” bringen.

Ihr Denken ist von der Überzeugung geprägt, dass ein erfolgreicher revolutionärer Kampf der Arbeiterklasse, vor allem in den Vereinigten Staaten, unmöglich ist. Sie sind feindlich gegenüber denjenigen, die diesen Kampf durch die Entwicklung des Marxismus und den Aufbau unabhängiger revolutionärer Parteien der Arbeiterklasse vorbereiten.

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