Eine wirkliche künstlerische „Avantgarde“ erfordert, sich den entscheidenden historischen Fragen zu stellen

Dieser Essay des Kunstredakteurs der WSWS, David Walsh, wird auch als Beitrag in den zweiten Band des von Marc James Léger edierten Werks „The Idea of the Avant Garde – And What It Means Today“ [Die Idee der Avantgarde – und was sie heute bedeutet] aufgenommen. Der erste Band erschien 2014 als Koproduktion der Kunstzeitschrift Left Curve und der Manchester University Press.

Beide Bände umfassen Aufsätze und Antworten zu dem im Titel genannten Thema. Sie untersuchen das Wesen der zeitgenössischen künstlerischen Avantgarde – wenn es sie denn gibt. Diese Frage war der Ausgangspunkt für David Walshs Beitrag.

Zuallererst muss man eine ganze Reihe von Fragen stellen und beantworten. Was ist die Geschichte der „Avantgarde“, und was zeichnet sie aus? Ist es heute überhaupt vertretbar, von einer Avantgarde zu sprechen? Wenn ja, in welcher Hinsicht? Wenn nein, was würde eine wirkliche Avantgarde ausmachen, und welche Aufgaben müsste sie sich stellen? Aus welchen intellektuellen Einflüssen müsste sie hervorgehen? Wie würde sie sich politisch und gesellschaftlich verorten?

Der Begriff einer künstlerischen „Avantgarde” geht auf Persönlichkeiten aus dem Umkreis der französischen utopischen Sozialisten Henri de St. Simon und Charles Fourier in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Der Begriff fasst die Kunst als Element auf, das den gesellschaftlichen Fortschritt fördert oder sogar eine führende Rolle dabei spielt.

1825 legte Olinde Rodrigues, ein enger Gesinnungsgenosse von St. Simon, einem Künstler das Argument in den Mund: „Wir, die Künstler, dienen als Avantgarde: Denn unter allen uns zur Verfügung stehenden Waffen greift die Macht der Künste am unmittelbarsten und schnellsten.“ Wenn die Künste „die allgemeine Entwicklung des menschlichen Geistes unterstützen“, betonte Rodrigues, „wenn sie der Sache der Allgemeinheit dienen und das allgemeine Wohlergehen fördern, indem sie der Menschheit nutzbringende Empfindungen vermitteln … dann wird sich ihnen unmittelbar eine ungeheuer ruhm- und erfolgreiche Zukunft eröffnen“.

Die Kunsthistorikerin Linda Nochlin bemerkt in ihrer Schrift über Gustave Courbet, „eines überzeugten Anhängers des Sozialismus“, dass sein Bild Das Atelier des Künstlers (1855) „avantgardistisch“ sei, „wenn wir diesen Ausdruck in seinem etymologischen Ursprung als Einheit eines sozialen und künstlerischen Fortschritts verstehen“.

In der Tat war der Begriff der Avantgarde in Bezug auf Kunstwerke mit der Entstehung der sozialistischen Bewegung verbunden.

Die Beziehung zwischen Sozialismus und „fortschrittlicher” Kunst, wie sie sich im Verlauf des 19. und im 20. Jahrhundert entwickelte, ist jedoch äußerst komplex und lässt sich nicht in einfache Formeln fassen. Sie lässt sich nur durch eine konkrete historische Untersuchung verstehen.

Zunächst einmal ist die „Avantgarde” selbst keine überhistorische Einheit, deren Fackel aus den Händen einer Generation in die der nächsten übergeht. Allgemein gesagt, ist die Avantgarde das anfängliche rebellische Moment einer jeden bedeutenden künstlerischen Richtung.

Wie Leo Trotzki erklärte, formierte sich in der Epoche, in der die Bourgeoisie noch eine allgemein progressive historische Rolle spielte, jede neue Kunstrichtung „vom linken Flügel der legalisierten Schule her oder von unten, d.h. aus den Reihen einer neuen Generation der schöpferischen Bohème“. Jede der aufeinanderfolgenden Kunstströmungen (Klassizismus, Romantik, Realismus, Naturalismus, Symbolismus, Impressionismus) brach sich stürmisch Bahn, nur um „ihrerseits nach einer bestimmten Zeit die Stufen der Akademie“ emporzusteigen .

Das weite Spektrum dessen, was als Avantgarde bekannt wurde, geht auf die Jahre von 1848 bis 1914 zurück. Die Haltung zu sozialen Fragen war sehr unterschiedlich: Es gab Richtungen, deren Mitglieder allgemein mit dem Sozialismus oder Anarchismus sympathisierten, andere waren sozialen Fragen gegenüber gleichgültig, wieder andere neigten zur Mystik oder waren dekadent, und einige hatten ausgesprochen reaktionäre politische Ansichten.

Die führenden Marxisten waren der Auffassung, dass Kunst und Kultur unabdingbar für die intellektuelle und geistige Entwicklung der Arbeiterklasse seien, um sich auf die Höhe ihrer historischen Aufgabe, den Sturz des Kapitalismus, zu erheben. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) die erste Arbeitermassenpartei, organisierte eine Vielzahl kultureller Einrichtungen, Musik- und Literaturabende, Konzerte und Aufführungen. Die anderen sozialistischen Parteien in Europa folgten ihr darin mehr oder weniger nach.

1916 gratulierte Rosa Luxemburg ihrem Genossen, dem marxistischen Journalisten, Historiker und Literaturkritiker Franz Mehring: „Sie haben aus dem Lager der Bourgeoisie gerettet und zu uns ins Lager der Enterbten gebracht, was an goldenen Schätzen der einstigen geistigen Kultur der Bourgeoisie übriggeblieben war.“ Mehring hatte den deutschen Arbeitern nicht nur die klassische deutsche Philosophie (Kant und Hegel) nahegebracht, sondern sie, wie Luxemburg schrieb, „auch mit der klassischen Dichtung, mit Lessing, Schiller und Goethe … verknüpft. Sie lehrten unsere Arbeiter durch jede Zeile aus ihrer wunderbaren Feder, dass der Sozialismus nicht eine Messer-und-Gabel-Frage, sondern eine Kulturbewegung, eine große und stolze Weltanschauung sei.“

Persönlichkeiten wie Mehring und Georgi Plechanow, der Vater des russischen Marxismus, bemühten sich, wie auch Lenin, Luxemburg und Trotzki, das kollektive Denken und Fühlen der Arbeiter sowohl durch die Einführung in die bedeutende Kunst und Literatur der Vergangenheit, als auch durch die Analyse zeitgenössischer Strömungen auf eine höhere Stufe zu heben. In diesem Zusammenhang pflegten sie auch einen ständigen Dialog – direkt oder indirekt – mit den fortschrittlichsten Künstlern selbst.

