Bedrohliche Anzeichen für Finanzkrise nach dem Brexit

In der vergangenen Woche haben in Großbritannien sechs große Immobilienfonds den Handel eingestellt, um ihre Barbestände zu schützen.

Damit sind Immobilienwerte von insgesamt über fünfzehn Milliarden Pfund eingefroren. Die größte Blockade der Finanzmärkte seit der Krise von 2008 könnte die Folge sein.

Die Fonds stoppten gezwungenermaßen den Rückkauf von Anteilen, weil immer mehr Anleger aus Angst vor einem Zusammenbruch des britischen Immobilienmarkts infolge des Brexit-Votums vom 23. Juni aussteigen und ihr Geld in Sicherheit bringen wollten.

Am Montag stellten die Gesellschaften M&G Investments, Aviva Investors und Standard Life Investments den Handel mit Anteilen an ihren Immobilienfonds ein. Am Mittwoch folgten Henderson Global Investors, Columbia Threadneedle und Canada Life. Letztere gab bekannt, dass die Schließung ihres Fonds bis zu sechs Monate aufrechterhalten werden könnte.

Laith Khalaf, ein hochrangiger Analyst der Wertpapierfirma Hargreaves Landsdown, schrieb in einer Mitteilung an Kunden: „Über die Hälfte des Immobilienfondssektors liegt inzwischen auf Eis“, und das werde auch so bleiben, bis die Manager genug Bargeld beschaffen könnten, um verkaufswillige Anleger auszuzahlen. „Die Gefahr ist, dass dies erst der Anfang ist und wir in den kommenden Wochen und Monaten weitere Immobilienfonds mit ähnlichen Reaktionen sehen werden“, erklärte er.

Sollten die Fonds gezwungen sein, Gewerbeimmobilien zu verkaufen, um ihre Verbindlichkeiten begleichen zu können, besteht die reale Gefahr, dass sie dadurch die Immobilienpreise weiter nach unten drücken und eine Kettenreaktion auslösen, die zur Katastrophe führt.

Ein Sprecher des britischen Financial Ombudsman Service (einer Verbraucherberatungsstelle für den Finanzsektor) erklärte, man habe zwar damit gerechnet, dass der Handel teilweise eingestellt werden müsse, doch sei das Ausmaß „Besorgnis erregend“.

Der Markt für Gewerbeimmobilien ist besonders anfällig für den Brexit-Schock, weil die Politik des billigen Geldes, die die Bank of England und andere Zentralbanken seit 2008 betreiben, den Zufluss von Kapital nach London und Südostengland angekurbelt hat. Die Fonds vergeben langfristige Kredite für die Finanzierung von Bauprojekten, leihen sich selbst aber kurzfristig Geld, bieten also Anlegern die Möglichkeit, kurzfristig wieder auszusteigen. Eben dieses Geschäftsmodell hatte 2007 zur Pleite der britischen Northern Rock Bank geführt.

Die Entscheidung für den Brexit hat unmittelbare Auswirkungen auf den aufgeblähten Immobilienmarkt, weil befürchtet wird, dass Finanz- und Investmentfirmen ihre europäischen Zentralen auf den Kontinent verlegen, um weiterhin Zugang zu den EU-Märkten zu haben. Laut der Financial Times wurden in der Woche nach dem Brexit große Gewerbeimmobilienvorhaben im Wert von mindestens 650 Millionen Pfund aufgegeben.

Diese Turbulenzen könnten schnell vom Gewerbeimmobilienmarkt auf das Finanzsystem als Ganzes übergreifen. Keenan Vyas, einer der Geschäftsführer des Finanzberaters Duff & Phelps, warnte vor weitreichenden Folgen: „Wenn weiterhin in kurzer Zeit starker Druck besteht, könnte es zu einer Welle von Verkäufen unter Buchwert und einer allgemeinen Anpassung der Preisgestaltung für Immobilien auf dem britischen Markt kommen.“

Verkäufe unterhalb des Buchwerts bedeuten, dass Firmen, die sich Geld geliehen haben, weil sie mit weiterhin steigenden Immobilienpreisen rechneten, ihre Schulden nicht mehr zurückzahlen können. Damit würde die Krise auf das Bankensystem übergreifen.

Die Lloyds Banking Group und die Royal Bank of Scotland könnten schwer in Mitleidenschaft gezogen werden. Sandy Chen, Analyst bei der britischen Wertpapierfirma Cenkos, erklärte: „Beide haben große Portfolios in Gewerbeimmobilien. Das bevorstehende Sinken der Immobilienpreisindizes wird dazu führen, dass sie ihre Rückstellungen erhöhen müssen.“ Die höheren Rückstellungen für faule Kredite wiederum werden sich nachteilig auf ihre Bilanzen auswirken.

Insgesamt haben die größten Banken in Großbritannien 69 Milliarden Pfund in den 800 Milliarden Pfund schweren britischen Immobilienmarkt investiert.

Der Abverkauf betrifft nicht nur Immobilien, sondern gefährdet auch die finanzielle Stabilität Großbritanniens. Dessen „großes Leistungsbilanzdefizit“ kann nur durch einen ständigen Kapitalzufluss finanziert werden, wie die Bank of England (BoE) in ihrem letzten Stabilitätsbericht erklärte.

