Perspektive

Die „große Erzählung“ ist zurück

Die Welle sozialer Kämpfe, die sich zurzeit weltweit ausbreitet, lässt die antimarxistischen Intellektuellen, die die „große Erzählung“ des Arbeiterkampfs und der sozialistischen Revolution für überholt erklärt haben, in einem recht kläglichen Licht erscheinen.

Momentan liegt das Zentrum der weltweit aufflammenden Klassenkonflikte in Frankreich. Auch diese Woche gehen die Streiks und Demonstrationen gegen das El-Khomri-Gesetz weiter. Die damit verbundenen Arbeitsmarktreformen wurden letzten Monat unter dem Ausnahmezustand, den Präsident François Hollande nach den Terroranschlägen 2015 verhängt hatte, durchs Parlament gepeitscht.

Am Dienstag begann ein unbefristeter Streik bei der Staatsbahn SNCF, ab Donnerstag legen auch die Beschäftigten der Pariser Bahn und Metro die Arbeit nieder. Bei der zivilen Luftaufsicht soll ab Freitag gestreikt werden, sodass der Flugverkehr in weiten Teilen des Landes zum Erliegen kommen könnte. Zuvor gab es bereits Streiks mit Hunderttausenden Teilnehmern, u. a. bei Ölraffinerien, und Massendemonstrationen mit über einer Million Teilnehmern. Es kam zu Zusammenstößen mit Polizeikräften, die zuvor im Rahmen des Ausnahmezustands unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung mobilisiert worden waren.

In den USA, wo die Herrschenden und ihre Propagandisten die Existenz unterschiedlicher Gesellschaftsklassen seit jeher leugnen, traten letzten Monat Zehntausende Beschäftigte des Telekommunikationssektors in den Streik. Die Gewerkschaften sind fieberhaft bemüht, diesen Kampf abzuwürgen. Zuvor hatte sich bereits im Bundesstaat Michigan, der traditionellen Heimat der amerikanischen Autoindustrie, Widerstand gegen die Bleiverseuchung des Trinkwassers in Flint und die Zerstörung des öffentlichen Bildungswesens in Detroit herausgebildet. Das Anwachsen antikapitalistischer Stimmungen äußert sich auch in der großen Unterstützung für Bernie Sanders, den Bewerber um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten, den viele für einen Sozialisten halten.

Diese und zahlreiche weitere Kämpfe weltweit entfalten sich vor dem Hintergrund einer hartnäckigen Wirtschaftskrise, einer immer akuteren Kriegsgefahr und dem Sinken des Lebensstandards großer Teile der Bevölkerung.

Diese Entwicklung wird unweigerlich eine tiefgreifende politische und theoretische Umorientierung unter breiten Schichten in Gang setzen und die Vorstellungen untergraben, die seit einem halben Jahrhundert vorherrschend waren. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Ereignisse in Frankreich, denn der französische Streik vom Mai/Juni 1968 stellte einen wichtigen Wendepunkt in der Nachkriegspolitik dar.

Dieser Generalstreik, der größte in der Geschichte Europas, erschütterte den gaullistischen Staat in seinen Grundfesten und ließ den Sturz des Kapitalismus zu einer konkreten Aufgabe werden. Auf den Generalstreik in Frankreich folgte von 1968 bis 1975 eine weltweite Welle von Erhebungen, bei denen die Frage, wer die Staatsmacht ausübt, unmittelbar gestellt wurde. Diese Periode war gekennzeichnet von der massiven Bewegung der britischen Arbeiterklasse gegen die Tories, Streikbewegungen in Italien und Lateinamerika und dem Kampf der vietnamesischen Massen gegen den US-Imperialismus.

Aufgrund der Verrätereien des Stalinismus, der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften konnte der Kapitalismus diese Stürme überstehen und sich in den darauffolgenden Jahrzehnten wieder stabilisieren.

Breite Teile der Intelligenz, die erschrocken und demoralisiert auf diese Kämpfe reagierten, wandten sich nun schroff gegen den Marxismus. Vordergründig machten sie zwar die Arbeiterklasse für den Verrat ihrer Führung verantwortlich, in Wirklichkeit aber wurden sie von ihrer Furcht vor der Arbeiterklasse selbst getrieben. Im Angesicht einer nahenden Revolution verzichteten sie auf jedes linke Gehabe und warfen sich der herrschenden Klasse in die Arme.

