Perspektive

Das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff und die Gefahren für die brasilianische Arbeiterklasse

Die langwierige Amtsenthebungskampagne gegen die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff von der Arbeiterpartei (PT) scheint nach dem Rückzug der Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung (PMDB) aus der Regierung deutlich an Fahrt gewonnen zu haben. Die PMDB ist die stärkste Partei im brasilianischen Nationalkongress.

Der zunehmende Druck in Richtung eines Regierungswechsels im größten Land Lateinamerikas ohne jede demokratische Abstimmung stellt eine ernsthafte Gefahr für die Arbeiterklasse dar. Die Gefahren ergeben sich nicht nur aus den Verschwörungen der rechten Politiker, Richter, Wirtschaftslobbyisten und Medienkonglomerate, die auf ein Amtsenthebungsverfahren drängen, sondern allgemeiner aus der rasanten Verschärfung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise des brasilianischen Kapitalismus und aus dem Fehlen einer wirklich revolutionären Führung der Arbeiterklasse.

Das Amtsenthebungsverfahren hat sich im gleichen Tempo entwickelt wie die seit zwei Jahren andauernden die Ermittlungen in dem umfangreichen Korruptionsskandal (Operação Lava Jato – Operation Autowäsche) um Bestechungsgelder und Begünstigungen für überbewertete Verträge bei dem staatlichen Energiekonglomerat Petrobras, dem größten Konzern Lateinamerikas.

Die Ermittlungen haben nicht nur die systemische Korruption der PT entlarvt, sondern die verheerende Verkommenheit des ganzen bürgerlichen Parteienspektrums in Brasilien. Alle Parteien sind mit allen prominenten Politikern verbandelt, die Rousseffs Absetzung fordern.

Die Ursache dieses politischen Zusammenbruchs ist die tiefste Wirtschaftskrise in Brasilien seit der Großen Depression der 1930er Jahre. Im letzten Jahr ist die Wirtschaft um 3,8 Prozent geschrumpft und in diesem Jahr droht ein mindestens genau so starker Abschwung. Die offizielle Arbeitslosenquote ist auf 9,5 Prozent gestiegen. Allein 2015 wurden 1,8 Millionen Arbeitsplätze vernichtet. Ab Juni werden etwa zwei Millionen brasilianische Arbeitslose keine Arbeitslosenunterstützung mehr bekommen. Und zum ersten Mal in fast einem Vierteljahrhundert sinken die Reallöhne, während die soziale Ungleichheit steigt.

Diese objektive Krise hat die Bedingungen geschaffen, unter denen Teile des brasilianischen Kleinbürgertums einen starken Hass auf die PT und Rousseff entwickelt haben. Bei den Massendemonstrationen für ihre Amtsenthebung wurden Forderungen nach einem Eingreifen des Militärs erhoben und sogar Appelle an Donald Trump gerichtet, Brasilien zu retten. Berichten zufolge kam es zu faschistischen Übergriffen auf Menschen in roter Kleidung, der Farbe, die mit der PT assoziiert wird, sowie auf mutmaßliche Anhänger der Regierungspartei.

Die PT wird nicht nur für das ökonomische Debakel und ihre Korruption verantwortlich gemacht, sondern auch wegen ihrer geringfügigen Sozialprogramme für die armen Brasilianer kritisiert, die jetzt als unverzeihliche Beschneidung des Reichtums der privilegierten sozialen Schichten gesehen werden.

Die Ursache des Rechtsrucks dieser Schichten liegt in ihrer Wut und Desillusionierung über die falschen Versprechen der PT-Regierungen, Brasilien werde den Auswirkungen der globalen Finanzkrise irgendwie entkommen und sich unweigerlich in eine kapitalistische Industrienation verwandeln.

Rousseffs Zustimmungswerte sind auf unter zehn Prozent gesunken. Auch breite Teile der Arbeiterklasse sind angesichts von Massenentlassungen und sinkenden Löhnen von der bürgerlichen Politik der PT angewidert. Mithilfe der Gewerkschaftsbürokratie der Central Única dos Trabalhadores (CUT) konnte sich die PT als Vertreter „der Bevölkerung“ darstellen und gleichzeitig ihre Politik an die Profitinteressen des brasilianischen und internationalen Kapitals und die Vorgaben des IWF anpassen.

Wenn Rousseff und ihr Amtsvorgänger und Parteigründer Luiz Inacio Lula da Silva breitere Unterstützung gegen die Amtsenthebung mobilisieren konnten, dann deshalb weil ein Teil der Bevölkerung über die illegalen und offen parteipolitischen Methoden der Regierungsgegner und den faschistoiden Stimmungen, die geschürt werden, zutiefst besorgt ist.

Lula, wie der ehemalige Vorsitzende der Metallarbeitergewerkschaft und spätere Präsident allgemein genannt wird, war selbst Ziel solcher Methoden. Er wurde Anfang März im Morgengrauen von zahlreichen Polizisten aus seiner Wohnung gezerrt und zu einem unfreiwilligen Verhör gebracht.

Rousseff, Lula und diverse pseudolinke Elemente aus dem Umfeld der PT haben begonnen, um Unterstützung zu werben, indem sie die Amtsenthebungskampagne als „Putsch“ bezeichnen. Sie vergleichen diese mit dem von den USA unterstützten Militärputsch von 1964 gegen die Regierung von Präsident Joao Goulart am 31. März vor 52 Jahren.