Jedenfalls konnte keine kulturelle Persönlichkeit von Bedeutung, welche politische Haltung er oder sie auch immer einnahm, das Auftreten der Arbeiterklasse auf der historischen Bühne oder die Existenz sozialistischer Massenparteien ignorieren. Das brachten nicht einmal so erklärte Ästheten wie Oscar Wilde und Stéphane Mallarmé fertig. Wilde war bekanntlich der Verfasser des aufschlussreichen Essays Die Seele des Menschen unter dem Sozialismus (1891), und Mallarmé erkannte in einem Artikel von 1876 über den Impressionismus die Existenz der Arbeiterklasse an als ein „bis dato im politischen Leben Frankreichs ignoriertes Volk“, dessen Teilhabe an diesem Prozess „eine gesellschaftliche Tatsache ist, die das gesamte Ende des 19. Jahrhunderts auszeichnen wird“.

Plechanows Werk Die Kunst und das gesellschaftliche Leben (1912) ist ein meisterhafter Diskurs über wichtige kulturelle Fragen. Dieser Essay und andere Werke, wie Die literarischen Arbeiten W. G. Belinskis, Die proletarische Bewegung und die bürgerliche Kunst, Henrik Ibsen, Zur Psychologie der Arbeiterbewegung und Die Ideologie unserer zeitgenössischen Philister, sind der Mehrheit unserer „linken“ Künstler und Intellektuellen – sehr zu ihrem Nachteil – heute unbekannt.

Georgi W. Plechanow

In Kunst und das gesellschaftliche Leben analysiert Plechanow die Debatte zwischen Befürwortern einer „Kunst um der Kunst willen“ und jenen, die die Ansicht von einem sogenannten gesellschaftlichen Nutzen der Kunst vertreten. Er diskutiert diese Frage sehr objektiv und sensibel anhand von Persönlichkeiten wie Puschkin, Théophile Gautier, Turgenew, Baudelaire, Jacques-Louis David, Flaubert. Dabei entwirft Plechanow ein lebendiges Bild der konkreten historischen und gesellschaftlichen Widersprüche, die die Haltung des betreffenden Autors oder Künstlers (oder einer Periode seines Schaffens) zur jeweiligen Gesellschaft bestimmen und den Zweck – oder auch die Zwecklosigkeit – ihrer Kunst bedingen.

Plechanow greift zum Beispiel die Entwicklung Baudelaires auf, der später zum Inbegriff der „Dekadenz” und gesellschaftlichen Indifferenz wurde, und erklärt: „Als das erfrischende Gewitter der Februarrevolution des Jahre 1848 losbrach, lehnten sehr viele französische Künstler die Theorie der Kunst für die Kunst, der sie gehuldigt hatten, entschieden ab.“ Baudelaire begann sofort (mit keinem geringeren als Courbet zusammen), eine revolutionäre Zeitschrift namens Le salut public herauszugeben. Die Zeitschrift wurde bald unterdrückt, aber, so betont Plechanow: „Noch 1852 nannte Baudelaire … die Kunst für die Kunst kindisch (puérile) und verkündete, die Kunst habe gesellschaftlichen Zielen zu dienen. Erst der Sieg der Konterrevolution brachte Baudelaire und andere Künstler, die ihm in ihrer Eistellung nahestanden, zu der ‘kindischen’ Theorie der Kunst für die Kunst zurück.“

In Die Kunst und das gesellschaftliche Leben greift Plechanow auch Behauptungen von Autoren wie Gautier auf, dass die Schönheit eines Kunstwerks vor allem in ihrer Musik, ihrem Rhythmus, ihrer Form liege. Er betonte, es gebe „kein ideenloses Werk”, und dass der „Wert eines künstlerischen Werkes letzten Endes vom spezifische Gewicht seines Inhalts bestimmt wird“. Auch meint Plechanow, nicht jede Idee könne erfolgreich in einem Kunstwerk ausgedrückt werden („Warum kann ein Geizhals nicht den Verlust seines Geldes besingen? Ganz einfach: Weil sein Lied, mit dem er den Verlust seines Geldes besingen wollte, niemanden rühren würde“). Und wenn eine „verlogene Idee dem Kunstwerk zugrunde gelegt wird, trägt sie in dieses Kunstwerk eben solche inneren Widersprüche hinein, unter denen sein ästhetischer Wert leidet“ .

Diese historisch materialistischen Bemerkungen standen sehr stark im Widerspruch zu den Positionen Nietzsches und des Irrationalismus, die in den Künstlerkreisen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stark um sich griffen.

Die Oktoberrevolution und der Aufstieg des Stalinismus

Mit dem Sieg der Oktoberrevolution von 1917, dem größten Ereignis in der jüngeren Zeitgeschichte, und dem Aufbau des ersten Arbeiterstaats entstand eine neue Situation. In der Machteroberung der Arbeiterklasse in Russland, die die sozialen Grundsätze von Solidarität und Gleichheit verwirklichen sollte, sahen die Bolschewiki das erste Stadium der Weltrevolution. Das hatte einen gewaltigen Einfluss auf das kulturelle Leben. So schrieb Edmund Wilson in seinem Buch Auf dem Weg zum Finnischen Bahnhof (1940) über Lenins Ankunft in Russland im April 1917 und die darauf folgenden Ereignisse: „Entscheidend ist, dass der Mensch des Abendlandes einen wesentlichen Fortschritt in der Herrschaft über die Begierden, Ängste und Irrungen, in denen er zuvor lebte, gemacht hat.“

Das Zusammenwirken fortschrittlicher Politik und fortschrittlicher Kunst erreichte nach der Russischen Revolution einen Höhepunkt. In vielen Teilen der Welt ließen sich Künstler durch das welterschütternde Ereignis der Oktoberrevolution inspirieren. Unter Lenin und Trotzki konnten die Bolschewiki für die Sache der sozialistischen Revolution auf die talentiertesten und opferbereitesten Künstler in Russland zählen. Wladimir Tatlin, der das „Denkmal für die Dritte Internationale“ (1919–1920) entwarf, erklärte: „Eine Revolution stärkt den Impuls der Erfindung.“

Wladimir Tatlins „Denkmal für die Dritte Internationale“

Trotzki schrieb in Verratene Revolution (1936): Als die Arbeiterregierung „sich noch auf eine begeisterte Massenbasis stützen konnte, und noch die Perspektive der Weltrevolution vor Augen hatte, fürchtete sie weder die Experimente noch das Suchen und die Kämpfe der Schulen, denn sie begriff, dass nur auf diesem Weg die neue Kulturepoche vorbereitet werden kann. Die Volksmassen bebten noch in all ihren Fasern und begannen, zum ersten Mal nach tausend Jahren, laut zu denken. Die besten jungen Kräfte der Kunst waren in ihrer Gesamtheit von Leben erfüllt.“

Das Aufkommen des Stalinismus und die bürokratische Degeneration der Sowjetunion und der verschiedenen kommunistischen Parteien hatten auch für das künstlerische und kulturelle Leben unabsehbare Konsequenzen.

