Bill Brust 1919-1991: Das Leben eines trotzkistischen Kämpfers

Am 15. September 1991 starb der trotzkistische Veteran Bill Brust. Sechs Wochen nach Bills Tod fand in Minneapolis eine Gedenkveranstaltung zu seiner Erinnerung statt. Wir veröffentlichen hier die Rede, die David North auf dieser Veranstaltung am 27. Oktober 1991 hielt. Sie ist in dem Buch Defending Principles: The Political Legacy of Bill Brust enthalten, einer Zusammenstellung von Würdigungen und Schriften Bills aus den Jahren seiner aktiven politischen Arbeit in der Workers League.

Es ist knapp zwei Monate her, Ende August, dass ich mit Bill sprach. Wir beide wussten, dass es das letzte Mal sein würde. Er war sogar eigens zum Telefon gekommen, um sich zu verabschieden. Er verstand den Ernst seiner Krankheit und war sich völlig bewusst, dass sein Leben zu Ende ging.

Bill Brust

Trotzdem bewahrte Bill nicht nur seine Haltung, sondern auch seine Objektivität. Er wusste, dass die Periode seines eigenen Beitrages zum Kampf für den Sozialismus vorbei war. Aber er war zutiefst überzeugt, dass er in seinem Leben dazu beigetragen hatte, die Grundlagen zu schaffen, auf denen die jüngeren Generationen aufbauen würden. Es war diese innere Gewissheit, die ihm half, mit einem solchen Mut und einer solchen Ruhe seinem unmittelbar bevorstehenden Tod zu begegnen.

In diesem letzten Gespräch sagte ich ihm, dass ich hoffe, dass wir alle, wenn unsere Zeit gekommen ist, zu einem solchen Mut und solcher Stärke fähig sein werden, wie er sie in den letzten Monaten seines Lebens aufbrachte. Und doch ergab sich die Art und Weise, wie er dem Tod entgegentrat, direkt daraus, wie er 72 Jahre lang gelebt hatte.

Bill Brust wurde 1919 im ungarischen Budapest geboren. Es war ein denkwürdiges Jahr in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ein Jahr, das begonnen hatte mit dem Spartakus-Aufstand in Deutschland und dem Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, zwei historischen Persönlichkeiten, für die er übrigens große Achtung empfand. Es war auch das Jahr der Gründung der Kommunistischen Internationale und der brutalen Unterdrückung des Stahlarbeiterstreiks in den USA. Die Ereignisse von 1919 haben im Leben von Bill Brust keine geringe Rolle gespielt, denn es war in der Folge der Niederlage der ungarischen Revolution, dass Bill und seine Familie in die USA auswanderten und sich in Minneapolis niederließen.

Bills Jugend und Erziehung fand vor dem Hintergrund des Aufstiegs des Faschismus in Europa, der Weltwirtschaftskrise, der CIO-Bewegung in den Vereinigten Staaten und natürlich dem nahenden Weltkrieg statt. Die besten Vertreter der Generation, die in dieser Zeit aufwuchs, zu denen Bill auf jeden Fall gezählt werden muss, nahmen die Welt und ihre eigene Rolle in ihr sehr ernst. Sie spielten nicht mit Ideen. Sie sahen Ideen und die Diskussion über Ideen nicht als ein Spiel an. Statt dessen dachten sie über die Gesellschaft nach. Sie lasen London, Dreiser, Dos Passos, Lewis und fingen an, die herrschende Klasse zu verachten. Sie lasen diese Werke nicht, um sich zu unterhalten, sondern vor allem, um sich auszubilden. Sie wehrten sich leidenschaftlich gegen die Ungerechtigkeit der Welt und glaubten, dass das einzig lebenswerte Leben eines sei, dass von großen historischen und moralischen Prinzipien bestimmt werde. Diese Prinzipien fanden die weitsichtigsten Vertreter dieser Generation in den Klassikern des Marxismus.

