Eine neue Brecht-Biografie, die wichtige historische Fragen aufwirft

Stephen Parker: „Bertolt Brecht. A Literary Life”. London, New York, 2014.

 

Anlässlich des Todestags von Bertolt Brecht im August 1956, der sich in diesem Jahr zum 60. Mal jährt, werden sich die Feuilletons und die Theater diesem großen Dramatiker und Lyriker des 20. Jahrhunderts vermutlich vermehrt widmen. Angesichts der sich zuspitzenden Krise des weltweiten Kapitalismus und wachsender Weltkriegsgefahr ist die Auseinandersetzung mit ihm, den Stärken und Schwächen seines Werks und seinen theatertheoretischen Schriften und Konzepten sehr aktuell, vor allem, weil sein Leben mit historischen Fragen verbunden war, die bis heute ungelöst sind. 

Dass Brecht (1898-1956) einer der größten Dramatiker des 20. Jahrhunderts war, ist schwer bestreitbar. Aber nicht nur als Dramatiker hat er ein umfangreiches Werk hinterlassen, obwohl er nur 58 Jahre alt wurde, sondern auch als Theatertheoretiker, als Lyriker, Essayist und Prosaschriftsteller (auch wenn seine Romane meist unvollendet blieben) hat er Wichtiges geleistet. Seine Vorschläge für die Theaterpraxis, sein Messingkauf und das Kleine Organon für das Theater sind noch immer maßgebend für viele Theaterleute, und sei es, um sich daran zu reiben oder sich davon abzugrenzen.

Die Brecht-Biographie von Stephen Parker bietet einen guten Einstieg, sich mit diesem Autor und seinem Werk auseinanderzusetzen. Es ist zu begrüßen, dass eine deutsche Übersetzung geplant ist. Der Germanist der Universität Manchester, mit dem wir in einem Interview einige Fragen diskutieren konnten, hat das umfangreiche akademische Schrifttum zu Brechts Werk und Leben, dessen eigene Werke und biographische Aufzeichnungen gründlich studiert und wesentliche Aspekte in sein Buch aufgenommen. Er hat sich dabei auch auf noch unveröffentlichtes Archivmaterial gestützt, das erst nach dem Zusammenbruch der DDR verfügbar war.

Parker beginnt mit einer lebendigen Schilderung der Kindheit und Jugend Brechts und des Lebens seiner Familie in Augsburg. Er schildert die Jahre im und nach dem Ersten Weltkrieg, die Auseinandersetzungen zwischen Spartacus und Freikorps, in denen der junge Dichter, wie so viele seiner Generation, politisiert wurde. Seine frühe Leidenschaft für das Theater und sein Gespür für dessen Defizite und bürgerliche Scheinwelten lassen in ihm den unbezwingbaren Wunsch entstehen, es grundlegend zu verändern.

Intensiv geht Parker auf die körperliche Verfassung Brechts ein, der von seiner Kindheit an kränkelte und so zu einer äußerst sensiblen Persönlichkeit wurde. Der Biograph versucht so, vielleicht etwas verkürzt, Brechts Schwanken zwischen Morbidität und der Sehnsucht nach ungeheurer Vitalität abzuleiten. Nicht zuletzt resultierte daraus seine Leidenschaft für Frauen, die ihn nicht nur zu wunderbaren Liebesgedichten inspirierte. Er gewann sie als bedeutende und ergebene Mitarbeiterinnen. Parker schildert die Verwicklungen, die diese Beziehungen mit sich brachten, nicht in anklagender, einseitig die Frauen verteidigender Weise, sondern recht nüchtern und objektiv.

Brechts Faszination für „Figuren“ wie Baal (den Titelhelden seines ersten Stücks), die rücksichtslos das Leben genießen und dabei jede Menge Opfer an ihrem Lebensweg zurücklassen. resultiert, wie Parker meint, wohl zum Teil auch aus seiner prekären Gesundheit mit früh auftretenden Symptomen von Herzschwäche und schmerzhaften Nierenleiden, die letztlich auch zu seinem frühen Tod im August 1956 führten.

Viele der Fakten, die Parker bringt, sind in dem weiten Spektrum der Brecht-Literatur nicht unbekannt. Insbesondere die zweibändige Biographie von Manfred Weckwerth oder die große Brecht-Chronik von Werner Hecht enthalten bereits unzählige Einzelheiten über Brechts Leben und Werk. Dennoch gelingt es Parker, Persönlichkeit und Werk Brechts in einem frischen Licht zu präsentieren und den Autor und sein Werk heutigen Lesern nahezubringen.