In Frankreich war dieser Prozess besonders klar ausgeprägt. Hier ging er mit theoretischen Konzeptionen einher, die schließlich als Postmoderne bekannt wurden. Diese philosophische und politische Tendenz ging von der Prämisse aus, dass die große Welle revolutionärer Kämpfe, die mit der russischen Oktoberrevolution 1917 begonnen hatte, einem vergangenen und mittlerweile überwundenen Zeitalter angehörte.

Jean-François Lyotard fasste die Bedeutung des Begriffs „Postmoderne“ 1979 in seinem Werk „Das postmoderne Wissen“ zusammen. Die Postmodernisten nahmen laut Lyotard eine ungläubige Haltung gegenüber Metaerzählungen ein. „Die erzählerische Funktion verliert ihre Funktoren, ihren großen Helden, ihre großen Gefahren, ihre großen Reisen, ihr großes Ziel.“

Ein Jahr später formulierte André Gorz den gesellschaftlichen Inhalt von Lyotards Position auf plumpere Weise. In seinem Buch „Abschied vom Proletariat“ erklärte er: „Alle Versuche, die Grundlage der marxistischen Theorie vom Proletariat zu finden, sind Zeitverschwendung.“

Worin bestand die „große Erzählung“, die Lyotard ablehnte?

Es war die „Erzählung“, die allen voran Marx und Engels im Kommunistischen Manifest vorbrachten: dass die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften die Geschichte von Klassenkämpfen ist, und dass die Proletarier nichts zu verlieren haben als ihre Ketten.

Es war die prophetische Anklage gegen das kapitalistische System in Marx' Das Kapital:

„Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“

Es war die Charakterisierung des Staats von Friedrich Engels in seinem Werk Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, dieser sei nur ein Instrument der herrschenden Kapitalistenklasse zur Unterdrückung und Unterwerfung der unterdrückten Klassen:

„Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse.“

Und es war die Erklärung des russischen Revolutionärs Wladimir Lenin, die auch nahtlos auf die heutige Zeit der Kriege übertragen werden könnte:

„Der Imperialismus ist die Epoche des Finanzkapitals und der Monopole, die überallhin den Drang nach Herrschaft und nicht nach Freiheit tragen.“

Doch vor allem richtete sich der Unmut der Postmodernisten gegen den Revolutionär, der die Perspektive des Marxismus in Wort und Tat am gewandtesten ausdrückte: gegen Leo Trotzki, der in seiner Theorie der Permanenten Revolution erklärt hatte: „Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena.“ In seiner Geschichte der Russischen Revolution definierte er die Revolution als „gewaltsamen Einbruch der Massen in das Gebiet der Bestimmung über ihre eigenen Geschicke“.

Kurz zusammengefasst lehnten die postmodernen Theoretiker und die kleinbürgerlichen Gesellschaftsschichten, deren Interessen sie artikulierten, die Auffassung ab, dass die Gesellschaft in Klassen gespalten ist, dass der Staat ein Instrument der Klassenherrschaft darstellt, dass die objektive Logik der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung verstanden werden kann, dass der Kapitalismus die Menschheit in eine Katastrophe führt und dass es die Aufgabe der Arbeiterklasse ist, unter der Führung einer revolutionären Partei dieses überholte System im Weltmaßstab zu stürzen und eine neue Gesellschaft auf der Grundlage der Gleichheit vorzubereiten.

Entgegen den Verlautbarungen der antimarxistischen Theoretiker, der Marxismus sei tot und begraben, durchlebt eine neue Generation von Jugendlichen, Studierenden und Arbeitern nun die „große Erzählung“ des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, der sozialen Polarisierung, des Kriegs und der Diktatur. In den nächsten Monaten und Jahren werden Millionen die großen Werke des Marxismus studieren und sich daran orientieren, um die großen Aufgaben zu lösen, vor denen die Arbeiterklasse nach wie vor steht.

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