Europäische Stahlarbeiter stehen vor gewaltigen Angriffen

Am 29. März kündigte der indische Stahlkonzern Tata Steel an, er werde sich vollständig aus Großbritannien zurückziehen und seine 2007 erworbenen Stahlwerke verkaufen. 15.000 Arbeitsplätze in der Stahlindustrie, 25.000 in der Zulieferindustrie sowie die Renten von 130.000 ehemaligen und noch aktiven Stahlarbeitern sind damit unmittelbar gefährdet.

Nur zwei Tage später berichtete die in Düsseldorf erscheinende Rheinische Post, Tata Steel wolle bei der europäischen Stahlsparte des deutschen Konzerns ThyssenKrupp einsteigen. Die Gespräche seien weit vorangeschritten, meldete die RP-Redaktion mit Verweis auf „Berliner Regierungskreise“. Mehrere Varianten würden diskutiert, darunter ein „Joint Venture mit der Option, zu einem späteren Zeitpunkt Anteile aufzustocken“.

Der Hedgefonds Cevian, seit Dezember 2013 Großaktionär bei ThyssenKrupp, drängt schon seit langem, den Mischkonzern zu filetieren und unprofitable Geschäftsbereiche abzustoßen. Ganz oben auf ihrer Liste steht die Stahlsparte mit 27.000 Beschäftigten.

Während die Rheinische Post eine mögliche Übernahme des Stahlbereichs von ThyssenKrupp durch Tata Steel meldet, spekuliert der britische Observer über die Übernahme des Tata-Stahlwerks Port Talbot in Wales durch ThyssenKrupp.

Erst vor drei Monaten habe der deutsche Stahlkonzern mit Tata Steel über eine Übernahme seines europäischen Geschäftsbereichs verhandelt, darunter auch mehrerer Standorte in Großbritannien und den Niederlanden, schreibt der Observer. Der Deal sei an den hohen Pensionsverpflichtungen von fast 15 Milliarden Pfund und den hohen Verlusten der britischen Tata-Werke gescheitert. Er könne aber noch zustande kommen, wenn die britische Regierung finanzielle Unterstützung gebe und den Pensionsfonds für 130.000 Arbeiter „umstrukturiere“.

Sicher ist, dass die gesamte europäische Stahlindustrie vor einer gewaltigen Konzentration und Schrumpfkur steht, die zahlreiche Arbeitsplätze sowie die Löhne und Renten zehntausender aktiver und ehemaliger Stahlarbeiter bedroht. Laut Rheinischer Post ist als Alternative zum dem europaweiten Zusammengehen von Tata Steel und ThyssenKrupp auch der Zusammenschluss von Thyssen-Krupp und Salzgitter zu einem deutschen „Stahlgiganten“ im Gespräch. In beiden Fällen wären Arbeitsplatzabbau und mögliche Werksschließungen die Folge.

So hätte ein Zusammengehen von Tata Steel und ThyssenKrupp mit Sicherheit Auswirkungen auf das ThyssenKrupp-Stahlwerk in Duisburg, wo fast 13.000 Menschen arbeiten. Tata betreibt „im nur 200 Kilometer entfernten niederländischen IJmuiden eines der profitabelsten Stahlwerke Europas“, schreibt die Rheinische Post. Es ist direkt an die Nordsee angebunden. Dadurch entfällt ein Teil der hohen Transportkosten für Eisenerz, das über den Rhein nach Duisburg transportiert werden muss.

Als Hindernis für die Verkaufs- oder Fusionspläne von ThyssenKrupp-Stahl gelten (wie bei den Tata-Werken in Großbritannien) die Pensionsrückstellungen, die sich für den Gesamtkonzern im vergangenen Geschäftsjahr auf 7,7 Milliarden Euro beliefen. Beide Konzerne bemühen sich deshalb, diese „außergewöhnlichen Belastungen“ loszuwerden.

Die Stahlkonzerne reagieren mit ihren Konzentrationsplänen auf die hohen Überkapazitäten auf dem Weltmarkt. Die OECD berichtet, dass sich die globalen Produktionskapazitäten seit Beginn dieses Jahrhunderts mehr als verdoppelt haben, während der Stahlverbrauch seit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 drastisch eingebrochen ist. Allein innerhalb der EU sind seither rund 85.000 Arbeitsplätze vernichtet worden – aber das reicht den Konzernen noch längst nicht aus.

Nun folgt die nächste und noch viel gewaltigere Abbaurunde. Hundertausende von Arbeitsplätzen in den USA, Südamerika, China, Japan, Russland, Europa und vielen anderen Ländern stehen auf dem Spiel. Laut einem Bericht der EU wird allein in China die Überkapazität der Rohstahlproduktion auf 350 Mio. Tonnen geschätzt, das ist fast doppelt soviel wie das jährliche Produktionsvolumen der EU. Die chinesische Regierung hat bereits angekündigt, dass sie ihre Stahlproduktion drosseln und 500.000 Arbeitsplätze vernichten werde.