Bill wuchs in Minneapolis heran, einer Stadt, die von Charles Walter als kämpferisch und impulsiv beschrieben wird. Schon in seiner Jugend wuchs er aus dem radikalen Populismus heraus, der so tief in der Geschichte und den Traditionen Minnesotas verwurzelt ist, und suchte nach einem festeren Fundament für seine antikapitalistischen Gefühle als das, welches ihm die Farmer Labor Party bieten konnte. Der Generalstreik von 1934 in Minneapolis zeigte die entscheidende Rolle der revolutionären Führung, die Kämpfe der Arbeiterklasse zu organisieren und zu führen. Aber Bill war noch zu jung und unerfahren, um zu wissen, dass hinter der heroischen Rolle, die die Dunne-Brüder in den großen Streiks von 1934 gespielt hatten, ihre Beteiligung an dem politischen und theoretischen Kampf der trotzkistischen Bewegung gegen den Stalinismus stand. So trat Bill zuerst der Young Communist League, der stalinistischen Jugendorganisation bei. Aber sobald er im reifen Alter von 19 Jahren verstand, dass das Programm und die Traditionen der Oktoberrevolution nicht von den Führern des sowjetischen Staates und ihrem internationalen Anhang verteidigt wurden, sondern von Trotzki und seinen verfolgten Anhängern, wurde Bill zum Anhänger der Vierten Internationale.

Bei dieser maßgeblichen Entscheidung über eine der schwierigsten politischen Fragen zeigte Bill schon die herausragenden Charaktereigenschaften, die den gesamten Verlauf seines Lebens bestimmen sollten: eine kompromisslose Ehrlichkeit und eine völlig selbstlose Hingabe für die Sache der Arbeiterklasse, die es ihm immer wieder ermöglichte, in allen wichtigen politischen Problemen, mit denen er konfrontiert war, die Prinzipienfragen zu erkennen. In seiner tagtäglichen Arbeit machte Bill Fehler wie wir alle. Gelegentlich waren Bills Einschätzungen über zweitrangige politische Fragen ungenau oder sogar falsch. Aber wenn es sich um Fragen handelte, die die grundlegenden Prinzipien und die Interessen der Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Avantgarde, die Richtung und das Schicksal der internationalen sozialistischen Bewegung, d.h. die Überlebensfragen der Menschheit betrafen, konnte Bill Brust zusammen mit seiner Frau Jean immer vom Grunde seines Herzens aus die notwendige Antwort finden.

Es kann nicht behauptet werden, dass Bills jugendliche Hingabe an den Sozialismus an sich besonders außergewöhnlich war. Er war Teil einer Generation, die durch die Russische Revolution inspiriert wurde und sich mit dem großen Aufschwung der amerikanischen Arbeiterklasse in den dreißiger Jahren identifizierte. Was Bill auszeichnete, war die Tiefe und die Ernsthaftigkeit seiner sozialistischen Überzeugung. Es ist etwas ganz anderes, unter dem revolutionären Banner in den Tagen zu kämpfen, in denen sich die Massen in einem offenen Kampf gegen die alte Ordnung befinden, als das sozialistische Programm und seine revolutionären Traditionen in einer langen Periode der politischen Reaktion zu verteidigen.

Als Bill erst dreißig war, war die heroische Periode der CIO-Bewegung bereits zu Ende gegangen. Der Kapitalismus hatte in der Folgezeit des Zweiten Weltkriegs durch die Verrätereien des Stalinismus weltweit und in den Vereinigten Staaten noch eine neue Lebensfrist bekommen. Die amerikanische Kommunistische Partei half der rechten Gewerkschaftsbürokratie, ihre Macht innerhalb der Gewerkschaften zu festigen, nachdem sie alles getan hatte, um das revolutionäre Potential der CIO-Bewegung zu zerstören. Trotz ihres langen prinzipiellen Kampfes gegen den Stalinismus konnte die SWP den politischen Konsequenzen, die sich aus der Stabilisierung des Kapitalismus ergaben, nicht entrinnen. Das zunehmend reaktionäre Klima führte dazu, dass ihr Einfluss in der amerikanischen Arbeiterklasse geschwächt wurde. Die Kader der SWP, wie Bill und Jean, die in den gewerkschaftlichen Kämpfen zwischen 1946-48 eine herausragende Rolle gespielt hatten, wurden mehr und mehr isoliert.