Bertolt Brecht

Parkers Biographie ist eine schätzenswerte und gewissenhafte Arbeit. Darüber hinaus teilt der Autor weitgehend Brechts sozialistische Bestrebungen. Nach einigen rechten und verächtlichen Schmähungen wie John Fuegis Brecht & Co. ist das vorliegende Werk eine willkommene Abwechslung. (Die Rezension des Fuegi-Buchs im Independent begann mit den Worten: „Dass Bertold [sic] Brecht eine Ratte war, wusste man seit Jahren…“). Es ist ein Genuss, Parkers Buch zu lesen, und es greift faszinierende Fragen der Kultur des 20. Jahrhunderts auf.

Daher begrüßen wir diese Biographie und nehmen sie ernst. Aber gerade weil wir das tun, sind wir verpflichtet, in einer Reihe von wichtigen politischen und historischen Fragen unsere Differenzen zu äußern und ihnen den größeren Teil dieser Besprechung zu widmen. Es geht dabei um die Entwicklung des Stalinismus in der Sowjetunion und die Stalinisierung der Kommunistischen Partei Deutschland (KPD), die Machtübernahme des Faschismus und die historische Niederlage der deutschen Arbeiterklasse – diese Themen sind zu wichtig, um sie in einer Einschätzung Brechts und vieler anderer Intellektueller in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu vernachlässigen.

Letztlich läuft es auf folgende Fragen hinaus: War Brechts Orientierung am Stalinismus und seine Anpassung an ihn in den 1920er und 30er Jahren und später richtig oder zumindest die einzig „realistische“ Perspektive? War sie unter diesen schwierigen Zeitumständen mehr oder weniger „unvermeidlich“? Was hatte es mit Brechts „Antifaschismus“ auf sich?

Wie viele seiner Zeitgenossen wurde Brecht durch den ersten Weltkrieg politisiert, den er als Teenager mit patriotischen Gedichten glorifiziert hatte. Er erlebte, dass Freunde und Klassenkameraden verwundet oder getötet wurden und stellte sich in den Zeiten des Aufruhrs 1918/1919 mehr instinktiv als durch ein umfassendes Verständnis der Klassengesellschaft, aus der der Krieg resultierte, auf die Seite der linken Spartakus-Kämpfer. In den folgenden Jahren aber beschäftigten ihn mehr private Probleme und die seiner künstlerischen Karriere.

Aber gerade in den Passagen, in denen Parker versucht, die politischen Umstände der Weimarer Republik und des Verhältnisses von Brecht und anderen Intellektuellen zur Kommunistischen Partei darzustellen, zeigen sich Schwächen und historische Ungenauigkeiten. In der Regel übernimmt er ziemlich kritiklos die politischen Urteile und Rechtfertigungen Brechts über die Entwicklung der KPD und der UDSSR, sowohl was die Zeit gegen Ende der 1920er als auch der späteren Jahre angeht.

So schreibt er z. B. auf S. 274, es habe keine Möglichkeit gegeben, die SPD und die KPD gegen die Nazis zu vereinen. Der Grund dafür habe in der fehlenden Bereitschaft der Linken gelegen anzuerkennen, dass „ihre“ Wähler aus der Arbeiterklasse für die NSDAP stimmten. Die linke „Fetischisierung der Arbeiterklasse und auch der unteren Mittelklasse“ hätten ihre Fähigkeit, die Macht und die Anziehungskraft des Faschismus einzuschätzen, drastisch beeinträchtigt.

In seinem Gespräch mit dem WSWS bestätigte Parker seine Auffassung, dass Brecht wegen der „widrigen“ Umstände keinen anderen Weg einschlagen konnte, als die KPD kritisch und manchmal äußerst kritisch zu unterstützen.

Aber diese Umstände waren vor allem deswegen so „widrig“, weil die Stalinisten mit ihrer Politik weltweit (1923 in Deutschland, später in Großbritannien, China und anderen Ländern) Niederlagen herbeiführten. Jeder dieser Niederlagen stärkte die Kräfte der Reaktion und demoralisierte die sozialistischen Arbeiter.

