EU-Gipfel stellt sich gegen Russland

Am Donnerstag versammelten sich die 28 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in Brüssel zu ihrem letzten Gipfel in diesem Jahr. Die EU befindet sich in einer tiefen Krise. Nach der britischen Entscheidung, die Gemeinschaft zu verlassen, der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten und dem Aufstieg rechter, nationalistischer Kräfte in zahlreichen europäischen Ländern ist sie gelähmt und gespalten.

Die Mitglieder sind über viele Fragen heillos zerstritten – die Verteilung von Flüchtlingskontingenten, die Haltung zur Türkei, die von Berlin und Brüssel erzwungene Austeritätspolitik, den Aufbau einer europäischen Armee, die Reaktion auf den zukünftigen US-Präsidenten Donald Trump und vor allem über das Verhältnis zu Russland.

Hinzu kommt, dass die Führer der großen Mitgliedsstaaten, die bisher in der EU die Richtung vorgaben, durch innenpolitische Krisen geschwächt sind.

Großbritannien ist auf dem Weg aus der EU und die Regierung streitet sich über den Brexit. Der französische Präsident François Hollande scheidet im Mai aus dem Amt. Der italienische Premier Matteo Renzi trat letzte Woche zurück und sein Nachfolger Paolo Gentiloni ist bestenfalls eine Übergangsfigur. Der spanische Regierungschef Mariano Rajoy stützt sich auf eine unsichere Mehrheit. Und auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, die sich im kommenden Jahr um eine vierte Amtszeit bewirbt, stößt sowohl in der eigenen Partei wie in der Koalition mit der SPD auf wachsenden Widerstand.

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beschrieb die Lage der EU kurz vor dem Gipfel mit den Worten: „Diesmal haben wir es mit einer Polykrise zu tun. Es brennt an allen Ecken und Enden – nicht nur an europäischen Ecken und Enden. Aber dort, wo es außerhalb Europas brennt, verlängert sich die Feuersbrunst nach Europa.“

Das Gipfeltreffen sollte daher auf wenige Stunden am Donnerstagnachmittag beschränkt werden und keine kontroversen Fragen diskutieren, um eine Verschärfung der Krise zu vermeiden. Beim Abendessen wollten die Teilnehmer dann noch ohne die britische Premierministerin Theresa May über die Vorbereitung der Brexit-Verhandlungen sprechen.

Doch es kam anders. Ratspräsident Donald Tusk entschloss sich „spontan“, wie es hieß, einen syrischen Anti-Assad-Aktivisten einzuladen – ein Vorgang, der in der Geschichte der EU beispiellos ist – und der Gipfel verlängerte sich um Stunden.

Brita Hagi Hasan, der als „Bürgermeister von Aleppo“ vorgestellt wurde, schilderte den versammelten Staats- und Regierungschefs in dramatischen Worten die Lage im Osten der Stadt und behauptete, 50.000 Zivilisten seien „kurz davor, massakriert zu werden“.

Hasan ist einer jener syrischen „Oppositionellen“, die rund um die Welt reisen, um für eine imperialistische Militärintervention zu werben, und die jeweils ins Rampenlicht gezerrt werden, wenn es darum geht, eine solche zu rechtfertigen. So traf er sich schon mehrmals mit dem französischen Außenminister Jean-Marc Ayrault, zuletzt Ende November.

Im Sommer trat er auf einer Versammlung in Paris gemeinsam mit Maryam Rajavi von den iranischen Volksmodschahedin und Michel Kilo auf, einem weiteren syrischen Regimegegner, der schon vor drei Jahren einen amerikanischen Militärschlag gegen Syrien gefordert hatte. Die Volksmodschahedin bekämpfen das Regime in Teheran aus dem Ausland. Sie wurden von der EU bis 2009 als Terrororganisation gelistet.

Tusk, Hollande und Merkel nutzten Hasans Auftritt, um die zerstrittenen EU-Mitglieder auf eine antirussische Linie einzuschwören. Während in den herrschenden Kreisen der USA ein heftiger Kampf über das künftige Verhältnis zu Russland tobt, stellen sie sich auf die Seite jenes Flügels, der auf eine Konfrontation mit Russland setzt. Vor allem Merkel und Hollande fürchten, dass sich der neue Präsident Donald Trump auf Kosten Europas mit Moskau einigt und dass die EU – und möglicherweise auch die Nato – darüber auseinanderbrechen.

So schrieb die Financial Times kurz vor dem Gipfel in einem Kommentar: „Die europäischen Diplomaten sind ratlos, wie sie sich auf seine [Trumps] kommende Regierung vorbereiten sollen… Jede Politik, die sich auf Russland ausrichtet, könnte die schwer errungene Übereinstimmung in der Haltung gegenüber Moskau ändern und das Gleichgewicht zwischen den Falken und Tauben innerhalb der EU kippen.“

Während die europäischen Regierungschefs kein Wort über Mosul oder den Jemen verloren, wo sie selbst, die USA und ihre regionalen Verbündeten die Zivilbevölkerung ebenso rücksichtslos bombardieren wie die russische und die syrische Armee in Aleppo, vergossen sie eimerweise Krokodilstränen über das Schicksal der Zivilbevölkerung von Aleppo – und dies ausgerechnet an dem Tag, an dem die Kämpfe dort aufhörten.

Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte, der Bericht Hasans sei „sehr deprimierend“ gewesen. Sie warf Russland und dem Iran vor, für Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung in Aleppo verantwortlich zu sein, und forderte, diese Verbrechen müssten geahndet werden. Dem UN-Sicherheitsrats warf sie „Versagen“ vor.

Nahezu wortgleich äußerte sich die britische Premierministerin Theresa May. „Wir müssen sicherstellen, dass jene, die für diese Gräueltaten verantwortlich sind, zur Verantwortung gezogen werden“, sagte sie.

Präsident Hollande sprach der EU die Existenzberechtigung ab, wenn sie sich „noch nicht einmal auf etwas so Grundlegendes einigen“ könne, wie „die Massaker zu verurteilen, die vom syrischen Regime und seinen Unterstützern veranlasst werden“.

Der Zynismus dieser gespielten Empörung wurde durch den Umstand unterstrichen, dass Merkels Regierung nur wenige Stunden zuvor die erste Massenabschiebung nach Afghanistan vorgenommen hatte. Sie soll der Auftakt sein, um bis zu 12.500 Flüchtlinge zwangsweise aus Deutschland in das von Krieg und Bürgerkrieg zerstörte Land zurückzuschicken.

Gestützt auf die Aufwallung der Gefühle, die mit Hasans Auftritt inszeniert wurde, gelang es der Gipfelregie, eine Reihe von umstrittenen Beschlüssen durchzusetzen, die sich entweder gegen Russland richten, auf eine beschleunigte militärische Aufrüstung zielen oder der Abwehr von Flüchtlingen dienen.

So beschloss der Gipfel, die wegen dem Ukrainekonflikt verhängten Sanktionen gegen Russland trotz Milliardenverlusten für die eigene Wirtschaft bis mindestens zum 31. Juli 2017 zu verlängern. Der slowakische Regierungschef und derzeitige EU-Ratsvorsitzende Robert Fico hatte die Sanktionen noch am Tag vor dem Gipfel als Unsinn bezeichnet.

Gleichzeitig stellte der Gipfel die Weichen für die Ratifizierung des Partnerschaftsabkommens mit der Ukraine, dessen Ablehnung durch den ukrainischen Präsidenten Janukowitsch 2014 zum Maidan-Putsch geführt hatte. In diesem Frühjahr war das Abkommen durch die niederländischen Wähler blockiert worden, die es in einem Referendum ablehnten. Nun hat der Gipfel eine rechtsverbindliche Zusatzerklärung beschlossen, die es dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte erlaubt, das Abkommen dem Parlament erneut vorzulegen. Alle anderen EU-Länder haben es bereits ratifiziert.

Weiter einigte sich der Gipfel auf eine engere militärische Zusammenarbeit. Er beschloss den Aufbau eines Zentrums zur Planung von zivilen und militärischen Einsätzen. Die britische Regierung, die sonst jeden Schritt in Richtung einer europäischen Armee blockiert hatte, gab ihren bisherigen Widerstand auf.

Die Gipfelteilnehmer begrüßten auch die Pläne der Kommission für einen milliardenschweren Fonds, aus dem militärische Forschung finanziert werden soll. Beschlüsse darüber sollen in der ersten Hälfte des kommenden Jahres gefällt werden.

Während sich der Gipfel noch über das Elend in Aleppo echauffierte, trafen sich Angela Merkel, François Hollande, Paolo Gentiloni und Manuel Rajoy mit dem Präsidenten des Niger, Mahamadou Issoufou, und anderen afrikanischen Regierungschefs, um sie davon zu überzeugen, gegen hohe Geldsummen Flüchtlinge zu stoppen und in Lagern festzuhalten.

Offiziell nennt sich dieses Projekt „Migrationspartnerschaft“. Für die Summe von 100 Millionen Euro, die zur Hälfte von Deutschland kommt, sollen entlang der Fluchtrouten Lager gebaut werden, in denen bis zu 60.000 Menschen festgehalten werden können.

Auch beim Umgang mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan setzte sich Berlin auf dem Gipfel durch. Die deutsche Regierung lehnt es ab, die Beziehungen zu Ankara wegen den autoritären Herrschaftsmethoden Erdogans abzukühlen, weil es ein Scheitern des Flüchtlingsdeals fürchtet, mit dem sich Ankara verpflichtet hat, Flüchtlinge gegen Geldzahlungen an der Weiterreise nach Europa zu hindern. Nun ist die EU einen Schritt auf Erdogan zugegangen, indem sie ihm im Frühjahr 2017 einen Flüchtlingsgipfelin Aussicht stellt, an dem Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk teilnehmen werden.

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