UNHCR bestätigt Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer

Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR sowie die Internationale Organisation für Migration (IOM) haben inzwischen bestätigt, dass sich im Mittelmeer zwischen der libyschen Hafenstadt Tobruk und der griechischen Insel Kreta eine Schiffskatastrophe ereignet hat. Beide Organisationen gehen nach Befragungen der 41 Überlebenden der Tragödie davon aus, dass dabei bis zu 500 Flüchtlinge den Tod fanden.

Dieser entsetzliche Verlust von Menschenleben ereignete sich fast auf den Tag genau ein Jahr nach der bislang größten Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer. Am 18. April 2015 waren vor der italienischen Insel Lampedusa 850 Flüchtlinge beim Kentern ihres Bootes jämmerlich ertrunken.

Doch während damals die Spitzen der EU noch ihr Bedauern geheuchelt und die Medien ausführlich über die Tragödie berichtet hatten, haben sie das neuerliche Unglück nur noch gleichgültig zur Kenntnis genommen. Zeitungen und TV-Nachrichtensendungen berichteten nur versteckt auf den hinteren Seiten oder kurz am Rande von dem Bootsunglück.

Anders als beim Verschwinden von Flug MH370 der Malaysia Airlines im März 2014, als man ein riesiges Gebiet im Indischen Ozean monatelang nach Wrackteilen durchkämmte, wurde nach ersten Berichten über das Bootsunglück im Mittelmeer nicht ein einziges Schiff entsandt, um mögliche Überlebende zu finden. Erst nach Tagen kündigte der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi am Mittwoch an, die Küstenwache nach dem Wrack und Leichen suchen zu lassen.

Dieses Schweigen über den Tod von 500 Flüchtlingen, die aus dem Sudan, Äthiopien, Eritrea und Somalia geflohen waren, um in Europa Schutz zu suchen, lässt sich nur dadurch erklären, dass ihr Ertrinken billigend in Kauf genommen wird. Der Tod auf dem Mittelmeer ist für die herrschende Elite in Europa nur ein Kollateralschaden ihrer brutalen Abschottungspolitik, mit dem Flüchtlinge gezielt abgeschreckt werden sollen.

Die Berichte der 41 Überlebenden, die Mitarbeiter des UNHCR und der IOM gesammelt haben, lassen erahnen, welche dramatischen Szenen sich während der Tragödie abgespielt haben müssen. „Zweihundertvierzig von uns legten von Libyen ab, aber die Schmuggler zwangen uns später auf ein größeres Holzboot von 30 Meter Länge umzusteigen, auf dem bereits mindestens 300 Menschen waren“, sagte Abdul Kadir aus Somalia.

Beim Umladen der nahe der libyschen Hafenstadt Tobruk gestarteten Flüchtlinge kenterte das größere Boot und versank rasend schnell im Meer. Bisher ist immer noch völlig unklar, ob das größere Schiff ebenfalls aus Libyen oder vom ägyptischen Alexandria aus gestartet war. Zumindest einer der Überlebenden erklärte, dass er die Überfahrt nicht von Libyen, sondern von Ägypten aus angetreten habe.

Die 41 Augenzeugen der Tragödie überlebten nur, weil sie entweder noch nicht auf das größere Boot umgestiegen waren oder weil sie es schafften, auf das kleine Boot zurückzuschwimmen. Dabei handelt es sich um 37 Männer, drei Frauen und ein dreijähriges Kleinkind.

„Die Zeugenaussagen, die wir gehört haben, sind herzzerreißend“, sagte der Leiter des Athener IOM-Büros, Daniel Esdras. Der aus Äthiopien stammende Mohamed berichtete seinen Mitarbeitern: „Ich habe meine Frau und mein zwei Monate altes Kind im Meer sterben sehen, zusammen mit meinem Schwager. Das Boot ging einfach unter, alle Menschen starben innerhalb von Minuten. Nach dem Untergang trieben wir mehrere Tage auf See, ohne Nahrung, ohne alles. Ich dachte, ich müsse sterben.“

Den Augenzeugenberichten zufolge setzten die Schleuser die Fahrt mit den Überlebenden fort, bis der Schiffsmotor den Geist aufgab. Ob es sich dabei um einen Maschinenschaden handelte oder ob die Schleuser den Motor absichtlich sabotierten, konnte bislang nicht geklärt werden. Die Schleuser setzten einen Notruf ab und verschwanden mit einem kleineren Beiboot.

Obwohl der Notruf bei der Küstenwache in Rom einging und an die griechische Küstenwache weiter geleitet wurde, dauerte es offenbar noch drei Tage, bis der unter philippinischer Flagge fahrende Frachter „Eastern Confidence“ die Flüchtlinge am 16. April etwa 95 Seemeilen südwestlich der griechischen Stadt Pylos aus dem Meer fischte und in den Hafen von Kalamata brachte.