1938 wies Trotzki darauf hin, dass die Kunst als der „empfindlichste und verwundbarste Teil der Kultur … ganz besonders unter dem Niedergang der bürgerlichen Gesellschaft“ leide. Die Geschichte habe den Künstlern auf ihrem Weg in Form des stalinistischen Sowjetregimes und den ihn hörigen Parteien „eine kolossale Falle gestellt“. Eine ganze Generation der „linken Intelligenz“ habe in vielen Fällen „ihre Augen nach Osten gewandt“ und „versucht, ihren Herren zu wechseln. Hat sie viel dabei gewonnen?“

Diego Rivera, Leo Trotzki und André Breton (von links nach rechts)

Trotzki, André Breton und Diego Rivera boten mit ihrem Manifest für eine unabhängige revolutionäre Kunst (1938) eine Alternative zur offiziellen, unterwürfigen „Linksorientierung“ an. Darin betonten sie: „Unter dem Einfluss des totalitären Regimes der UdSSR und durch die Vermittlung der sogenannten ‘kulturellen’ Organe, die sie in anderen Ländern kontrolliert, hat sich ein tiefer Dämmer über die ganze Welt gelegt, der der Hervorbringung jeder Art von geistigen Werken feind ist.“

In dem Manifest erklären sie weiter: „Aus allem, was bisher gesagt wurde, geht klar hervor, dass wir mit der Freiheit künstlerischen Schaffens keinesfalls die politische Indifferenz zu rechtfertigen wünschen, und dass es uns fern liegt, eine sogenannte ‘reine’ Kunst wieder zum Leben erwecken zu wollen, die für gewöhnlich den unreinsten Zwecken der Reaktion dient. Nein, wir haben eine zu hohe Vorstellung von der Funktion der Kunst, um ihr einen Einfluss auf das Schicksal der Gesellschaft zu verweigern. Wir halten es für die höchste Aufgabe der Kunst unserer Zeit, bewusst und aktiv an der Vorbereitung der Revolution teilzunehmen.“

Mit welch enormen Problemen sich die Vertreter der revolutionären Strömung herumschlagen mussten, beweist die Tatsache, dass die Gründung einer Internationalen Föderation unabhängiger revolutionärer Kunst, zu der das Manifest aufrief, nicht zustande kam. Sie fiel den heftigen Anfeindungen des stalinistischen Apparats, dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und der Ermordung Leo Trotzkis zum Opfer.

Mit der Machtübernahme Hitlers, den monströsen Moskauer Prozessen und dem Verrat und der Niederlage der Spanischen Revolution begannen viele Künstler und Intellektuelle die Aussichten für den Sozialismus in Frage zu stellen und an der revolutionären Fähigkeit der Arbeiterklasse zu zweifeln. Eine ständig wachsende Zahl unter ihnen fand es problematisch oder gar irrelevant, eine Verantwortung der Kunst für mehr Sensibilität und Wahrnehmung in der breiten Bevölkerung zu sehen.

1939 konnte daher Clement Greenberg, ein späterer Sympathisant der Workers Party von Max Shachtman, in einem Beitrag für die Zeitschrift Partisan Review mit dem Titel „Avantgarde und Kitsch“ erklären, dass Dichter und Künstler der „Avantgarde“ ihre „wichtigste Inspiration aus dem Medium selbst beziehen, in dem sie tätig sind. Ihre Kunst begeistert offensichtlich vor allem dadurch, dass sie sich ausschließlich mit der Erfindung und dem Arrangement von Räumen, Flächen Formen, Farben usw. beschäftigt und alles weglässt, was nicht zu diesen Faktoren gehört.“ Ein solcher Prozess, meint Greenberg, „erfordert weder Zustimmung noch Ablehnung“.

Diese beschränkte und snobistische Haltung, die die Idee der "Avantgarde" aushöhlt und sie letztlich von jeglicher Verbindung mit dem Sozialismus und der Arbeiterklasse loslöst, ist eine Reaktion auf große und tragische politische Ereignisse. Erschrockene und demoralisierte Intellektuelle wie Greenberg, von denen es sehr viele gab, waren vom Verlauf des Klassenkampfs zunehmend enttäuscht.

Die Shachtman-Gruppe brach 1940 mit dem Trotzkismus. Sie lehnte die Definition der Sowjetunion als degenerierter Arbeiterstaat ab (sie bezeichnete sie stattdessen als eine Art „bürokratischen Kollektivismus“) und weigerte sich, die UdSSR im imperialistischen Krieg zu verteidigen. Diese Gruppe brachte den Pessimismus von Teilen der kleinbürgerlichen Intellektuellen zum Ausdruck, die am Vorabend des Zweiten Weltkriegs hastig alle Verbindungen zur Oktoberrevolution kappten.

Auch die antimarxistische Frankfurter Schule spielte eine Schlüsselrolle, den Begriff „Avantgarde“ zu verfälschen. Diese Schule verdankte ihren Aufstieg hauptsächlich der massenhaften Vernichtung einer Generation wirklicher Marxisten durch den Stalinismus. Ein „linker“ Schüler des reaktionären, irrationalistischen Philosophen Heidegger, Herbert Marcuse [Der eindimensionale Mensch], verwarf die Auffassung, ein Künstler sei fähig, die Welt zu erkennen und ein Publikum durch die Rationalität und Wahrheit seiner Werke zu beeinflussen. Wie sollte auch eine Schule, die keinerlei objektive Bedingungen als Grundlage und Impuls für sozialistisches Bewusstsein anerkennt, sich mit der Erforschung „unseres dreidimensionalen Lebens“ abgeben?

Die „authentische Avantgarde”, schrieb Marcuse, bestehe aus Künstlern, die „eine radikale Veränderung in Stil und Technik“ schaffen. Er behauptete, die Kunst errichte ein entferntes Reich bestehend aus der „ästhetischen Form“. Dieses repräsentiere und kritisiere die „Unfreiheit des Bestehenden“ und ermutige so das Individuum, sich seine oder ihre eigene psychische Befreiung vorzustellen. So gibt Marcuse auf seine Art wieder, was auch Greenberg behauptet. Er sagt, im Kunstwerk selbst, „in seinem eigenen (ästhetischen) Bereich … liegt ihr politisches Potential“.