Gewerbeimmobilien waren eine der wichtigsten Quellen ausländischen Kapitals, doch laut der BoE sind diese Investitionen aus dem Ausland im ersten Quartal 2016 um fast die Hälfte gesunken. Zudem seien die „Bewertungen in einigen Segmenten des Marktes überzogen“ – eine beschönigende Umschreibung für eine Spekulationsblase auf dem Gewerbeimmobilienmarkt.

Der Bericht der BoE weist auf den hohen Verschuldungsgrad der Privathaushalte in Großbritannien und die Anfälligkeit dieser Haushalte für erhöhte Arbeitslosigkeit hin, ferner auf „Funktionsschwächen des Finanzmarkts, die in einer Periode erhöhter Marktaktivität und Unbeständigkeit bedrohlich werden können“, und auf „ein gedämpftes Wachstum der Weltwirtschaft, u. a. im Euroraum, das durch eine längere Periode erhöhter Unsicherheit weiter verlangsamt werden könnte“.

Aufgrund der zunehmenden finanziellen Turbulenzen verliert das britische Pfund an Wert. Vor dem Brexit-Votum lag es sein Wechselkurs bei 1,50 US-Dollar, mittlerweile ist es bei 1,30 USD angelangt und könnte laut Prognosen auf bis zu 1,15 USD sinken.

Auf dem internationalen Anleihenmarkt hat eine panische Flucht in sichere Anlageformen eingesetzt, die die Kurse für Anleihen nach oben und ihre Erträge entsprechend nach unten getrieben hat.

Am Dienstag sanken die Zinsen auf amerikanische Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit auf einen Rekordtiefstand von 1,375 Prozent; deutsche und japanische Staatsanleihen mit langer Laufzeit bewegten sich im Negativbereich. Die Verzinsung australischer Staatsanleihen ist zwar noch positiv, erreicht aber ebenfalls neue Tiefststände. Der Gesamtwert der Anleihen mit Negativzinsen ist im letzten Monat um mehr als eine Billion US-Dollar auf fast zwölf Billionen gestiegen.

Die Folgen des Brexit bleiben nicht auf Großbritannien beschränkt. Von dem Abverkauf, der unmittelbar auf das Referendum vom 23. Juni folgte, waren die italienischen Banken, die etwa 360 Milliarden Euro faule Kredite in ihren Büchern führen, mit am stärksten betroffen. Der größte italienische Gläubiger, die UniCredit SpA, büßte in diesem Jahr bereits 60 Prozent ihres Börsenwerts ein.

Der Vorsitzende des französischen Finanzinstituts Société Générale Bini Smaghi, der früher einmal Vorstandsmitglied der Europäischen Zentralbank war, warnte am Mittwoch in einem Interview mit Bloomberg, die Bankenkrise des Landes könnte auf das übrige Europa übergreifen. Um das zu verhindern, forderte er, die Regeln zur Begrenzung direkter staatlicher Hilfe an Banken zu überdenken.

Er erklärte: „Der ganze Bankensektor steht unter Druck. Wir haben Regeln für die Finanzierung aus öffentlichen Mitteln eingeführt, aber diese Regeln müssen überdacht werden, weil auf dem Markt eine potenzielle Krise herrscht. Wir müssen entscheiden, ob wir diese Regeln aussetzen müssen.“

Laut EU-Recht dürfen nationale Regierungen ihre Bankensysteme nicht unmittelbar mit staatlichen Geldern stützen. Doch der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi hat dies in Frage gestellt, als er sich bereit erklärte, für die großen Banken des Landes nötigenfalls bis zu 40 Milliarden Euro an Steuergeldern aufzuwenden. Der Hauptgegner eines solchen Vorgehens, der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble, erklärte bei einer Pressekonferenz demonstrativ, sein italienischer Amtskollege müsse sich an die Regeln der Bankenunion halten.

Smaghi erklärte jedoch, wenn der Staat nicht einschreite, sei eine systemweite Krise möglich. Es gebe in Deutschland und Italien zu viele Banken, die italienische Regierung müsse daher politisch unpopuläre Maßnahmen ergreifen, darunter Fusionen, die zum Verlust von Arbeitsplätzen führen könnten.

Er warnte auch, Großbritanniens Pläne, durch Steuersenkungen für Unternehmen Investoren anzulocken, könnten einen Wettkampf um die niedrigsten Steuern in ganz Europa auslösen.

Neue Bankenrettungen und ein Unterbietungswettkampf bei den Unternehmenssteuern bedeuten weitere Angriffe auf die Arbeiterklasse, beispielsweise weitere Kürzungen bei den Sozialleistungen.

Unabhängig von den unmittelbaren Folgen des Brexit machen die bitteren Erfahrungen der Krise von 2008 und ihres Nachspiels zweierlei deutlich:

Zum einen, dass die Eliten keine Lösung für die Krise wissen. Sie haben in den letzten acht Jahren die Voraussetzungen für einen noch schlimmeren Crash geschaffen. Zum anderen, dass alle ihre Maßnahmen die Lage der Arbeiterklasse in Britannien und ganz Europa nur verschlimmern werden.

Loading