EU beharrt auf harter Haltung gegen Großbritannien

Regierungschefs und führende Vertreter der Europäischen Union (EU) beharrten am zweiten Tag des EU-Gipfels auf ihrer harten Haltung gegen Großbritannien.

Kaum war der britische Premierminister David Cameron Dienstagnacht aus Brüssel abgereist, trat Bundeskanzlerin Angela Merkel vor die Kameras und teilte Hoffnungen in Großbritannien eine Absage, dass die Austrittsentscheidung korrigiert werden könnte. „Ich will ganz offen sagen, dass ich keinen Weg sehe, dies wieder umzukehren“, erklärte Merkel.

Dies sei „nicht die Stunde von wishful thinking… Das Referendum steht da als Realität“, so die Kanzlerin. Sie begrüßte, dass schon im September ein weiterer informeller Gipfel ohne Großbritannien anstehe. Obwohl die britische Regierung bisher keinen Austrittsantrag nach Artikel 50 gestellt hat, der das Ausscheiden eines Landes aus der EU regelt, und formal nach wie vor Mitglied der EU ist, nahm Cameron am Treffen der 27 übrigen EU-Mitgliedsstaaten am Mittwoch nicht mehr teil.

Stattdessen will der Europäische Rat Leitlinien für den Austritt und das künftige Verhältnis zwischen der EU und Großbritanniens festlegen, berichtet die offizielle Website der deutschen Regierung. Laut Merkel seien sich auf dem Gipfel „alle einig“ gewesen, „dass es bis zu diesem Zeitpunkt der Antragstellung keine informellen oder formellen Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich geben kann“.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bekräftigte, die EU-Mitgliedsstaaten hätten Cameron aufgefordert, so schnell wie möglich Klarheit über den Austritt seines Landes zu schaffen.

„Wir haben nicht Monate Zeit zum Nachdenken“, sagte er nach dem Gipfeltreffen. In einer Pressekonferenz hatte er zuvor die Brexit-Befürworter heftig attackiert. Er könne diejenigen nicht verstehen, „die für den Austritt geworben haben, und dann vollkommen unfähig sind, uns zu sagen, was sie wollen“. Er sei davon ausgegangen, dass sie „einen Plan“ hätten.

Die deutsche Sozialdemokratie pries den harten Kurs. Der SPD-Vorsitzende und Vizekanzler Sigmar Gabriel sagte am Rande eines Treffens von sozialdemokratischen Spitzenpolitikern in Brüssel: „Angela Merkel hat deutlich gemacht, dass es keine Zwischenverhandlungen mit Großbritannien gibt, dass wir jetzt schnell zu Entscheidungen kommen müssen.“ Den Eindruck, „man würde sozusagen jetzt doch ein bisschen zurückhaltend sein“, habe sie „klar ausgeräumt“.

Bereits am Montag hatte Gabriel in einem Interview mit dem Handelsblatt erklärt, dass er selbst dann dafür sei, ein Exempel an London zu statuieren, wenn dies zum Auseinanderbrechen Großbritanniens führe. „Im Zweifel habe die Politik von Cameron und Johnson auch zur Folge, dass das Vereinigte Königreich zerbricht.“ Die Schotten und Nordiren hätten „ja deutlich gemacht, dass sie die EU nicht verlassen wollen“.

Hinter der harten Haltung steckt die Angst der deutschen und europäischen Eliten vor dem völligen Zusammenbruch der EU. Der Spiegel, der auf dem Cover seiner letzten Ausgabe die Briten noch in großen Lettern angefleht hatte, doch bitte in der EU zu verbleiben, verlangt nun in seinem aktuellen Leitartikel, das Land abzustrafen: „Die EU kann kein Interesse daran haben, dass Großbritannien der Ausstieg so leicht gemacht wird. Die Gefahr, dass das britische Beispiel Schule machte, wäre viel zu groß.“

Schon jetzt spürten „die populistischen EU-Kritiker in vielen Ländern Europas Auftrieb“. Sie „würden bestärkt, wenn auch nur der Anschein entstünde, die britische Wirtschaft könne den Abschied vom gemeinsamen Europa weitgehend unbeschadet überstehen“. Wenn nach dem Brexit ein Frexit oder ein Öxit – also ein Ausscheiden Frankreichs oder Österreichs – drohe, „wäre die Europäische Union am Ende. Und der Euro sowieso.“

Es sei deshalb „so wichtig, dass Europas Politiker alles tun, um einen solchen Flächenbrand zu verhindern“, so Der Spiegel.

