Perspektive

Die Amtsenthebung von Präsidentin Rousseff in Brasilien

Mit einem Abstimmungsergebnis von 61 zu 20 Stimmen waren am Mittwoch letzter Woche im brasilianischen Senat die langwierigen Bemühungen erfolgreich, die Präsidentin von der Arbeiterpartei (PT), Dilma Rousseff, abzusetzen. Gleichzeitig kam mit Michel Temer von der Partei der Brasilianischen Demokratischen Bewegung (PMDB) ein nicht gewählter Präsident ins Amt. Damit kam die rechteste Regierung des Landes seit dem Ende der US-gestützten Militärdiktatur vor drei Jahrzehnten an die Macht.

In der ersten öffentlichen Stellungnahme nach seiner Vereidigung erklärte der ehemalige Vizepräsident und enge politische Verbündete Rousseffs, er werde es nicht länger dulden, Golpista (Putschist) genannt zu werden. Er betonte, die Regierung müsse „sehr streng“ mit ihren Kritikern umgehen.

Diese Richtlinie wurde prompt in die Praxis umgesetzt, indem die Militärpolizei und Stoßtrupps der Regierung die vereinzelten Proteste gegen die Amtsenthebung unterdrückten. In Sao Paulo griff die Polizei die Demonstranten gewaltsam an. Sie setzte dabei Tränengas und Blendgranaten ein. Mehrere Menschen wurden verletzt, darunter eine 19 Jahre alte Studentin, deren Auge von einer Blendgranate verletzt wurde.

Die führende Tageszeitung des Landes, Folha de S.P. reagierte auf diese Ereignisse, indem sie ein noch härteres Vorgehen verlangte. In einem Editorial warnte sie finster: „Demokratien, die nicht in der Lage sind, gewalttätige Fanatiker zu unterdrücken, geraten in Gefahr, [die Erfahrung] der Weimarer Republik in Deutschland aus den 1930er Jahren zu wiederholen, die der Gewalt auf der Straße zum Opfer fiel und dann der schlimmsten Diktatur Platz gemacht hat, die es je gab.“

Das ist die Sprache einer kapitalistischen herrschenden Klasse, die entschlossen ist, den Regierungswechsel zu nutzen, um weitreichende Sparmaßnahmen durchzusetzen. Damit soll die volle Last der tiefsten wirtschaftlichen Krise Brasiliens seit einem Jahrhundert der Arbeiterklasse aufgebürdet werden. Sie fordert die Senkung des Lebensstandards der breiten Massen der Bevölkerung und der Ausgaben für lebenswichtige Sozialleistungen, um die Profite des brasilianischen und internationalen Kapitals zu erhöhen.

Wie das Editorial in Folha erkennen lässt, ist die Finanzoligarchie Brasiliens bereit, weit über die Verbrechen der Militärjunta hinauszugehen, die das Land nach dem CIA-gestützten Putsch von 1964 regiert hat.

Tener hat bereits die ersten Schritte seines reaktionären Programms vorgestellt. Dazu gehören drastische Kürzungen im Sozialrentensystem, das Einfrieren der Ausgaben für das Gesundheitswesen, für das Bildungswesen und andere wichtige soziale Dienstleistungen für die nächsten 20 Jahre, die Aushöhlung der Arbeitsgesetzgebung, die generelle Privatisierung der Staatsunternehmen und der Infrastruktur. Es werden Vorschläge erarbeitet, um zum ersten Mal zu erlauben, dass ausländische Unternehmen brasilianisches Land kaufen und dass große ausländischen Ölmultis die riesigen unterseeischen Erdölfelder vor der südöstlichen Küste des Landes direkt ausbeuten dürfen.

Rousseff, die PT und ihre Anhänger haben die Amtsübernahme von Temer als „Putsch“ verurteilt. In Bezug auf das, was der Regierungswechsel für die Arbeiterklasse bedeutet, gibt es keinen Zweifel, dass ein solch dramatischer Ausdruck gerechtfertigt ist. Doch wenn man es einen Putsch nennt, dann muss man auch hinzufügen, dass die PT ein direkter und unabdingbarer Mitverschwörer war.

Rousseffs Popularität hat vor ihrer Absetzung einen Einbruch bis in den einstelligen Prozentbereich erlebt. Die objektive Basis für ihre enorme Unbeliebtheit war die Krise des brasilianischen Kapitalismus, die heute tiefer ist als in den 1930er Jahren. Es gibt mittlerweile fast 12 Millionen Arbeitslose, die Reallöhne sinken und die Armut sowie die soziale Ungleichheit nehmen erneut zu.