In seiner Auseinandersetzung mit Theodor Adorno stellt Peter Bürger zu dieser Tatsache recht nüchtern fest, dass diese Leitfigur der Frankfurter Schule nicht nur „den Spätkapitalismus als definitiv stabilisiert“ ansehe, „sondern auch die in den Sozialismus gesetzten Hoffnungen als durch historische Erfahrung widerlegt“. Marcuse verstehe „die avantgardistische Kunst als radikalen, jeder falschen Versöhnung mit dem Bestehenden sich widersetzenden Protest und damit als historisch einzig legitime Kunstform“. Mit anderen Worten, fortschrittliche Kunst wird hier zu einer Geste des individuellen ästhetischen Protests gegen eine hässliche, erbärmliche und im Wesentlichen nicht veränderbare Welt.

In den letzten Jahrzehnten ist jeder Zusammenhang zwischen der Avantgarde in der Kunst und revolutionärer oder radikaler Politik weitgehend verschwunden, ausgenommen die Aktivitäten einiger weniger isolierter Gruppierungen. „Avantgardistische Kunst“ wird gegenwärtig meist als rein formale Kategorie gebraucht und hat jegliche aussagekräftige Bedeutung verloren.

Jede „Theorie der Avantgarde”, die die konkrete politische Dynamik des 20. Jahrhunderts ignoriert, ist wertlos. Ernsthafte Kunst ist im Verschwinden begriffen, und nicht nur wegen der besonderen Umstände der bürgerlichen Nachkriegsgesellschaft oder der angeblich unendlichen Anpassungsfähigkeit des „Spätkapitalismus“, und auch nicht, weil die Kunst eine Art „affirmativer“ bürgerlicher Institution geworden wäre, sondern weil sie Bestandteil eines allgemeinen temporären kulturellen Niedergangs ist. Dessen Ursache liegt in den historischen Niederlagen, die die Arbeiterklasse infolge der Politik bestimmter Parteien und Strömungen (vor allem des Stalinismus und der Sozialdemokratie) erlitten hat.

Diese lange Periode der Reaktion und Stagnation resultierte aus dem Verrat revolutionärer Möglichkeiten und ging mit der Vorherrschaft nationaler, reaktionärer Bürokratien in der Arbeiterbewegung einher. Sie hat die Künstler und das künstlerische Leben niedergedrückt und geschwächt.

Kunst kann sich nicht selbst retten

Aus dem bisher Gesagten folgt, dass die Kunst sich nicht selbst retten kann. Der Messianismus diverser Gruppen ist daher unangemessen und kontraproduktiv. Kunst kann die Krise revolutionärer Führung und Perspektiven in der Arbeiterklasse nicht überwinden oder irgendwie umgehen. Dies ist eine politische, revolutionäre Aufgabe.

Kunst kann aber auf mächtige und einzigartige Weise dazu beitragen, die gesellschaftliche Realität und die menschliche Psychologie tiefer und umfassender zu begreifen und die Mystifikation der bürgerlichen Gesellschaftsverhältnisse zu durchdringen. Sie kann auf ihre Weise existierende Wertvorstellungen und Institutionen untergraben und Empörung und Wut im Volk entfachen.

Kunst kann als Spiegel dienen, durch den die Bevölkerung ihre Unzulänglichkeiten, ihre Illusionen und Dummheiten erkennt, sogar ihre Grausamkeiten. Sie ist „ein lebendiger Spiegel“, natürlich mit spezifischen und äußerst komplexen Eigenschaften. All dies spielt eine unersetzliche Rolle für ein gesellschaftliches Klima, in dem eine soziale Revolution denkbar und realisierbar wird.

Kulturelle Fragen sind auch heute, was sie in der Moderne immer waren, äußerst explosive politische Fragen. Jedes bedeutende Kunstwerk hat soziale Konsequenzen. Die herrschenden Eliten sind diesbezüglich höchst empfindlich. Es ist eine Frage auf Leben und Tod für sie, die Bevölkerung zu betäuben und zu paralysieren. Schriftsteller, Filmemacher, Maler, Dichter und Komponisten können eingesperrt oder erschossen werden, wenn ihre Werke den Status quo in Frage stellen.

Der Begriff „Avantgarde” assoziiert einen kämpferischen Zusammenhang. Das Wort tauchte aus diesem Grunde Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts im Titel vieler sozialistischer und linker Schriften auf. Aber in der Kunstwelt von heute ist von diesem Kampfgeist wenig oder nichts geblieben. Inwiefern befinden sich heute Künstler in vorderster Linie beim Kampf gegen einen neuen Weltkrieg, gegen Armut und Arbeitslosigkeit, gegen Polizeigewalt, gegen die Gefahr einer Polizeidiktatur? Diese Frage erfordert wohl kaum eine Antwort.

Meiner Ansicht nach muss die Idee einer künstlerischen Avantgarde zu allererst mit einer entschlossenen, kompromisslosen Haltung gegen die existierende Gesellschaftsordnung verknüpft sein, wenn sie heute irgendeine konkrete Bedeutung haben soll.

Vieles, was ich in Galerien oder Ausstellungen sehe und was sich als „Avantgarde“ darstellt oder dargestellt wird, ist recht unbefriedigend. Auch die sogenannte experimentelle Filmkunst ist armselig. Bestenfalls ist es der Versuch, Schockeffekte zu erzielen – was selbst auf eine Art Konformismus hinausläuft – oder technisch innovativ mit Materialien und Bildern zu arbeiten.

Etliche „radikale” Künstler arbeiten offenbar unter dem Einfluss verzerrter oder einseitiger Interpretationen des „Verfremdungseffekts“ von Bertolt Brecht, oder sie stehen unter dem Eindruck von Ansichten wie der von Adorno, dass nur unzugängliche Kunst heute Wert habe. Manchmal trifft auch beides zu. Vieles lässt einen kalt und berührt nicht, es ist abstrakt und weit von den großen Problemen und Fragen des modernen gesellschaftlichen Lebens entfernt.

Außerdem sind viele Werke, die heute als avantgardistisch bezeichnet werden, mit Identitätspolitik verbunden. Sie zeichnet dieselbe egozentrische und immer hysterischere Besessenheit von Gender, Sexualität und Hautfarbe aus, die große Teile der oberen Mittelschichten umtreibt.