Dort weigerten sich die 41 Überlebenden, darunter 23 Somalier, 11 Äthiopier, 6 Ägypter und ein Sudanese, zunächst von Bord zu gehen und bestanden darauf, nach Italien gebracht zu werden. Nicht zu Unrecht, denn ein griechischer Polizeioffizier sagte der britischen BBC kaltblütig: „Sie werden abgeschoben. Sie kommen nicht aus Syrien.“

Die nun bekannt gewordenen Einzelheiten der Katastrophe stehen in schroffem Widerspruch zu den Aussagen der griechischen, maltesischen und italienischen Küstenwache, die noch am 17. April behauptet hatten, weder Informationen über einen Vorfall noch einen Notruf empfangen und weitergeleitet zu haben. Zu diesem Zeitpunkt hatte der philippinische Frachter die Überlebenden bereits an Bord genommen.

Eine Sprecherin der griechischen Küstenwache erklärte damals gegenüber Migrant Report: „ So einen Vorfall gibt es nicht vor Griechenland. Ich denke, die Information ist falsch. Was immer passiert sein mag, dies ist nicht in griechischen Gewässern geschehen und von einem Schiff mit 400 bis 500 Menschen an Bord ist niemand gerettet worden.“

Diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod mehrerer hundert Flüchtlinge ist eine direkte Folge der rigorosen Abschottungspolitik der Europäischen Union. Die EU erklärt den Schutz der Außengrenzen zu einem hohen Gut, gerade so als ob die Flüchtlinge eine Invasionsarmee darstellten, die Europa überrennt. Für das erneute Massensterben auf dem Mittelmeer sind daher die Europäische Union und die europäischen Regierungen verantwortlich.

Sie haben die Seenotrettung weitgehend eingestellt, obwohl die Europäische Grenzschutzagentur Frontex bereits 2014 gewarnt hatte, dass das zu einem Anstieg der Todesopfer führen werde, wie ein Bericht des Londoner Goldsmiths College der Universität London jüngst nachwies. Trotzdem beendete die EU damals die italienische Mittelmeermission „Mare Nostrum“, die in einem Jahr 150.000 Flüchtlinge geborgen und zum italienischen Festland gebracht hatte. Sie ersetzte sie durch die Frontex-Mission „Triton“, die nur die Flüchtlingsabwehr zum Ziel hat.

Nachdem im April letzten Jahres bei zwei Flüchtlingskatastrophen mehr als 1.200 Menschen im Mittelmeer ertrunken waren, versuchten viele Flüchtlinge über die Balkanroute nach Europa zu gelangen. Doch nach der Abschottung der Grenzen auf dem Balkan und dem schmutzigen Deal der Europäischen Union mit der Türkei weichen viele Flüchtlinge wieder auf die gefährlich lange Überfahrt über das Mittelmeer nach Italien aus.

Bereits in Libyen sind sie dabei enormen Risiken ausgesetzt. Die Milizen, die das Land seit der Nato-Bombardierung 2013 beherrschen, gehen rücksichtslos gegen Flüchtlinge vor, sperren sie in Internierungslager, misshandeln und foltern sie. Hinzu kommt, dass Schleuser wegen der EU-Militärmission Eunavfor Med Sophia vor der Küste Libyens auf immer neue Routen ausweichen.

„Vor Tobruk gab es bislang kaum Flüchtlingsbewegungen“, sagte Ruben Neugebauer von der Hilfsorganisation Sea Watch dem österreichischen Standard. Doch wegen Sophia „nutzen die Schlepper ganz neue Fluchtrouten, wo weit und breit keiner da ist um zu helfen“. Die kürzeste Überfahrt nach Lampedusa daure, wenn alles gut gehe, nur etwa zehn bis zwölf Stunden. Von Tobruk oder Ägypten aus seien es dagegen bis zu 13 Tage.

Die britischen Migrationsforscher Heaven Crawley, Nando Sigona und Franck Düvell haben in einem Artikel für The Conversation nachgewiesen, dass der dramatische Anstieg der Todesopfer auf dem Mittelmeer ein Ergebnis der zunehmenden Militarisierung der Küstengebiete ist, die die Flüchtlinge auf immer gefährlichere Routen und unsicherere kleinere Boote sowie zu nächtlichen Überfahrten zwingt, bei denen das Risiko der Entdeckung zwar geringer ist, aber ebenso die Chance auf Rettung aus Seenot. Das gilt sowohl für das Mittelmeer zwischen Libyen und Italien wie für die Ägäis zwischen der Türkei und Griechenland.

In Italien sind in diesem Jahr bereits 25.000 Flüchtlinge angelandet, mehr als doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres. In den letzten vier Wochen ist die Zahl dramatisch angestiegen. 851 Flüchtlinge sind dabei nach offiziellen Angaben auf der Überfahrt ertrunken. In der Ägäis, wo der Flüchtlingszufluss im April praktisch zum Erliegen kam, sind von 154.000 Flüchtlingen 376 ertrunken.

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