Die Gefahren für die Arbeiterklasse durch die jüngsten politischen Entwicklungen lassen sich nicht leugnen, aber dieser Vergleich hinkt und ist bestenfalls von Eigennutz motiviert. Goulart wurde gestürzt, weil er für bürgerlich-nationalistische Reformen eintrat. Unter anderem plante er die Verstaatlichung der Ölraffinerien des Landes und die Einführung von Regelungen, durch die multinationale Unternehmen gezwungen gewesen wären, alle in Brasilien erwirtschafteten Profite wieder im Land zu investieren. Hinzu kamen eine beschränkte Landreform und Kürzungen der Militärausgaben. Diese Pläne brachten ihm zwar in der Bevölkerung großen Rückhalt ein, allerdings auch die Feindschaft der herrschenden Oligarchie, des Militärs und Washingtons.

Rousseff reagierte auf die Wirtschaftskrise in Brasilien mit einer Politik der Haushaltskonsolidierung. Sie ließ die Arbeiterklasse für die Krise bezahlen. Vor kurzem verabschiedete ihre Regierung Antiterrorgesetze, die ihr polizeistaatliche Befugnisse zur Unterdrückung jeder Opposition im Inneren geben. Der Widerstand von Rousseff und der PT gegen den angeblichen „Putsch“ ist kein Kampf gegen die Forderungen der kapitalistischen Reaktion. Vielmehr will sie deutlich machen, dass ihre Regierung die Ziele des Großkapitals erfolgreich umsetzen kann.

Wenn die herrschenden Schichten des nationalen und ausländischen Kapitals heute Roussefs Absetzung fordern, dann weil sie hoffen, dass ein radikaler Wechsel der Regierung die Umsetzung der reaktionären Politik drastisch beschleunigt.

Allerdings herrscht keine Einigkeit darüber, wie dieses Ziel am besten zu erreichen sei. Teile der herrschenden Klasse, auch auf der Rechten, sind der Meinung, der beste Weg die Wettbewerbsfähigkeit des brasilianischen Kapitalismus durch die Senkung der Arbeitskosten zu steigern, bestehe darin, Lula zurückzubringen und alle Kämpfe der Arbeiterklasse mit Hilfe der Gewerkschaftsbürokratie zu unterdrücken. Diese Option wird von keinem Geringeren als Delfim Netto, dem ehemaligen Finanzminister der Militärdiktatur der 1960er Jahre unterstützt. Netto hatte damals ähnliche Methoden mit Waffengewalt durchgesetzt und beansprucht für sich bis heute, das brasilianische „Wirtschaftswunder“ geschaffen zu haben.

Die Verantwortung für die gefährliche Krise, mit der die brasilianische Arbeiterklasse konfrontiert ist – egal ob die PT an der Macht bleibt oder nicht – liegt vor allem bei den Kräften, die die PT als ein neues „demokratisches“ Werkzeug zur Schaffung eines besonderen brasilianischen Wegs zum Sozialismus verkauft haben. Die PT wurde nach den stürmischen Studentenprotesten und Massenstreiks der Arbeiter Ende der 1970er Jahre gegründet, die das Militär letztlich zur Aufgabe der Macht zwangen. Sie wurde geschaffen, um die Kämpfe der Arbeiterklasse einzudämmen und den Aufbau einer revolutionären sozialistischen Massenpartei zu verhindern.

Organisationen, die mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale gebrochen und sich revisionistischen Tendenzen angeschlossen haben – etwa dem pablistischen Vereinigten Sekretariat, dem Argentinier Nahuel Moreno oder dem französischen Revisionisten Pierre Lambert – haben eine wichtige Rolle bei der Etablierung der PT gespielt und spielen bis heute eine politisch reaktionäre Rolle.

Die Morenoisten der PSTU (Vereinigte Sozialistische Arbeiterpartei) gab als Reaktion auf das Amtsenthebungsverfahren die Parole „Fora Todos“ („Werft sie alle raus“) aus und fordert Neuwahlen. Damit passt sie sich im Wesentlichen an die rechten Demonstrationen des Kleinbürgertums an. Ihre Anpassung an die Rechte in Brasilien entspricht ihrer internationalen Politik, und der von ähnlichen Tendenzen in Westeuropa und Nordamerika. Sie bezeichnen von der CIA organisierte Regimewechsel-Kriege und rechte Putsche wie in Libyen, Syrien und der Ukraine als „Revolutionen“. Mit ihrer beiläufigen Zurückweisung aller Warnungen vor einem „Putsch“ will die PSTU die Arbeiterklasse einlullen und über die realen Gefahren hinwegtäuschen, mit denen sie konfrontiert ist.

Die Democracia Socialista, die frühere brasilianische Sektion des pablistischen Vereinigten Sekretariats, nimmt eine scheinbar gegenteilige Position ein. Sie ist in der PT geblieben und ihr bekanntester Sprecher, Miguel Rossetto, dient in der Regierung Rousseff mittlerweile als Arbeitsminister und wichtiges Aushängeschild. Die Gruppierung warnt vor einer Wiederholung des Putsches von 1964 und fordert die „Einheit breiter Schichten zur Verteidigung der Demokratie“ und eine „Rückkehr zum Wahlprogramm der PT von 2014“. Das bedeutet nicht anderes als eine Unterordnung der Arbeiterklasse unter bürgerliche Parteien und Politiker und einen Aufguss der falschen Versprechen, die die PT direkt nach der Wahl fallen lies.

Tatsächlich lassen sich demokratische Rechte, Arbeitsplätze, ein angemessener Lebensstandard und gute soziale Bedingungen nur durch die Mobilisierung der Arbeiterklasse in einem politisch unabhängigen Kampf gegen die PT-Regierung und ihre bürgerlichen Gegner auf der Grundlage eines internationalen sozialistischen Programms verteidigen. Dies erfordert ein gründliches Studium des Verrats der PT und ihrer pseudolinken Unterstützer und den Aufbau einer brasilianischen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale als neuer revolutionärer Partei der Arbeiterklasse.

Loading