Gewisse „radikale” Künstler lassen sich lang und breit darüber aus, dass Kunstmuseen und andere Einrichtungen des Establishments von großen Firmen finanziert werden -- und eben auch als solche funktionieren! Das ist nicht unwichtig, läuft aber bestenfalls auf eine Aneinanderreihung von Binsenwahrheiten hinaus. Bleibende Kunst dagegen muss das Leben zum Inhalt haben.

Jede neue Kunstströmung beginnt mit einer Rebellion. Es gibt keinen Grund, das heute herrschende Vorurteil zu akzeptieren, fortschrittliche Kunst sei notwendigerweise dadurch bestimmt, dass besondere formale Qualitäten vorhanden seien oder fehlten. Meiner Ansicht nach wäre es besser, Kunst heute danach zu beurteilen, welche Haltung sie zur existierenden Sozialordnung und der leidenden, kämpfenden Menschheit einnimmt.

In diesem Sinne, und entgegen der Formulierung von Walter Benjamin 1934 -- „dass die Tendenz einer Dichtung politisch nur stimmen kann, wenn sie auch literarisch stimmt“ – oder der Auffassung anderer Autoren, kann man unter den gegenwärtigen Bedingungen sicherlich ganz unterschiedliche künstlerische Konzepte als „Avantgarde“ anerkennen, solange sie nur frisch und aufrüttelnd sind und danach streben, wesentliche Wahrheiten zu erforschen und darzustellen. Wir müssen beginnen, die gegenwärtige Lage zu ändern.

Natürlich soll dies nicht der Gleichgültigkeit gegenüber künstlerischer Form Tür und Tor öffnen. Es gibt Konzepte und Methoden, die durch die historische Entwicklung der Kunst überholt oder diskreditiert sind. Ein Rückgriff auf langweiligen photographischen Naturalismus und passiven Realismus, oder gar verträumten Mystizismus, bombastische Gefühlsbetonung oder Auf-die-Träne-drücken werden keine glücklichen Resultate zeitigen.

Egal was andere tun mögen, uns Marxisten bringt es nicht in Verlegenheit, wirklich fortschrittliche Künstler auch als solche zu bezeichnen.

Kunst entsteht aus dem Protest, aber gegen was? Realismus ist keine Frage des Stils oder einer Schule, er tritt in unzähligen Formen auf, aber er muss sich unbedingt und furchtlos mit dem Leben und der Welt auseinandersetzen. Jede Form des Realismus wird heute noch verleumdet, weil er durch die Assoziation mit dem stalinistischen „sozialistischen Realismus“ belastet ist. Dieser bedeutete jedoch, sowohl den Sozialismus und Realismus als auch die gesamte marxistische Überlieferung systematisch und vehement zurückzuweisen.

Wir sprechen von historischem, psychologischem Realismus, von der Fähigkeit, die Zeitumstände – durch welche künstlerischen Mittel auch immer – zu erfassen und aufzudecken und den Dingen auf den Grund zu gehen. So viele Phänomene haben überhaupt noch keinen Ausdruck gefunden oder höchstens auf recht inadäquate Weise. Seit Jahrzehnten gibt es keinen Film, kein Theaterstück und keine Kunstausstellung, die das Publikum wirklich zutiefst erschüttern kann – oder den Betrachter von ganzem Herzen zum Lachen bringt.

Was ist heute wirklich nötig? Wenn man die gegenwärtige Lage betrachtet, fallen bestimmte Dinge ins Auge. Seit fast fünfzehn Jahren erleben wir ununterbrochen den „globalen Krieg gegen den Terror“, der als Vorwand dient, die Freiheit zu beschneiden, politischen Widerstand zu unterdrücken und autoritäre Herrschaftsformen zu entwickeln. Aber auf dem Gebiet der Literatur, des Films, des Schauspiels oder in irgendeinem anderen Medium ist noch sehr wenig Substantielles oder wirklich Welthistorisches entstanden, das diesen enormen Ereignissen gerecht würde. Man muss nur einmal den Vergleich mit Werken ziehen, die in der Auseinandersetzung mit dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg, oder auch nur dem Korea- und Vietnamkrieg entstanden sind.

Auch die schwindelerregende, beispiellose Anhäufung von Reichtum eines winzigen Teils der Gesellschaft wurde bisher nur in höchst oberflächlicher, wenig ernsthafter Weise behandelt. Die Arbeiterklasse als Gegenstand künstlerischer Arbeit ist so gut wie verschwunden. Das gilt nicht nur für Nord- und Südamerika, sondern auch für Europa und Asien. Dennoch schreitet die Proletarisierung der Weltbevölkerung rasch voran. Wie ist dieses Versäumnis, diese bewusste Ignoranz einzuordnen?

Wo bleibt der beißende Spott über diese Gesellschaft, die bei lebendigem Leibe verfault, über die Schweinereien ihrer Eliten, ihre abstoßenden Wahlkämpfe und ignoranten Kandidaten, ihre verkommenen, betrügerischen Unternehmensmilliardäre und Spekulanten und den ganzen Schmutz, der an die Oberfläche gespült wird und das tägliche Leben beherrscht.

Wer immer das heutige Leben ernsthaft darstellen will, muss zunächst – und als Voraussetzung – die haarsträubende offizielle Ideologie kritisch ins Auge fassen, die auch und gerade bei linken Kleinbürgern vorherrscht. Sie dreht sich um Gender, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, Umweltfragen und alles, was damit zusammenhängt. Es ist das selbstsüchtige Gehabe der fünf oder sechs reichsten Prozent der Bevölkerung. Zu den vielen Themen, die dringend satirisch aufgespießt werden müssen, gehört auch die amerikanische und (globale) „linke“ Pseudointelligenz. In der Welt der Kunst und der Wissenschaft wimmelt es nur so von solchen Leuten.

In diesen Kreisen trifft man auf schlimmsten Konformismus und Konservatismus und häufig eine erbitterte Feindschaft gegenüber der Arbeiterklasse. „Avantgarde“? In Wirklichkeit ist es wohl eher die Nachhut der bürgerlichen Selbstgefälligkeit.

Wenn Künstler etwas zum Guten ändern wollen, sollten sie zunächst weniger Aufmerksamkeit auf sich selbst und ihre unmittelbare Umgebung richten. Man muss es ihnen einmal sagen: So interessant seid ihr wirklich nicht!

Zu den größten Problemen gehört heute, dass „Avantgarde-Künstler“ weitgehend mit recycelten Ideen arbeiten, die andere, ernsthafte Künstler und Intellektuelle längst durchschaut und abgelegt haben. Darin liegt viel Überheblichkeit. Wörter und Sätze werden herumgeschleudert, und ein unverständlicher Jargon ist zum Standard geworden. Namhafte Künstler wussten früher um den Unterschied zwischen Effekthascherei, künstlich herbeigeführten „Kontroversen“ und einer kritischeren Haltung, die immer auch die genauere Betrachtung der sozioökonomischen Grundlagen der Gesellschaft beinhaltet.