Das waren die Bedingungen, die für das Wachstum von opportunistischen Tendenzen in der SWP ein günstiges Klima schufen. Die revisionistischen Formulierungen, die in Europa von Mandel und Pablo entwickelt wurden und die besagten, dass der Stalinismus immer noch eine progressive Rolle zu spielen habe, weil die von der sowjetischen Bürokratie eingesetzten Marionettenregime in Osteuropa die Kapitalisten enteignet hatten - diese Revisionen dienten jenen in der SWP, die nach einem schnellen Weg aus der revolutionären Bewegung suchten, als willkommener Vorwand.

Die Unterstützer des Pablismus in den USA, Cochran und Clarke, machten die berüchtigte Parole „Auf den Müll mit dem alten Trotzkismus“ zu ihrem Schlachtruf. Sie erklärten, dass die Ideen und das Programm Trotzkis keine Bedeutung mehr hätten und die SWP nur davon abhielten, sich in die sogenannten wirklichen Massenbewegungen zu integrieren. Die Cochranisten machten sich über die Verteidiger des „orthodoxen Trotzkismus“ lustig und bezeichneten sie als „Museumsstücke“, die die historische Bedeutung der Vierten Internationale bei weitem übertrieben.

Ich traf Bill zwar erst viele Jahre später, aber ich kann mir vorstellen, wie es in ihm gekocht hat, als er die arroganten Beleidigungen der Cochranisten gegen die Vierte Internationale las. Für Bill war das Erbe des revolutionären Gedanken, wie er sich in vielen Jahren bitteren Kampfes entwickelt hatte, die wertvollste Errungenschaft der Menschheit, die unter allen Umständen verteidigt werden musste. Für Bill war es die schlimmste Form des politischen und intellektuellen Verrats, die Bedeutung und die revolutionären Perspektiven des Marxismus in Frage zu stellen, nur weil sich für eine gewisse Zeit die politischen Winde gedreht hatten.

Es gab zwei Elemente, die Bill bei der Pablo-Mandel-Cochran Plattform besonders verabscheute. Das erste war ihre Behauptung, wie ich schon erwähnte, dass der Stalinismus trotz all seiner vergangenen Verbrechen in der Weltgeschichte im allgemeinen und im Kampf der Arbeiterklasse im besonderen eine progressive Rolle zu spielen habe.

Bill, der schon in seiner Jugend intellektuell und politisch mit dem Stalinismus abgerechnet hatte, war nicht bereit, dem Stalinismus irgendeine progressive Rolle, egal welcher Art, zuzusprechen. Er konnte weder die Revolutionen, die die Stalinisten abgewürgt, noch die Revolutionäre, die sie ermordet hatten, vergessen. Er war überzeugt davon, dass der Sieg der sozialistischen Sache nicht durch das Medium der stalinistischen Bürokratie und der stalinistischen Parteien, sondern nur durch einen rücksichtslosen Kampf gegen sie erreicht werden konnte. Die Errichtung der Polizeistaaten in Osteuropa und in seinem Geburtsland Ungarn war für Bill ein weiteres Kapitel in der langen Liste von Verbrechen, die die Stalinisten gegen die sozialistischen Bestrebungen der Arbeiterklasse begangen hatten.

Jean und Bill Brust 1989

Das zweite Element der revisionistischen Plattform, gegen die Bill sich wehrte, war ihre implizierte Ablehnung der Bedeutung der revolutionären marxistischen Partei für die Vorbereitung und den Sieg der sozialistischen Revolution. Für Bill bestand diese Vorbereitung nicht nur in der physischen Organisierung des Kampfs der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus. Bill verstand, dass die revolutionäre Organisation der Arbeiterklasse letztendlich das Ergebnis ihrer revolutionären Erziehung und ihres Verständnisses war. Nur durch die geduldige Arbeit der revolutionären Partei, die sich über Jahrzehnte erstreckt, ist es möglich, Massen von Arbeitern mit diesen großen befreienden Ideen zu erfüllen, die den bewussten Anstoß sowohl für das revolutionäre Organisieren wie für einen revolutionären Kampf liefern werden.