Nach ihrer Präsidentschaftswahlkampagne 2014 stieg die Wut über Rousseff in der Arbeiterklasse stetig an. Während ihres Wahlkampfs versprach sie, die Arbeitsplätze zu sichern und die Bedingungen für die Arbeiter zu verbessern. Als sie wiedergewählt war, setzte sie genau das Programm von „Haushaltsanpassungen“ durch, das sie bis dahin angeblich abgelehnt hatte. Unter Temer wird es jetzt beschleunigt umgesetzt.

Unter den privilegierteren Teilen des Kleinbürgertums steigerte sich die Wut auf Rousseff zu einer rechten Raserei. Sie behaupten, die Arbeiterpartei verhindere den Aufstieg Brasiliens in die „erste Welt“ und habe Geld in minimale soziale Hilfsprogramme für die Armen geleitet, von dem diese egoistischen Schichten glauben, es gehöre rechtmäßig ihnen.

In allen Schichten der Bevölkerung ist die Abscheu gegenüber dem gesamten Politikbetrieb gewachsen. Der Grund dafür sind die fortlaufenden Enthüllungen im Korruptionsskandal „Autowäsche“ (Lava Jato), bei dem es um Milliarden Dollar an Schmiergeldern bei dem halbstaatlichen Energieriesen Petrogas geht. Es hat zwar so gut wie jede politische Partei ihre Hände dabei im Spiel, der Skandal hat sich jedoch unter der Präsidentschaft von Rousseff entwickelt, die den Vorsitz des Konzerns innehatte, sowie unter ihrem Vorgänger, dem ehemaligen Führer der Metallarbeitergewerkschaft, Luiz Inacio Lula da Silva, der im Zusammenhang mit diesem Bestechungsskandal selber wegen Behinderung der Justiz angeklagt wurde.

Rousseff und die PT waren weder in der Lage noch willens, sich wegen des Amtsenthebungsverfahrens an die Arbeiterklasse zu wenden. Die Arbeiterpartei stützt sich trotz ihres Namens nicht auf die Arbeiterklasse. Sie ist eine bürgerliche Partei, die sich hauptsächlich auf die obere Mittelschicht stützt; dazu gehören Akademiker, Gewerkschaftsbürokraten und politische sowie staatliche Funktionäre.

Die Partei versuchte, an der Macht zu bleiben, indem sie an ihre ehemaligen politischen Verbündeten appellierte, an korrupte und rechte bürgerliche Politiker, die die Amtsenthebung organisiert hatten. Sie argumentierte, dass sie aufgrund ihrer Verbindungen zu dem der PT angeschlossenen Gewerkschaftsbund CUT und den staatlich unterstützten „sozialen Bewegungen“ besser in der Lage sei, den Klassenkampf unter Kontrolle zu halten, wenn drakonische Sparmaßnahmen verhängt würden. Letztendlich haben dann das herrschende Establishment Brasiliens und die Wall Street entschieden, dass dafür ein drastischer Regimewechsel erforderlich ist.

Zwar hat die PT den Weg für die augenblickliche Situation geebnet, man muss aber auch erwähnen, dass die Vielzahl an linken Organisationen, die eine entscheidende Rolle bei der Gründung und Unterstützung der PT gespielt haben, die politische Verantwortung für die extremen Gefahren tragen, mit denen die Arbeiterklasse Brasiliens jetzt konfrontiert ist.

Die führende Rolle bei diesem politischen Projekt spielten Organisationen, die mit der trotzkistischen Bewegung, dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale, gebrochen haben. In den 1960er Jahren vertraten diese Gruppen die Theorie, dass der Castroismus und der kleinbürgerliche Guerillakampf einen neuen Weg zum Sozialismus darstellten. Durch diesen sei der Kampf zum Aufbau von marxistischen Parteien in der Arbeiterklasse überflüssig geworden. Überall in Lateinamerika hat diese Theorie zu katastrophalen Niederlagen der Arbeiterklasse beigetragen, die in jahrzehntelangen Militärdiktaturen endeten.