Der Vorstandsvorsitzende von ThyssenKrupp, Heinrich Hiesinger, hat seine Aktionäre auf Verluste vorbereitet. Der Verfall der Stahlpreise habe tiefe Spuren hinterlassen. ThyssenKrupp hat in den ersten drei Monaten des laufenden Geschäftsjahres 2015/2016 trotz ständigen Sparens auf Kosten der Beschäftigten wieder Verluste verzeichnet. Die Stahlsegmente der Salzgitter AG, des zweitgrößten deutschen Stahkonzerns, schlossen das Jahr 2015 ebenfalls mit hohen Verlusten ab. Auch der weltgrößte Stahlproduzent ArcelorMittal machte einen Milliardenverlust.

Nun sollen die Arbeiter dafür zahlen. Die Stahlkonzerne erwarten eine entsprechend große Opposition seitens der Belegschaften. Der Widerstand gegen einen Kapazitätsabbau sei in Europa ziemlich hoch, zitiert die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) den Stahlexperten des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI), Roland Döhrn. „Das sind ziemlich viele Arbeitsplätze auf einem Haufen“, sagte er.

Derweil wird das Terrain für einen massiven Arbeitsplatzabbau bereitet. Eine von den Stahlkonzernen in Auftrag gegebene Studie des Forschungsinstituts Prognos hat die volkswirtschaftlichen Folgen einer Schwächung der Stahlbranche in Deutschland bis zum Jahr 2030 beziffert. „Hiermit sind Beschäftigungsverluste in Höhe von 380.000 Arbeitsplätzen verbunden“, heißt es in der Studie.

Bundesweit sind rund 87.000 Arbeiter direkt in der Stahlindustrie beschäftigt, davon 47.600 in Nordrhein-Westfalen. Weitere 3,5 Millionen Arbeitsplätze in Deutschland hängen direkt oder indirekt vom Stahl ab. Prognos verweist auf die Rolle der Stahlindustrie als Lieferant des verarbeitenden Gewerbes mit Branchen wie dem Maschinen- und Fahrzeugbau sowie der Elektroindustrie.

Die Wirtschaftsvereinigung Stahl, der die Konzerne ThyssenKrupp und Salzgitter angehören, die Gewerkschaft IG Metall, die Betriebsräte der Stahlwerke und die Bundesregierung sowie die betroffenen Landesregierung haben sich zusammengetan, um die anstehenden Entlassungen und sozialen Angriffe durchzusetzen.

Sie machen „Dumping-Importe“ aus China sowie eine geplante Änderung des EU-Klimaschutzes für die bevorstehenden Entlassungen verantwortlich. Um zu verhindern, dass sich die Stahlarbeiter weltweit solidarisieren und einen gemeinsamen, internationalen Kampf gegen die geplanten Angriffe und seine Ursache, das kapitalistische System, aufnehmen, fordern sie Strafzölle und andere protektionistische Maßnahmen sowie die Lockerung von Klimaschutzauflagen.

Bereits Mitte Februar hatten die europäischen Gewerkschaften und Unternehmerverbände in Brüssel gemeinsam für Handelskriegsmaßnahmen gegen China und Russland demonstriert, was sie nicht daran hindert, auch innerhalb Europas die Stahlarbeiter der einzelnen europäischen Länder und Standorte gegeneinander auszuspielen.

Am 11. April veranstaltet die IG Metall in Deutschland einen bundesweiten „Stahlaktionstag“ mit Demonstrationen und Kundgebungen in Duisburg, Berlin, Salzgitter und im Saarland. Ziel dieses „Aktionstags“ ist es nicht, die Stahlarbeiter zur Verteidigung ihrer Arbeitsplätze und sozialen Errungenschaften zu mobilisieren, sondern den Konzernbossen und bürgerlichen Politikern, die dafür verantwortlich sind, eine Plattform zu bieten.

In Duisburg sind neben dem IGM-Vorsitzenden Jörg Hofmann und etlichen Betriebsräten Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (beide SPD) und Hans-Jürgen Kerkhoff, der Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, als Redner angekündigt. In Saarbrücken wird Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und in Salzgitter Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) zur Kundgebung sprechen.

Der Tenor ihrer Reden lässt sich aus Äußerungen in Interviews entnehmen. „Wir wollen globalen Wettbewerb auch im Stahlsektor – aber der muss fair sein“, erklärte Gabriel. Kraft verkündete in der WAZ: „Ich teile die Sorgen der deutschen Stahlindustrie vor einem unfairen Wettbewerb auf den internationalen Stahlmärkten durch chinesische Dumpingpreise.“

Auch Knut Giesler, Chef der IGM in NRW, hetzte gegen China: „Die EU muss sich entscheiden. Will sie sauberen Stahl aus den weltweit umweltverträglichsten Stahlwerken fördern – oder macht sie eine Politik, die den schmutzigen Stahlwerken in China hilft?“

Zu den Kundgebungen erwartet die IGM lediglich 10.000 Teilnehmer aus ganz Deutschland, d.h. vor allem ihre betrieblichen und gewerkschaftlichen Funktionäre. Allein in Duisburg, trotz massivem Abbau nach wie vor der größte Stahlstandort Europas, arbeiten knapp 17.000 Stahlarbeiter. Neben den fast 13.000 bei ThyssenKrupp sind weitere 3.300 bei den Hüttenwerken Krupp-Mannesmann und fast 1.000 bei ArcelorMittal-Steel beschäftigt.

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