Ich glaube, es war dieses tiefgehende Verständnis von der Bedeutung der revolutionären Partei, was Bill in die Lage versetzte, sich nicht nur den cochranistischen Spaltern 1953, sondern auch dem politischen Druck zu widersetzen, der schließlich zur Degeneration und dem Tod der SWP führte. Die SWP hatte sich 1953 zwar noch gegen die opportunistische Linie gestellt, aber es dauerte nicht lange, bis ihre Führer ähnliche Positionen entwickelten, die nur ein paar Jahre später dazu führten, dass sie sich mit den Pablisten vereinigten.

Es gibt keinen Zweifel, dass die Degeneration der SWP-Führung eine bittere und schwere Erfahrung für Bill und Jean war. 1953 gab es wenigstens noch den Trost, dass die alte Parteiführung Cannon, Dunne und Lewitt den Kampf gegen die Pablisten leitete. Aber nach der Spaltung degenerierten diese angesehenen Führer sichtlich. Die Minnesota-Bewegung, mit der Bill und Jean sich so sehr identifizierten, war von inneren Kämpfen erschüttert, die die Orientierungslosigkeit der SWP reflektierten. Die politische Linie der SWP orientierte sich immer mehr an radikaler Protestpolitik und prinzipienlosen Manövern mit denselben politischen Kräften, die sie einst so unversöhnlich bekämpft hatte.

Das gesamte politische Antlitz der Socialist Workers Party begann sich zu verändern. Die alte proletarische Orientierung für die Trotzki und Cannon in den ersten Tagen gekämpft hatten, wurde durch eine Orientierung auf das Kleinbürgertum ersetzt. Trotzki hatte früher darauf bestanden, dass nur solche Mitglieder führende Positionen in der SWP einnehmen durften, die Erfahrungen im Klassenkampf gesammelt hatten; aber auf einmal wurden wichtige Positionen von einer sonderbaren Gruppe von Studenten besetzt, die auf mysteriöse Art und Weise im Carleton College in Northfield-Minnesota gewonnen wurden, wo die SWP noch keine politische Arbeit durchgeführt hatte. Dann tauchte Farrell Dobbs in St.Paul-Minneapolis auf und erklärte, ohne dass vorher eine Diskussion in der SWP geführt worden war, dass Fidel Castro ein „natürlicher Marxist“ sei, der in Kuba einen Arbeiterstaat geschaffen habe. Das war für Bill ein Schock, er glaubte, dass der wichtigste Punkt im Kampf gegen Cochran und Clarke 1953 gewesen war, dass der Sieg einer sozialistischen Revolution vom Aufbau von trotzkistischen Parteien innerhalb der Arbeiterklasse abhing.

Nun behauptete jedoch die SWP, dass für den Sieg einer sozialistischen Revolution und die Schaffung eines Arbeiterstaates weder eine marxistische Partei noch eine unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse notwendig sei. Der neuen Linie der SWP zufolge konnte der Sozialismus durch die Aktionen von kleinen kleinbürgerlichen Guerilla-Gruppen verwirklicht werden.

Bill, mit dieser neuen Lehre konfrontiert, fragte sich, was mit der klassischen Aussage von Marx geschehen sei, dass die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein könne. Und trotzdem waren in der SWP seine alten Genossen sehr begeistert über diese oberflächlichen politischen und theoretischen Neuerungen. Die Neuigkeit, dass der Sozialismus erreicht werden könne, ohne dass man die Arbeiterklasse auf der Grundlage des Marxismus organisieren und erziehen müsse, schien von allen begrüßt zu werden. Es war, als hätte man endlich eine gewaltige Last von ihren Schultern genommen. Die neue politische Linie, die die Führung der SWP entwickelt hatte, befreite sie von ihrer alten politischen Verantwortung.

Bill war jetzt Mitte vierzig, und er hätte sich an die neue politische Linie der SWP anpassen und sogar seinen Vorteil aus der wachsenden Popularität der SWP in Kreisen der kleinbürgerlichen Protestpolitik ziehen können. Aber Bill und Jean mangelte es an diesen chamäleonischen Fähigkeiten, die unter ihren müden, sich selbst rechtfertigenden Zeitgenossen, so verbreitet waren. Er hatte nicht die Absicht, sich wieder mit dem Philistertum der Mittelklasse und der Heuchelei und dem Betrug des amerikanischen Kapitalismus zu versöhnen.