In Kunstkreisen herrschen vielfach Oberflächlichkeit und Eklektizismus. Da geht es meist um Cliquen und „Berühmtheiten“, Persönlichkeiten und ihre „Karrieren“ und vielleicht auch um Fördergelder aus der Wirtschaft oder staatliche Auszeichnungen. Dagegen spielen Künstler und Kunstakademien, die Bedeutendes und Bahnbrechendes schaffen und der Wahrheit verpflichtet sind, kaum eine Rolle.

Ist unsere Künstlergeneration etwa weniger begabt und engagiert als ihre Vorgänger? Das wäre möglich, doch auch gesellschaftliche und historische Umstände bringen Talent und Engagement hervor. Künstlerische Größe kommt nicht aus der „wüsten Tiefe“, wie einmal Shakespeare bemerkt haben soll, oder aus reiner Willenskraft und geistiger Anstrengung.

Die gegenwärtige Krise des Kulturlebens ist nur zu begreifen, wenn man die entscheidenden Erfahrungen des 20. Jahrhunderts genau studiert. Diese Erfahrungen prägen die soziale und psychologische Realität bis auf den heutigen Tag.

In „linken” Künstlerkreisen trifft man vielfach auch Anspielungen auf Marx, die russische Revolution oder auf den Stalinismus, aber oft werden Namen und Strömungen willkürlich und fahrlässig durcheinandergeworfen (oder schlimmer) und aus dem Zusammenhang gerissen, ohne ernsthaft die Erfahrungen zu studieren, mit denen sie verbunden sind.

Trotzki

In der „linken” Literatur über Ästhetik wird Trotzki, der größte Revolutionär des Jahrhunderts, selten und höchstens beiläufig erwähnt. Diverse Kommentatoren ignorieren geflissentlich Werke wie Literatur und Revolution, Literaturtheorie und Literaturkritik [mit dem darin enthaltenen Aufsatz Kunst und Revolution], Probleme des Alltagslebens und andere Schriften, obwohl diese Werke unverzichtbare Einsichten in die Probleme der heutigen Kultur enthalten.

Leo Trotzki

Trotzkis Ideen rufen immer noch feindliche Reaktionen bei jenen hervor, die sich überhaupt mit ihm befassen. Bei allem Respekt muss man den Ansichten von Boris Groys, einem Autor des ersten Bands von The Idea of the Avant Garde, ernsthaft widersprechen. In seinem morbiden Essay „On Art Activism” [Über Aktivismus in der Kunst], der an anderer Stelle veröffentlicht wurde, wettert der in Berlin geborene Akademiker vor allem gegen den Begriff des „Fortschritts, der lediglich Schutt, Ruinen und persönliche Katastrophen“ hinterlasse. „Die Ideologie des Fortschritts“, schreibt er, sei „trügerisch und absurd“.

Groys fährt fort: „Traditionell assoziieren wir Kunst mit Fortschritt und Perfektion … Moderne und Gegenwartskunst will die Dinge jedoch nicht verbessern, sondern verschlimmern – und zwar nicht relativ, sondern radikal verschlimmern: Dysfunktionale Dinge aus funktionalen machen, um die Erwartungen zu enttäuschen, um die unsichtbare Gegenwart des Todes zu enthüllen, wo wir dazu neigen, nur das Leben zu sehen.“

Schließlich geht er auch auf Trotzki ein, dessen revolutionären Optimismus er für völlig abwegig hält. Er charakterisiert ihn als einen jener „linken und sozialistischen Theoretiker, die dem Bann einer – individuellen oder kollektiven – Vorwärtsentwicklung verhaftet sind“. Groys zitiert den zu Recht berühmten letzten Absatz von Literatur und Revolution: „Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner sein, sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird musikalischer werden … Der durchschnittliche Menschtyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über dieser Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.“

Dieser bemerkenswerte Abschnitt, der Generationen von Revolutionären inspiriert hat, erschreckt den trübseligen Groys nur und ekelt ihn an. „Vor diesem künstlerischen, gesellschaftlichen und politischen Alpinismus … versucht uns die Gegenwartskunst gerade zu retten. Die moderne Kunst richtet sich gegen das von der Natur Vorgegebene. Sie entwickelt nicht das ‘menschliche Potential‘, sondern negiert es. Sie arbeitet nicht an der Ausdehnung, sondern an der Reduktion. In der Tat ist eine wirkliche politische Transformation nicht durch die gleiche Logik der Begabung, der Anstrengungen und des Wettbewerbs zu erreichen, auf die sich die derzeitige Marktwirtschaft gründet, sondern allein durch Metanoia [Prozess des psychotischen Zusammenbruchs, der einen psychischen Heilungsprozess auslöst] und Kenosis [theologischer Begriff der „Entäußerung“ vom eigenen Willen, um Gottes Willen zu empfangen] durch eine Abkehr von der Fortschrittsbewegung, eine Kehrtwende gegen den Druck des Aufwärtstrends. Nur auf diese Weise können wir dem Druck der eigenen Begabungen und Talente entfliehen, die uns versklaven, indem sie uns dazu drängen, einen Berg nach dem andern zu erklimmen. Nur wenn wir lernen, den Mangel an Begabung ebenso zu ästhetisieren wie ihr Vorhandensein, und so nicht zwischen Sieg und Misserfolg unterscheiden, entkommen wir der theoretischen Blockade, die den Aktivismus der Gegenwartskunst gefährdet.“

Groys, der sich wie zu erwarten in seinem Essay auf Nietzsche, Freud, Heidegger und Foucault beruft, glorifiziert die Reaktion und lehnt jegliche Anknüpfung an Ideen des Fortschritts ab. Das ergibt sich unweigerlich aus seiner Orientierung am Postmodernismus und verwandten Strömungen.

In den 1930er Jahren hatte Trotzki großen Einfluss, denn das Schicksal des Sozialismus wurde in hohem Maße mit der Russischen Revolution und der Generation revolutionärer Marxisten identifiziert, die sie intellektuell und moralisch angeführt hatten. Bis heute hat niemand radikalere und „fortschrittlichere“ Ideen geäußert als Trotzki.

Sich im Kampf zwischen Stalinismus und Trotzkismus zu entscheiden, war zu dieser Zeit der härteste und deutlichste Lackmustest, und die meisten Künstler bestanden ihn nicht.

