Perspektive

Das Jahr 2015: Kein „Frieden auf Erden“

Auch in diesem Jahr standen bei vielen Menschen zu Weihnachten die Begriffe Toleranz und Brüderlichkeit ganz oben. Weltweit wurden Geschenke und Grußkarten ausgetauscht im aufrichtigen Bemühen, durch Freundlichkeit und menschliche Güte die Welt ein Stück weit aus dem Morast herauszuziehen, in dem sie steckt.

Diese ernstgemeinten Gefühle wurden natürlich von offizieller Seite nach Leibeskräften ausgenutzt. So wurde weltweit jeder Besucher eines Einkaufszentrums oder Flughafens mit Weihnachtsliedern berieselt, die „Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“ predigten, und jedermann wurde „fröhliche Weihnachten“ gewünscht.

Die Heuchelei im Dienste des Establishments läuft alljährlich während der Feiertage zu ihrer Höchstform auf, wenn aus Religion und grenzenlosem Kommerz der „Geist von Weihnachten“ geschöpft wird. Aber in Wirklichkeit waren selten zuvor so viele Menschen unglücklich wie heute. Der Geist der Toleranz und Güte kollidiert offensichtlich mit einer brutalen Realität.

Die Abwesenheit von „Friede auf Erden“ ist heute spürbarer als je zuvor in den siebzig Jahren seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens, vom Papst über den Prinzen von Jordanien bis hin zur Meinungsseite der New York Times, haben offen ausgesprochen, dass der dritte Weltkrieg schon begonnen habe.

Heute wimmelt es im Nahen Osten und in Nordafrika von amerikanischen Kampfflugzeugen und Drohnen, die die Menschen unterschiedslos töten und verstümmeln und Millionen Menschen aus ihren Häusern vertreiben. Presseberichten zufolge verbringt Präsident Obama seine freien Tage mit der Planung, wie die Bombenangriffe auf dicht bevölkerte Gebiete Syriens zu intensivieren seien. Dies wird die Zahl der zivilen Opfer zweifellos drastisch in die Höhe treiben.

Jede große Kriegspartei der ersten beiden Weltkriege befindet sich heute wieder auf dem Kriegspfad. Deutschland und Japan rüsten fieberhaft auf, um ihren Einfluss in Europa bzw. Asien auszuweiten.

Mit Stacheldraht und Gewehrschüssen begrüßen die Regierungen Hunderttausende Menschen, die vor Krieg und Armut flüchten. Mindestens fünf Millionen Menschen sind allein dieses Jahr aus ihren Häusern vertrieben worden. Eine Million davon hat in Europa Zuflucht gesucht. Ursache dieser Flucht sind die Kriege im Nahen Osten, die die Westmächte zurzeit systematisch anheizen.

Die gleichen Regierungen, die sich als Hort von Toleranz und Menschenrecht geben, reagieren auf die hilfsbedürftigen Menschenmassen mit der Schließung ihrer Außengrenzen und zwingen Hunderttausende, den Weg über die Ägäis zu nehmen. Mehr als dreitausend Menschen haben auf dieser Route nach Europa im vergangenen Jahr ihr Leben verloren. Eintausend davon waren Kinder.

Für einen bedeutenden Teil der Menschheit war dieses Weihnachten alles andere als „fröhlich“. Tatsächlich kann man sich kaum ein anderes Jahr denken, in dem es an Weihnachten weltweit so vielen Menschen so dreckig ging wie heute.

Millionen Menschen waren im Jahr 2015 so arm, dass ihnen das Glück versagt blieb, ihren Freunden und Lieben ein Weihnachtsgeschenk zu machen.

Und am schlimmsten war es im Zentrum der Weltfinanz, den Vereinigten Staaten, wo zwanzig Prozent der Kinder in Haushalten mit prekärer Lebensmittelversorgung leben. Hier müssen Millionen kämpfen, um das Geld für ein Mahl zusammenzukratzen. Bei allem Mediengerede über philanthropische Wohltätigkeit gibt es kaum eine gnadenlosere Gesellschaft als das heutige Amerika. In punkto Grausamkeit gegen die Armen kann es locker mit den Zeiten von Charles Dickens mithalten.

So passt es bestens zu „Weihnachten in Amerika“, wenn in Idaho eine Angestellte in einer Mittelschul-Cafeteria wegen „Diebstahls“ entlassen wurde, weil sie einem hungrigen Kind eine kostenlose Mahlzeit gegeben hatte. „Mein Herz tut mir weh“, sagte sie einem lokalen Radiosender. „Ich habe meinen Job wirklich gern gemacht, aber ich muss sagen, ich würde es wieder tun.“

In aller Welt versuchen Regierungen und Medien dem weit verbreiteten Mitgefühl entgegenzuwirken, indem sie Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit schüren, Gleichgültigkeit begünstigen und verschiedene Bevölkerungsteile gegeneinander aufwiegeln. In den USA ist der führende Präsidentschaftsbewerber der Republikaner, Donald Trump, ein offener Fanatiker. Er behauptet, Mexikaner seien Vergewaltiger, und fordert, dass man Muslimen die Einreise in die USA verwehren solle. Die Auswirkungen seiner Demagogie konnte man vor kurzem sehen, als das Außenministerium einer muslimischen Familie aus Großbritannien, die Disney World besuchen wollte, ohne Begründung verwehrte, das Flugzeug zu besteigen.

In Deutschland erklärt die angebliche Protagonistin der „Willkommenskultur“, Angela Merkel, „Multikulti“ sei gescheitert. In Frankreich sucht die regierende Sozialistische Partei einen permanenten Ausnahmezustand in der Verfassung zu verankern und ist verzweifelt bemüht, Doppelstaatsbürgern ihre französische Staatsbürgerschaft aberkennen zu können. Eine solche Maßnahme wurde in Frankreich zuletzt bei der Massendeportation der Juden unter dem Vichy-Regime praktiziert.

Wer die Weltereignisse 2015 verfolgt hat, wird von 2016 nichts anderes erwarten, als dass es ein Jahr beispielloser Gewalt und sozialen Elends werden wird. Aber die gleichen Prozesse, die die Welt an den Rand eines Weltkriegs treiben, werden auch die sozialen Kämpfe der Arbeiterklasse befeuern.

Anders als die professionellen Lügner und Meinungsmacher der Finanzelite und ihrer politischen Vertreter, nehmen die allermeisten arbeitenden Menschen auf der Welt das Ideal eines allgemeinen Friedens ernst und hoffen auf wahre Brüderlichkeit. Die Menschen erhoffen sich wirklich eine bessere Welt und sind bereit, sich dafür zu engagieren und dafür zu kämpfen. In der kommenden Periode werden Millionen zum Schluss kommen, dass „Friede auf Erden“ nur möglich ist, wenn die Arbeiterklasse den unabhängigen politischen Kampf aufnimmt, den Kapitalismus stürzt und die Gesellschaft nach den Kriterien des internationalen Sozialismus umgestaltet.

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