So unternahm Bill einen weiteren entscheidenden und mutigen Schritt. Er nahm 1963 während einer Reise nach Europa Kontakt zu Gerry Healy auf. Gerry Healy war der Führer der britischen Socialist Labour League, der zehn Jahre zuvor eng mit Cannon im Kampf gegen die Pablisten zusammengearbeitet hatte. Auf der Grundlage dieser Diskussion mit Healy entschloss sich Bill Kontakt zu einer kleinen Gruppe innerhalb der SWP aufzunehmen, die von Tim Wohlforth geführt wurde und in Opposition zu der Kapitulation der Führung vor dem Pablismus stand.

Einen wertvollen Einblick in Bills Ansichten und Charakter liefert uns ein Brief, den er im Oktober 1963 geschrieben hatte:

„Jean und ich sind beide schon 25 Jahre in der Bewegung und wahrscheinlich zu sehr von den Ideen des Alten (Trotzkis) indoktriniert, so dass wir nicht einfach oder aufgrund der bloßen Behauptung noch so ehrwürdiger Führer der Partei die Behauptung akzeptieren können, dass eine kleinbürgerliche Bewegung, selbst wenn sie von ehrlichen Radikalen geführt wird, sich zu einer wirklichen proletarischen Partei entwickeln und einen Arbeiterstaat errichten kann.“

Es war für Bill bestimmt nicht einfach, persönlich und politisch mit Genossen und Freunden zu brechen, mit denen er so viele gemeinsame Erfahrungen gemacht hatte. Aber Bill hatte seine Prioritäten; er liebte zwar Freundschaften, aber seine Liebe zur Wahrheit war größer. Er war ein freundlicher und großzügiger Mensch, aber er war auch diszipliniert und ein Kämpfer. Er hatte nicht einfach diverse Ansichten, die sich durch zufällige Eindrücke gebildet hatten, sondern er besaß eine Überzeugung, die sich durch eine Kombination seiner persönlichen Erfahrung mit einem kontinuierlichen Studium, das er in nicht weniger als fünf Sprachen durchführte, herausgebildet hatte.

Für Bill waren lernen, studieren und kämpfen Teile eines großen Ganzen. Neben der Politik hatte er eine große Liebe zur Literatur, die er, wie ich schon erwähnt habe, nicht zur Unterhaltung studierte, sondern um einen größeren Einblick in das Leben und in die Aufgaben, die sich der Menschheit stellen, zu bekommen. Er liebte vor allem deutsche Literatur, und in den Schriften Goethes ist ein Aphorismus zu finden, der Bills intellektuelle Einstellung inspirierte und ausdrückte. Goethe schrieb, die Menschheit müsse sich an die Überzeugung halten, dass das Unbegreifliche verstanden werden kann, weil darin der Antrieb zu Studium und Forschung liege.

Er war die letzten 25 Jahre seines Lebens Mitglied der Workers League. Es ist weder mir, noch anderen Mitgliedern der Workers League und des Internationalen Komitees möglich, das volle Ausmaß seines Beitrags zu unserer Bewegung hinreichend zusammenzufassen, und schon gar nicht im Rahmen einer einzelnen Versammlung. Ich spreche nicht nur in meinem Namen, sondern für die Mitglieder unserer Partei auf der ganzen Welt, wenn ich sage, dass wir mit dem Tode von Bill einen geliebten und respektierten Genossen verloren haben.

Bill und Jean besuchen die deutschen Veteranen des Trotzkismus Oskar und Getrud Hippe (1989)

Wir alle wissen, dass wir Bill und natürlich auch Jean sehr viel verdanken. Aufgrund der Arbeit, die Bill und Jean in mehr als einem halben Jahrhundert gemacht haben, sind wir heute überhaupt hier. Ich weiß, dass es für Jean vielleicht schwer ist, das zu akzeptieren, aber es ist wahr. Die Geschichte der Workers League ist untrennbar mit der Arbeit von Bill und Jean Brust verbunden. Ich denke dabei nicht nur an die tagtäglichen Beiträge zu der Arbeit der Partei, die er in seiner praktischen Aktivität geleistet hat. Vor allem war Bill eine moralische Kraft in der Workers League und dem Internationalen Komitee. Für uns war er die Verkörperung all der edlen Traditionen und Prinzipien, mit der wir die Sache des internationalen Sozialismus verbanden. Bei jeder Krise in der Geschichte unserer Bewegung legten wir sehr viel Wert auf die Meinung und die Urteile von Bill Brust.