In Wirklichkeit gab es eine Alternative. Trotzki und seine Anhänger in der Linken Opposition kämpften beharrlich dafür, ihr in der Arbeiterklasse und bei Intellektuellen Gehör zu verschaffen. Dass der Stalinismus der deutschen Arbeiterklasse seine reaktionäre Politik aufzwingen konnte, war keineswegs unvermeidlich. Brecht und sein Umfeld lasen die Schriften und Analysen Leo Trotzkis, aber akzeptierten seine Politik nicht.

Leo Trotzki

Dabei hätte gerade in Deutschland eine entschlossene Stellungnahme bekannter Intellektueller für die Politik Trotzkis viel bewirken können, denn die gesamte Geschichte der KPD in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zeigt, dass es Stalin und seinen Anhängern nicht leicht fiel, die Stalinisierung der KP und die Inthronisierung seiner Gewährsmänner um Ernst Thälmann durchzusetzen.

In dieser Zeit hing alles davon ab, die größte und stärkste soziale Kraft, die organisierte Arbeiterschaft gegen die faschistische Gefahr zu vereinen und mit einer korrekten Einschätzung der Lage und einer prinzipiellen sozialistischen Politik zu bewaffnen.

SPD, KPD und Gewerkschaften hatten viele Millionen Mitglieder. Noch im November 1932 überstieg die Zahl der Parlamentssitze von SPD und KPD mit 221 die der NSDAP mit 196. Der verhängnisvolle Kurs der KPD, die demagogisch und ultimatistisch die SPD und ihre Anhänger als „Sozialfaschisten“ bezeichnete, und der dann folgende Sieg der Nazis hatte mit einer „Fetischisierung der Arbeiterklasse“ durch linke, kleinbürgerliche Intellektuelle nichts zu tun. Sie war vor allem das Ergebnis der aus Moskau diktierten stalinistischen Politik.

Dass Brecht und etliche andere sich weiterhin im Dunstkreis der Stalinisten aufhielten, war keineswegs „realistisch“. Für die vielen katastrophalen Niederlagen und vor allem den Sieg Hitlers waren die Kommunistische Internationale und die verschiedenen stalinistischen Parteien Ende der 1920er und in den 30er Jahren verantwortlich. Sie schwächten die internationale Arbeiterklasse und auch die Lage der Sowjetunion selbst ganz enorm. Die gewaltige Katastrophe eines weiteren imperialistischen Krieges und der Holocaust waren nur möglich auf Grund der nationalistischen und konterrevolutionären Politik der stalinistischen Bürokratie.

Die Unterstützung vieler Intellektueller für das stalinistische Regime war nicht das Ergebnis von Missverständnissen oder unzureichenden Kenntnissen. Viele der kleinbürgerlichen „linken“ Künstler – von denen einige durchaus die ungeheuren Verbrechen von Stalins Regime erkannten – fühlten sich bei und in der Bürokratie mehr „zu Hause“ als bei Trotzki und seinem Vertrauen auf die Arbeiterklasse und das Programm der Weltrevolution.

Brechts unhaltbare Argumente über Stalins „Realismus“, dass die Sowjetbürokratie das „geringere Übel“ darstelle, wurden von unzähligen Dichtern, Malern, Romanschriftstellern und Filmemachern geteilt. Brecht wusste, um was es sich bei den Moskauer Schauprozessen handelte, aber er hielt seinen Mund.

Einmal zumindest rechtfertigte Brecht die Schauprozesse. Parker zitiert einen Brief an einen nicht genannten Empfänger. Darin schrieb Brecht: „Was die Prozesse betrifft, so wäre es ganz und gar unrichtig, bei ihrer Besprechung eine Haltung gegen die sie veranstaltende Regierung der Union einzunehmen, schon da diese ganz automatisch in kürzester Zeit sich in eine Haltung gegen das heute vom Weltfaschismus mit Krieg bedrohte russische Prole­tariat und seinen im Aufbau begriffenen Sozialismus verwandeln musste.“ Andere Intellektuelle äußerten sich ähnlich oder schlimmer. Sie unterzeichneten sogar Petitionen, die die Prozesse bejubelten.