In den letzten Tagen des brasilianischen Militärregimes hatten sich eben diese Elemente vor dem Hintergrund massiver Streiks und militanter Kämpfe der Studenten mit Teilen der Gewerkschaftsführung, der katholischen Kirche und linken Akademikern zusammengetan, um die Arbeiterpartei zu gründen. Wieder einmal hatten sie einen Ersatz für den Aufbau einer revolutionären Partei und den Kampf für sozialistisches Bewusstsein in der Arbeiterklasse gefunden. Die PT sollte für Brasilien den einzigartigen parlamentarischen Weg zum Sozialismus darstellen. Dieser Weg hat jetzt in eine Sackgasse geführt.

Keine der Organisationen hat auch nur versucht, die Lehren aus dieser strategischen politischen Erfahrung zu ziehen, und erst recht bieten sie heute keine revolutionäre Alternative an. Stattdessen werden sie durch den Schiffbruch der PT alle nach rechts und in die Krise getrieben.

Die PSTU (Vereinigte Sozialistische Arbeiterpartei), die auf Nahuel Moreno zurückgeht, hat bei einer Spaltung die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Bei der Spaltung ging es um die rechte Politik der Gruppe unter der Parole: „Werft sie alle hinaus“. Damit hat sie im Endeffekt die Amtsenthebung unterstützt und sich an die rechten kleinbürgerlichen Proteste angepasst. Diejenigen, die sich abgespalten haben, streben eine „Einheit aller Linken“ an, was auf die Unterordnung der Arbeiterklasse unter die PT und ihre Verbündeten hinausläuft.

Die pablistischen Revisionisten teilen sich in diejenigen, die innerhalb der PT geblieben sind, und diejenigen, die zusammen mit einer parlamentarischen Fraktion die PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit) gebildet haben. Letztere stützen sich auf die bankrotte Perspektive, man müsse zu den „ursprünglichen“ Prinzipien der PT zurückkehren. Ebenfalls dieser Partei beigetreten sind die brasilianischen Anhänger der argentinischen Moreno-Fraktion der PTS (Sozialistische Arbeiterpartei). Diese Elemente ignorieren die Auswirkungen des Putsches und widmen sich der Kampagne für die Kommunalwahlen im nächsten Monat. Die Spitzenkandidatin der PSOL bei diesen Wahlen ist Luiza Erundina, die ehemalige Bürgermeisterin von Sao Paulo, die durch eine Reihe von rechten bürgerlichen Parteien gegangen ist, bevor sie sich einverstanden erklärte, auf der Wahlliste der PSOL zu kandidieren.

Da die Arbeiterpartei völlig diskreditiert ist, widmen sich alle diese Gruppen der Aufgabe, entsprechend dem Vorbild „linker“ bürgerlicher Parteien wie Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien, eine neue politische Falle für die Arbeiterklasse aufzubauen.

Trotz ihrer Bemühungen steht eine explosive Entwicklung des Klassenkampfs auf der Tagesordnung. In der Konfrontation, die sich jetzt entwickelt, kämpft das Finanzkapital nicht nur in Brasilien gegen die Arbeiterklasse, sondern in ganz Lateinamerika. Als größte Wirtschaftsmacht der Region mit umfangreichen Investitions- und Handelsbeziehungen zu allen benachbarten Staaten wird sich die Politik, die in Brasilien gemacht wird, sehr rasch über die Staatsgrenzen hinaus auswirken. Sie wird überall auf dem Kontinent den anhaltenden Rechtsruck und die Angriffe auf die Arbeiterklasse verschärfen.

Der Angriff auf die brasilianischen Arbeiter betrifft den gesamten Kontinent und ist gleichzeitig ein globaler Angriff. Um erfolgreich dagegen zu kämpfen, ist die unabhängige politische Mobilisierung der Arbeiterklasse in ganz Lateinamerika und international notwendig.

Die brasilianische Arbeiterklasse kann sich nur verteidigen, wenn sie zusammen mit den Arbeitern Nordamerikas für den Aufbau einer vereinten Bewegung mit der gesamten lateinamerikanischen Arbeiterklasse kämpft. Ihr gemeinsamer Kampf muss sich gegen das Finanzkapital und die transnationalen Konzerne richten, von denen alle ausgebeutet werden.

Der Kampf für ein solches Programm erfordert den entschiedenen Bruch mit der Arbeiterpartei und allen ihren pseudolinken Anhängseln, die in Brasilien und überall in Lateinamerika die bürgerliche Herrschaft stützen. Die dringliche Aufgabe bleibt die Entwicklung einer revolutionären Führung und Perspektive. Dazu ist es erforderlich, sich die lange Geschichte des Kampfs des Trotzkismus anzueignen, die im Internationalen Komitee der Vierten Internationale verkörpert ist.

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