Abschließend möchte ich einen Punkt anbringen, der meiner Meinung nach von großer Wichtigkeit ist. Warum konnte Bill durchhalten, während so viele andere vom Weg abkamen? Wie war es diesem Mann möglich, dem großen Druck standzuhalten, unter dem so viele zerbrachen? Es ist immer schwierig, das Zusammenwirken von politischen Bewegungen und Individuen, die in ihnen zu verschiedenen Zeitpunkten eine Rolle spielen, zu untersuchen. Aber es muss gesagt werden, dass Bill die Fähigkeit hatte, über die Probleme des unmittelbaren Augenblicks hinauszusehen. Er war natürlich ein Mensch aus Fleisch und Blut mit tiefen Gefühlen, der auf die Tagesereignisse reagierte und wie alle anderen Menschen auch seine Höhen und Tiefen hatte. Aber er verlor sich nie in den unmittelbaren Problemen. Bill bezog sich immer auf die Lehren der Geschichte und bemühte sich, die Lehren der gesellschaftlichen und historischen Erfahrungen vorhergehender Generationen in seine eigenen Aktivitäten miteinzubeziehen.

Es wird oft gesagt, ein großer Mann ist der, der seine Zeit widerspiegelt. Das trifft jedoch nur in einem sehr spezifischen Sinne zu. Es ist eine Sache, nur die Vorurteile seiner Zeit widerzuspiegeln und auf ihre oberflächlichen Impulse einzugehen. Es ist eine ganz andere Sache, auf die tiefgehenden Kräfte und auf das sich dahinter verbergende Wesentliche einzugehen. Gerade ein solcher Mensch aber war Bill. Fragt euch einmal, wer mehr unsere Zeit widerspiegelt: Bill Brust, dessen Leben und Erfahrungen mit den größten sozialen Kämpfen der Geschichte verbunden sind, oder die hohlköpfigen Berühmheiten, die bankrotten Bourgeois und die kleinbürgerlichen Politiker, die solange billigen Ruhm genießen, bis sie in irgend einen Skandal verwickelt und vergessen werden? Sind es die Bill Brusts oder die George Bushs, die das Streben der Menschheit repräsentieren?

Bills Leben war eine Inspiration. Das ist der Grund, weshalb Bill auch nach seinem Tode nie vergessen sein wird. Die 16-, 17- und 18jährigen, die Bill aus aller Welt geschrieben haben, werden den Kampf für seine Prinzipien unter ganz anderen Bedingungen fortsetzen als jenen, in denen Bill die letzten 40 Jahre seines Lebens kämpfte, Die Zeiten ändern sich. Wir kommen noch einmal in ein Zeitalter von großen Aufständen und Veränderungen. Die Sache des internationalen Sozialismus, die so oft verraten worden ist, erfährt in den Kämpfen der internationalen Arbeiterklasse und unserer eigenen Bewegung, dem Internationalen Komitee, eine Wiedergeburt.

Bill Brust starb nur wenige Tage bevor ich das Privileg hatte, im Auftrag des Internationalen Komitees in die Sowjetunion zu reisen. Im Verlauf dieser Reise war es möglich in Kiew eine Gruppe von Unterstützern zu sammeln und eine Versammlung abzuhalten, um die Grundlage für den Aufbau einer neuen Sektion der Vierten Internationale in der Sowjetunion zu schaffen. Ich weiß, dass Bill sehr stolz auf diese Versammlung gewesen wäre, weil er so viel getan hatte, um sie vorzubereiten. Bill Brust wird im Gedächtnis unserer Bewegung weiterleben. Er wird in den Kämpfen der Arbeiterklasse weiterleben. Er wird für immer der internationalen Arbeiterklasse ein großes Beispiel an Mut und Stärke sein. Allen von uns hier war es ein sehr großes Privileg, mit ihm zusammenzuarbeiten, ihn zu kennen und zu seinen Genossen gezählt zu haben. Wir werden in der kommenden Periode alles tun, um uns des Vertrauens würdig zu erweisen, das er in uns gesetzt hat.

Loading