Wie Trotzki in seiner Schrift Kunst und Revolution (1938) erklärte, hatte der Kapitalismus Künstler – wie Brecht und viele andere – radikalisiert, aber der Stalinismus hatte ihnen „eine kolossale Falle gestellt“. Eine ganze Generation der „linken“ Intelligenz hatte ihre Augen auf die Sowjetunion gerichtet, so Trotzkis Argument, „und ihr Schicksal mehr oder weniger eng, wenn nicht mit dem revolutionären Proletariat, so wenigstens mit der siegreichen Revolution verknüpft. Das ist nicht dasselbe. In der siegreichen Revolution gibt es nicht nur die Revolution, sondern auch jene neue privilegierte Schicht, die sich auf ihren Schultern erhoben hat. In Wirklichkeit hat die ‚linke‘ Intelligenz versucht, ihren Herrn zu wechseln. Hat sie dabei viel gewonnen?“ (Leo Trotzki. Literaturtheorie und Literaturkritik, München 1973, S.145)

Uns geht es nicht darum, Brecht zu dämonisieren oder ihn „wie ein Insekt an die Wand zu spießen“. Es ging um komplexe, objektive Probleme des politischen und kulturellen Lebens. Nur wenige Künstler bestanden die harten Prüfungen dieser Periode. Aber Brechts falsche Auffassung vom und seine Anpassung an den Stalinismus blieben unserer Meinung nach sowohl für die allgemeine kulturelle und politische Lage als auch für sein eigenes Werk nicht folgenlos.

Obwohl Brecht den Faschismus theoretisch als ein gefährliches Produkt des Niedergangs des Kapitalismus begriff und seine Klassenbasis im Kleinbürgertum identifizierte, unterschätzte er wie die KPD-Führung die konkrete Gefahr des Nationalsozialismus und war wie viele andere Intellektuelle und Künstler blind, was die Auswirkungen der stalinistischen Politik anging. Als Brecht sich mit dem Marxismus Ende der 1920er Jahre befasste, befanden sich die UdSSR und die KPD bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der stalinistischen Entartung. Die Alternative, für die die Linke Opposition eintrat, lehnte er ab.

Parker bezeichnet Brecht zwar als marxistischen „Häretiker“, weil er nicht in allen Fragen der offiziellen Linie der KPD bzw. der stalinistischen Bürokratie folgte, besonders in denen der Kulturpolitik vertrat er vehement andere Auffassungen. Aber mit der Bezeichnung „Häretiker“ unterstellt der Biograph implizit, dass es sich beim Stalinismus um orthodoxen „Marxismus“ gehandelt habe. Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass er die Begriffe Kommunismus, Stalinismus und Marxismus nahezu synonym verwendet.

Dass Parker hier nicht präzise unterscheidet, macht es ihm auch schwer, zu untersuchen, welche ästhetischen Probleme sich in Brechts „marxistischen“ Werken ergeben, die sich von seinen prall lebendigen, faszinierenden frühen Stücken so stark unterscheiden.

Die Verwendung des Begriffs „antifaschistische Literatur“, mit dem Parker Brechts Werk aus den 30er Jahren etikettiert, ist mehr als fragwürdig, weil er weder etwas über den Charakter der Werke aussagt, noch ihren politischen Kontext korrekt wiedergibt. Indem Brecht die verheerende Rolle der stalinistischen Führung für die Niederlage der Arbeiterklasse verkennt oder ignoriert, bleibt er dabei stehen, den Kapitalismus sehr abstrakt für Faschismus und Krieg verantwortlich zu machen, was auch viele seiner Charaktere gelegentlich holzschnittartigen Marionetten ähnlich werden lässt, an denen er etwas demonstrieren will.

Auch Brechts Hinwendung zu „Häretikern“, KPD-Dissidenten wie Karl Korsch, Fritz Sternberg, Bernhard von Brentano oder Jakob Walcher, die alle zwar den Stalinismus kritisierten, aber nicht von einem marxistischen Standpunkt aus, verhalf ihm nicht zu einer marxistischen Einschätzung des Nationalsozialismus und des Stalinismus und dessen verheerendem Einfluss auch auf dem Gebiet der Kulturpolitik.

In der Regel begnügt sich Parker, was Brechts Einstellung zum Stalinismus angeht, damit, dessen „Zwangslage“ ausführlich zu beschreiben, weil er als Exilant auf die Unterstützung aus Moskau angewiesen gewesen sei und daher die Bürokratie nicht offen zu kritisieren gewagt habe. Aber auch hier greift der Biograph historisch oft zu kurz. So stellt er es als selbstverständlich dar, dass eine Verteidigung der Sowjetunion gegen den Nationalsozialismus unweigerlich auch die Verteidigung der stalinistischen Bürokratie und den Kompromiss mit dieser einschließen musste.