Bertold Brecht zum Beispiel konnte 1931, Benjamin zufolge, eines Abends in einem Café verkünden, es gebe gute Gründe anzunehmen, dass Trotzki „der größte lebende Schriftsteller von Europa“ sei. Gleichzeitig war er unfähig, mit dem stalinistischen Milieu zu brechen, selbst als seine eigenen Mitarbeiter in den völkermörderischen Säuberungen in der UdSSR verschwanden. Benjamin selbst, der ebenfalls Trotzki gewissenhaft gelesen hatte, tilgte jedes Zitat von ihm aus seiner Ansprache 1934 am „Institut für das Studium des Faschismus“ in Paris, das von Stalinisten geleitet wurde.

Es ist wahr, kompromisslosen Radikalismus und Unabhängigkeit findet man selten bei Künstlern. Viele, wenn nicht die meisten, streben nach Anerkennung. Sie wünschen sich ein Publikum, und sie brauchen es ebenso wie Anerkennung, Legitimation und finanziellen Ausgleich von der Gesellschaft, der sie angehören, oder von einem mächtigen Apparat wie der stalinistischen Bürokratie, selbst wenn sie intellektuell mit dieser Gesellschaft oder diesem Machtapparat nicht einverstanden sind.

So etwas Ähnliches drückte auch der Filmemacher Rainer Werner Fassbinder 1974 in einem Interview aus, in dem er sich zu Theodor Fontane [dem Autor des von ihm verfilmten Romans Effi Briest] äußerte. Es sei ein Film „über die Haltung eines Dichters zu seiner Gesellschaft. Es ist die Haltung von einem, der die Fehler und Schwächen seiner Gesellschaft durchschaut und sie auch kritisiert, aber dennoch diese Gesellschaft als die für ihn gültige anerkennt. Er wies jeden zurück und fand alles befremdlich und dennoch kämpfte er sein ganzes Leben für Anerkennung in dieser Gesellschaft. Mein Problem ist gewesen, meine Haltung zu der Gesellschaft, in der ich lebe, dadurch klar zu machen, indem ich versuche, einen Film über Fontane zu machen.“

Ohne für einen Moment die objektiven gesellschaftlichen Ursachen außer Acht zu lassen, wäre es jedoch allerdings falsch zu unterschätzen, welche Auswirkungen der allgemeine Mangel an historischem Wissen hat. Dazu zählt auch der Mangel an Wissen über die Künstler selbst. In dieser Hinsicht haben die Postmoderne, der Poststrukturalismus und verwandte Strömungen eine verheerende Rolle gespielt, indem sie die Möglichkeit leugnen, die historische Wahrheit darzustellen.

Ja, es gibt hier und da in Künstler- und Intellektuellenkreisen einen „Marxisten”, aber kaum einer dieser angeblichen Marxisten ist in der Lage, irgendeine der wichtigen weltweiten Entwicklungen sinnvoll einzuordnen. Der endlose „Krieg gegen Terror“, die Vernichtung ganzer Gesellschaften im Irak, in Afghanistan, Libyen und Syrien, der rechte Putsch in der Ukraine und die imperialistischen Drohungen gegen Russland, die Auseinandersetzungen zwischen den USA und China – wie kann man behaupten, man schaffe bedeutende Kunst, wenn man so wenig von all dem weiß, wenn man nichts davon auf vernünftige, zusammenhängende Weise erklären kann?

Wie viele „Radikale“ und „Linke“ sind auf die Phrasen von „Menschenrechten“ hereingefallen, die nur als dünner Deckmantel für imperialistische Interventionen dienten! Dies hat vor zwanzig Jahren in Bosnien angefangen (Susan Sontag 1993: „Wie die meisten Menschen in Sarajewo warte ich auf Clinton.“) und wurde später in Libyen und Syrien fortgesetzt – und wann sind der Iran, Russland und China dran? Man müsse sich gegen „reflexartigen Antiimperialismus“ wenden, das heißt gegen eine prinzipielle Ablehnung von Großmachtpolitik und neokolonialer Unterdrückung – so lautet die neueste Parole der Pseudolinken.

Viele Künstler waren von der Bewegung „Occupy Wall Street“ hingerissen, die einen neuen Weg zurück zur Demokratischen Partei und insbesondere zum Wahlkampf für Obama bahnte, obwohl sie nach nur wenigen Monaten zusammenbrach. Und was war mit der weit verbreiteten Unterstützung von Künstlern für Obama selbst, diesen Kandidaten des „Wandels“, das groteske Geschöpf des Militär- und Geheimdienstapparats und der Hochfinanz?

Wenn man bei so vielen Ereignissen falsch liegt, kann man nicht behaupten, man besitze einen tiefgründigen Einblick in die Verhältnisse. Irgendwann muss ein gewisses Maß an Selbstkritik einsetzen. Die „Avantgarde“-Künstler erweisen sich gegenwärtig als ebenso hoffnungslos wie der durchschnittliche „Mann auf der Straße“, vielleicht noch schlimmer. Die Geschichte zeigt, dass es nicht reicht, Groll gegen die bürgerliche Gesellschaft zu hegen. Ein Dasein als Bohemien kostet nicht viel und kann sogar selbst zur marktfähigen Ware werden.

Die Vorstellung ist absurd, man könne sich in den Themen unserer Zeit zurechtfinden, ohne die entscheidenden historischen Fragen zu studieren. Die Postmoderne entstand gerade daraus, dass sie diesen Fragen auswich und dies mit dem Ende der „Metanarrativen“ rechtfertigte – gemeint sind soziale Prozesse, wie das Erbe der Aufklärung, Marxismus etc.. Über „Wahrheit“, „Geschichte“ und Ähnliches zu sprechen, war für sie nicht mehr nötig, es galt vielmehr sogar als schädlich und irreführend.

Der Erzpragmatiker und postmoderne Philosoph Richard Rorty bemerkte einmal, er ziehe es vor, „das Thema zu wechseln“, wenn die Rede auf objektive Erkenntnis oder Wahrheit komme. Aber auch der „linke“ Akademiker und ehemalige Maoist Bruno Bosteels war nicht besser, der zum „aktiven Vergessen“ aufrief, „um die Kultur des Gedächtnisses zu bekämpfen“ (vielleicht eine neue Version von Nietzsches „Zu allem Handeln gehört Vergessen“).