Während die europäischen Regierungen verzweifelt bemüht sind, die sich verschärfende politische, wirtschaftliche und soziale Krise auf dem Kontinent zu kontrollieren, sehen sie den Brexit gleichzeitig auch als Chance, die EU in Bereichen „weiterzuentwickeln“, die bislang von Großbritannien blockiert wurden. Dazu zählt vor allem eine gemeinsame europäische Verteidigungs- und Sicherheitspolitik.

Merkel erklärte, nun sei die Zeit zum Handeln gekommen: „Die Welt ist in Unruhe, die Welt wartet nicht auf die Europäische Union, und wir müssen uns in der Europäischen Union mit den Folgen von Instabilität, Krisen und Kriegen in unserer Nachbarschaft auseinandersetzen und bereit sein, zu handeln.“

Im Zentrum des Treffens am Mittwoch stand ein Papier mit dem Titel „Globale Strategie für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik“ der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini. Einem Bericht der Welt zufolge ist es im vergangenen Jahr in enger Abstimmung mit dem deutschen Verteidigungsministerium erarbeitet worden.

Das Dokument ist eine Blaupause für die Entwicklung der EU zu einer aggressiven Weltmacht, die in der Lage ist, notfalls auch unabhängig von der Nato Krieg zu führen und militärisch zu intervenieren.

„Wir müssen als Europäer eine größere Verantwortung für unsere Sicherheit übernehmen. Wir müssen bereit und in der Lage sein, abzuschrecken, zu antworten und uns zu schützen gegenüber Aggressionen, Provokationen und Destabilisierung,“ heißt es. Die Nato sei zwar dazu da, ihre Mitglieder vor feindlichen Angriffen zu schützen. Trotzdem müssten die Europäer „besser ausgerüstet, trainiert und organisiert sein, um zu dieser kollektiven Aufgabe entscheidend beizutragen und – falls notwendig – autonom zu handeln.“

Im Rahmen einer „konzertierten und gemeinsamen Anstrengung“ müssten die militärischen Fähigkeiten verbessert werden. Dies erfordere „Investitionen in Verteidigung, die verbesserte Nutzung nationaler Ressourcen durch vertiefte Zusammenarbeit und eine solide europäische Verteidigungsindustrie“.

Geplant ist ferner eine koordinierte Aufstockung und gegenseitige Kontrolle der Rüstungsetats innerhalb der EU. Wichtig sei dabei, dass technisches Gerät, Logistik und Waffensysteme künftig möglichst miteinander kompatibel seien und nicht jedes Land seinen eigenen Kurs verfolge.

Das Dokument macht deutlich, dass es der EU um die Verfolgung wirtschaftlicher und geostrategischer Interessen auf dem gesamten Globus geht. Das Interesse der EU sei unter anderem „die Sicherung und der Schutz der Meere und der Seerouten, die kritisch für den Handel und den Zugang zu wichtigen Rohstoffen sind“. Die EU werde deshalb „zur weltweiten Sicherheit der Meere beitragen“ und dabei auf „ihre Erfahrungen im Indischen Ozean und im Mittelmeer aufbauen und Möglichkeiten im Golf von Guinea, im Südchinesischen Meer und der Straße von Malakka erkunden“.

In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung erklärte Mogherini, dass sie „nach gründlicher Überlegung“ entschieden habe, „die Strategie gerade jetzt auf den Tisch zu legen“. Als Gemeinschaft „kleiner und mittelgroßer Staaten“ müsse man zusammenhalten, „um in der Welt eine Rolle zu spielen“. Gerade jetzt sei „ein guter Augenblick, daran zu erinnern“. Das Referendum könne „dafür ein Weckruf sein“. Nicht nur für „EU-Institutionen“, sondern auch für „die Politiker in Berlin, Paris, Prag oder Dublin“.

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