In der in Dänemark geschriebenen ersten Fassung des Galileo Galilei, einem seiner interessantesten Stücke, spiegeln sich, wie Parker schreibt, Elemente der prekären Lage des Autors im Exil und sein Opportunismus gegenüber der stalinistischen Bürokratie wider. Auch seine großartige Lyrik enthält viele eindrucksvolle Beispiele einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den Problemen seines Lebens und der „finsteren Zeit“, in der er mit seiner Familie und seinen Weggefährtinnen ums Überleben kämpfte.

Ausführlich widmet sich Parker dem schwierigen Verhältnis Brechts zur Moskauer Bürokratie, einschließlich der KPD-Emigranten der Gruppe Ulbricht. Aber auch hier bringt er die Dinge nicht auf den Punkt. So berichtet er zwar über die Anfeindungen, denen Brecht von dieser Seite ausgesetzt war, besonders von Seiten der Vertreter des sozialistischen Realismus, wie ihn u. a. Fritz Erpenbeck, Alfred Kurella und Georg Lukàcs höchst unterwürfig verteidigten.

Brecht war bekanntlich alles andere als ein Anhänger des „sozialistischen Realismus“, den er als rückwärtsgewandte Methode geißelte, auch wenn er von Trotzkis prinzipieller Einschätzung dieser von der Bürokratie durchgesetzten Zwangsrichtung weit entfernt war, die nach Trotzki weder „Realismus“ noch „sozialistisch“ war, sondern „eine Art Konzentrationslager für das gestaltete Wort“ (Verratene Revolution). Aber Parker tendiert offenbar dazu, den „sozialistischen Realismus“ nicht als die Erstickung aller Kreativität durch die konterrevolutionäre Bürokratie zu sehen, sondern als eine mehr oder weniger angemessene und entschuldbare Tendenz unter diesen ungünstigen Bedingungen, Kunst zu produzieren.

Brecht war sich immerhin über die Rolle des „sozialistischen Realismus“ und seiner Tendenz, dem bürgerlichen Liberalismus und der Volksfront-Politik der Stalinisten Tür und Tor zu öffnen, ziemlich im Klaren. Das geht aus etlichen Andeutungen in seinen Briefen und Schriften hervor. Aber er wagte nicht, dies deutlich zum Ausdruck bringen, denn es hätte ihn unweigerlich als Trotzkisten in Verruf gebracht.

Die „Moskauer“ warfen Brecht pauschal „Formalismus“ vor. Sie nahmen ihn zwar in das Herausgeber-Kollektiv der Exil-Literaturzeitschrift Das Wort auf, druckten aber kaum etwas von ihm oder lehnten seine Vorschläge ab. Mehrfach wurde in den Kreisen der Ulbricht-Gruppe der Verdacht in den Raum gestellt, er sei Trotzkist, wie es seiner Freundin Carola Neher und ihrem Mann Anatol Bekker vorgeworfen wurde, die beide den Terror nicht überlebten.

Literarische Fragen waren, wie Parker zu Recht feststellt, angesichts der Säuberungen und der Moskauer Prozesse Fragen auf Leben und Tod. Das erklärt natürlich bis zu einem gewissen Grad, dass öffentliche Äußerungen Brechts darüber unterblieben, obwohl er einige (zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlichte) Texte und Gedichte verfasste, in denen er seine Zweifel ausdrückte.

Etliche von Brechts engen Freunden, Freundinnen und Mitarbeitern fielen dem stalinistischen Terror zum Opfer. Brecht versuchte zwar vorsichtig, ihr Schicksal zu erkunden, zog es aber vor, eine Strategie des sich Wegduckens zu verfolgen. In einigen unveröffentlichten Texten, die Parker zitiert, schwankt er zwischen der Rechtfertigung der Säuberungen und seiner eigenen Angst.

Walter Benjamin

Besonders ausführlich geht Parker auf Brechts Freundschaft zu Walter Benjamin ein, der ihm ein kongenialer Kritiker und Diskussionspartner war. Die Auseinandersetzungen mit Benjamin und das was darüber dokumentiert ist, bieten ein Reservoir an interessanten und aktuellen Anregungen zu Fragen einer fortschrittlichen Ästhetik. Mit ihm diskutierte Brecht auch die Rolle Trotzkis, die beide höchst widersprüchlich einschätzten. Einerseits hielt Brecht ihn für einen der größten Schriftsteller seiner Zeit, andererseits lehnte er vehement seine politischen Einschätzungen ab.