Als könnte man die Erfahrungen der russischen Revolution, den Kampf für die Theorie der Permanenten Revolution gegen Stalins „Sozialismus in einem Land“ oder die entscheidenden Lehren der wichtigsten Ereignisse des weltweiten Klassenkampfs im 20. Jahrhundert außer Acht lassen und gleichzeitig eine zusammenhängende Einschätzung der heutigen politischen und kulturellen Situation gewinnen! Politisch-historische Ignoranz lässt sich sicherlich nicht mit künstlerischer Vision vereinbaren.

Zur Zeit der Auflösung der Sowjetunion in den Jahren 1991/ 92 war es nur das Internationale Komitee der Vierten Internationale, die trotzkistische Bewegung, die die Bedeutung einer erneuten Aufarbeitung der russischen Revolution gesehen hat. Jegliches kreative Denken ist mit einem Studium der größten Erfahrungen der Arbeiterklasse und der sozialistischen Bewegung verbunden. Nur auf dieser Grundlage konnte etwas Positives geschaffen werden. Eine der Errungenschaften ist die World Socialist Web Site, die weltweit meistgelesene sozialistische Internetpublikation, die 1998 gegründet wurde.

In den letzten Jahrzehnten ist eine Generation außerhalb jeder echten marxistischen Tradition (nicht der angeblich „marxistischen“ Frankfurter Schule oder einer anderen Version des „westlichem Marxismus“) herangewachsen und erzogen worden. Was ist unter den Augen der Postmodernen, der „kritischen Denker“ und anderer Intellektueller geschehen?

In den vergangenen vierzig Jahren trat in Kultur und Politik weltweit nicht eine einzige Persönlichkeit auf, von der man sagen könnte, man musste sich mit ihr auseinandersetzen, um sich in der gegenwärtigen Situation zu orientieren. Es gab niemanden, der unersetzlich gewesen wäre. Das ist das Ergebnis des extremen Relativismus, Subjektivismus und Irrationalismus, die in der Welt der Akademiker und der Kunst den Ton angeben.

Ein Wissenschaftler versucht, die Gesetzmäßigkeiten der Natur zu verstehen, um letztlich das Leben des Menschen zu verbessern. Marxistische Revolutionäre versuchen, in ihrem Denken die gesetzmäßigen Veränderungen der objektiven Welt einschließlich der gesellschaftlichen Entwicklungen zu reflektieren und darauf ihre revolutionäre Praxis zu gründen.

Aber ist ein solches Bemühen, die Gedanken mit der Realität zu verbinden und in die Praxis umzusetzen, oder ein materielles Produkt herzustellen, nicht auch Bestandteil des künstlerischen Schaffensprozesses?

Alexander Woronski

Trotzkis Genosse und Anhänger der Linken Opposition, Alexander Woronski, der der scharfsinnigste marxistische Literaturkritiker des 20. Jahrhunderts ist und zugleich – wohl eben aus diesem Grund – unter den intellektuellen „Linken“ am meisten ignoriert wird, betonte, dass Künstlerinnen oder Künstler, die sich dem Reichtum der Welt „hingeben“, auch in der Lage sind, „die Welt, so wie sie ist, in ihren schönsten und lebhaftesten Formen [zu] entdecken“. Ein Kunstwerk ist „wahrhaft“, argumentiert Woronski, „wenn die Empfindungen und Vorstellungen, die es in uns weckt, der realen ‘Natur der Dinge’ entsprechen, wenn sie objektiven Charakter haben“. Der Künstler unterscheide sich darin nicht vom Wissenschaftler, „der Gegenstand ist ein und derselbe. Die Eigenart, die Besonderheit des Künstlers besteht darin, dass er nicht in abstrakten Kategorien denkt, sondern in Bildern.“

Was Künstler heute von der Welt wissen oder über sie denken, ist inadäquat. Man kann nicht einfach mit den gängigen Schlagworten und modernen Formeln herumhantieren. Neue intellektuelle Themen, neue Probleme, neue Anliegen müssen in den intellektuellen Blutkreislauf einfließen.

Objektive Bedingungen werden eine größere Rolle spielen. Die Arbeiterklasse wurde durch ihre falschen bürokratischen Führer seit so langer Zeit von der Teilhabe am politischen Leben abgeschnitten. Jetzt betritt sie die historische Bühne wieder. Die mehr oder weniger offene Rebellion der Autoarbeiter in den USA gegen die Gewerkschaft United Auto Workers, die man nicht mehr als „Gewerkschaft“ bezeichnen kann und die sich selbst in ein milliardenschweres Unternehmen, ein korporatistisches Labour-Syndikat, verwandelt hat, ist von großer Bedeutung. Eine Massenbewegung der Arbeiter gegen den Kapitalismus wird viel dazu beitragen, die „Wolken des Skeptizismus und Pessimismus vom Horizont der Menschheit“, die Künstler eingeschlossen, zu vertreiben.

Meiner Ansicht nach müssen Künstler und Intellektuelle die entscheidenden Ereignisse des 20. Jahrhunderts studieren. Dazu gehören vor allem die Oktoberrevolution, die Entstehung der stalinistischen Bürokratie und der Kampf zwischen Stalinismus und Trotzkismus, die bitteren Lehren aus den Konflikten und Niederlagen in Deutschland, Großbritannien, China, Spanien und Frankreich und die gigantischen Anstrengungen, eine neue revolutionäre Internationale, die 1938 gegründete Vierte Internationale, aufzubauen. Auch die darauf folgenden internen Auseinandersetzungen in ihrem Innern, die sich um den Kampf für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse drehten, gehören dazu.

Eine Perspektive ist heute in hohem Maße identisch mit Geschichte – und das betrifft auch die Perspektive der Kunst.

Ich möchte mit den Worten schließen: Es gibt allen Grund zur Zuversicht, dass die Ereignisse dem künstlerischen Leben einen neuen kräftigen Impuls geben werden. Revolutionäre Krisen entlarven nicht nur alles Unangemessene, Veraltete und Korrupte, sie liefern auch die Inspiration für das Kreative, Gehaltvolle und Wahrhaftige.

Die künftigen sozialen Kämpfe werden über Nacht so manches Ansehen erschüttern. Den Begriff „berühmt“ wird man eher abschätzig oder respektlos verwenden. Den großen Künstlern des neuen Zeitalters werden sicher keine Medaillen am Kennedy Center verliehen. Sie selbst würden dies als Schande und Beleidigung ablehnen.

Eine wirkliche Avantgarde, die sich moralisch und politisch mit der Erhebung der Arbeiterklasse solidarisiert, muss sich stark auf die strategischen Erfahrungen und Lehren der großen revolutionären Kämpfe der Vergangenheit stützen. Diese neue Avantgarde wird ihr eigenes Werk als Beitrag zur historischen Befreiung der Menschheit aus der Unterdrückung verstehen.

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