Sehr interessant sind auch die Kapitel in Parkers Buch, die die Zeit von Brechts Rückkehr aus dem amerikanischen Exil nach Europa und sein Leben in Ostberlin behandeln. Darin stützt er sich auch auf Archivmaterial über die heftigen Auseinandersetzungen in und um die Akademie der Künste. Parker schildert die Anfeindungen durch die Ulbricht-Bürokratie und die prekäre Lage, in die Brecht trotz all seiner diplomatischen Anpassungsversuche dadurch immer wieder geriet.

Brecht spielte in den kulturpolitischen Auseinandersetzungen von Künstlern und Intellektuellen in der jungen DDR eine wichtige Rolle, und viele der ebenfalls nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regime nach Deutschland zurückgekehrten Künstler und Intellektuellen orientierten sich an ihm oder unterstützen ihn, wie z. B. der damals in Leipzig lehrende Germanist Hans Mayer. Viele der Zurückgekehrten waren der von den Stalinisten verbreiteten Illusion zum Opfer gefallen, es solle ein vereinigtes, bürgerlich fortschrittliches Deutschland geschaffen werden, das unter ihrem Einfluss stand.

Dass Brecht – nicht zuletzt wohl auch durch Bekundung seiner Solidarität mit der Partei anlässlich des Arbeiteraufstands 1953 – und seine Frau Helene Weigel ein eigenes Ensemble und letztlich auch das Theater am Schiffbauerdamm erhielten, war alles andere als selbstverständlich. Die Erfolge, die seine Stücke und die Gastspiele des Berliner Ensembles im Ausland feiern konnten, machten es der Bürokratie schwer, radikaler gegen ihn vorzugehen. Er war zu einem wichtigen Aushängeschild der DDR geworden, auf das sie nicht so leicht verzichten konnte.

Ich benötige keinen Grabstein, aber
Wenn ihr einen für mich benötigt
Wünschte ich, es stünde darauf:
Er hat Vorschläge gemacht. Wir
Haben sie angenommen.
Durch eine solche Inschrift wären
Wir alle geehrt.

Brecht sah seine künstlerische Berufung darin, seine „Produktionsmittel“, das Theater, zu revolutionieren. Sein Ziel war es, das Theater im wissenschaftlichen Zeitalter zu einer Werkstatt der Erkenntnis zu machen, zu einem Ort, in dem sich das Publikum darüber klar wird, dass die Welt zu verändern und die sozialistische Revolution nötig und möglich ist. Aber die großen sozialen Probleme lassen sich nicht durch die Revolutionierung des Theaters, sondern nur durch die Revolutionierung der Gesellschaft selbst lösen. Der politische Apparat, mit dem er sich weiterhin einließ, war das größte Hindernis für diese gesellschaftliche Umwälzung. Brecht hat zwar „Vorschläge gemacht“, aber die stalinistische Bürokratie wollte sie beileibe nicht hören.

Helene Weigel

Die Intellektuellen und Künstler waren gespalten, was sein Werk und seine Theorien anging, und sind es bis heute. Aber entgegen seiner Hoffnung saßen die Herrschenden im Westen durch ihn keineswegs unsicherer. Nachdem sie ihn nicht mehr boykottieren oder ignorieren konnten, haben sie versucht, sein Werk zu vereinnahmen und ihn zum „Klassiker“ und zur Schullektüre zu erheben.

Heute existiert die „neue privilegierte Schicht“ in der UdSSR nicht mehr, auf die Trotzki sich 1938 bezog. Die Bürokratie der früheren Sowjetunion hat alle Errungenschaften der Oktoberrevolution dem Kapitalismus wieder in den Rachen geworfen. Aber trotz des Triumphgeheuls über das endgültige „Ende des Sozialismus“ konnte das kapitalistische Ausbeutersystem seine Widersprüche nicht überwinden und schlingert immer tiefer in seine tödliche Krise hinein.

Unerhörte soziale Ungleichheit, obszöner Reichtum, bittere Armut, Absenkung des Lebensstandards der breiten Massen, Kriege und Kriegsgefahr in allen Erdteilen, die durch Massenvernichtungswaffen das Ende der Menschheit herbeiführen können, all das stellt erneut die Aufgabe, die Gesellschaft zu revolutionieren. Brechts Werke bleiben für ein kritisches, historisch bewusstes Publikum aktuell. Stephen Parkers Biographie ist eine äußerst lesenswerte Eröffnung für diese Debatte.

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