Brandbrief einer Krankenschwester wirft Schlaglicht auf Zustände im Gesundheitswesen

Die Krankenschwester Jana Langer brachte im Januar in einem Brandbrief an Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren Unmut über die katastrophalen Zustände im deutschen Gesundheitssystem zum Ausdruck. Langers Facebook-Eintrag traf einen Nerv in der Bevölkerung. Der Beitrag wurde über 50.000 Mal geteilt und 67.000 Menschen hatten ein „Gefällt mir“ für die deutlichen Worte übrig.

Die Krankenschwester beschreibt in ihrem Post die prekären Umstände, unter denen das Pflegepersonal in deutschen Kliniken arbeitet. Sie prangert den Personalmangel, die zeitraubende Bürokratie und die präkeren Rahmenbedingungen an. „Im Grunde möchte ich einfach nur sinnvoll, professionell und ethisch vertretbar meine Arbeit verrichten“, sagte Langer in einem Interview mit dem Fernsehsender n-tv. Von dem überwältigenden Zuspruch in Netz war sie selbst überrascht.

Der Grund dafür ist, dass immer neue Runden der Einsparungen, der Privatisierung, der Auslagerung ganzer Arbeitsbereiche und des Sozial- und Tarifabbaus in allen lebenswichtigen gesellschaftlichen Bereichen Zustände geschaffen haben wie im Gesundheitswesen. Dort steht nicht die Behandlung der Patienten, sondern das Streben nach Profit im Zentrum. Allgegenwärtige Skandale sind dabei an deutschen und europäischen Kliniken beinahe schon an der Tagesordnung.

Langer weißt in ihrem Brief auf den Umstand hin, dass jeder Aufenthalt „zur tödlichen Falle werden“ kann. „Innerlich gekündigtes Personal, schlecht bezahlte Hilfskräfte mit entsprechender Motivation, überarbeitete und übermüdete Pflegekräfte, die nur noch versuchen, den größten Schaden abzuwenden, sind alltägliche Bilder in jeder Klinik von Deutschland.“

Diese Beschreibung trifft es recht genau. In den Kliniken Europas sterben einer jüngeren Studie zufolge hochgerechnet 91.000 Patienten pro Jahr an sogenannten Krankenhausinfektionen. Die Studie geht von insgesamt 2,6 Millionen Infektionen aus, die sich Patienten in einer Klinik zugezogen haben. Zu den häufigsten Krankenhausinfektionen gehören Lungenentzündungen und Harnwegs- und Wundinfektionen, wie Forscher im Fachblatt PLOS Medicine berichten.

Für Deutschland schätzt Petra Gastmeier, Direktorin des Nationalen Referenzzentrums zur Überwachung von Krankenhausinfektionen an der Berliner Charité, diese Fälle auf jährlich bis zu 500.000. Bis zu 15.000 von ihnen enden für den Patienten tödlich. Ein Drittel der Krankenhausinfektionen gilt als vermeidbar, beispielsweise durch konsequente Umsetzung von Hygieneplänen.

Zwischen 1000 und 4000 Todesfälle gehen in Deutschland pro Jahr auf das Konto multiresistenter Erreger. Viele Patienten schleusen diese in die Klinik ein, ohne dass es erkannt wird. Damit kann sich der Keim rasant verbreiten.

Die Zunahme von Infektionen durch mangelnde Hygiene ist Ergebnis einer stetig steigenden Arbeitshetze des Klinikpersonals. Davon betroffen sind Ärzte, Pflegepersonal und andere Angestellte. Sie alle unterliegen dem wachsenden ökonomischen Druck, unter den die Kliniken und das Gesundheitswesen insgesamt seit Anfang der 90er Jahre geraten sind.

Privatisierung und Budgetkürzungen wurden ohne Rücksicht auf sinkende Qualität umgesetzt. Mitte der 1990er Jahre fanden die weitgehendsten Veränderungen in diesem Bereich statt. Mit der Einführung der Pflegeversicherung wurde die Versorgung pflegebedürftiger Menschen weitgehend privatisiert. 1996 wurden bei der Krankenhausvergütung die Fallpauschalen eingeführt.

2009 war die Umstellung auf Diagnosis Related Groups (DRGs) abgeschlossen, die die Vergütung der Krankenhausleistung mit der zu behandelnden Diagnose verknüpfen, anstatt wie bisher mit der Verweildauer im Krankenhaus. Das hat zur Folge, dass viele Leistungen eines Krankenhauses, wie die Pflege der Patienten, in den Fallpauschalen nur unzureichend berücksichtigt sind und dadurch Kosten gesenkt werden müssen. Das geschieht durch Kosteneinsparungen beim Personal und eine Steigerung der „Fallzahlen“.

Nach Daten der Deutschen Krankenhausgesellschaft stiegen die Fallzahlen von 17,3 Millionen im Jahr 2000 auf 19,1 Millionen 2014. Im gleichen Zeitraum wurde die durchschnittliche Verweildauer von 9,7 Tagen auf 7,4 Tage verkürzt. Das erklärt das weit verbreitete Phänomen der „blutigen Entlassung“. Patienten werden auch bei schlechtem Allgemeinzustand, schlechter Wundheilung oder Ähnlichem nur so lange behandelt, wie es die Vergütung bei der vorliegenden Diagnose zulässt.

Die Kostensenkungen gehen voll zulasten der Beschäftigten. Das zeigt eine Umfrage der Ärztegewerkschaft Marburger Bund zu den miserablen Arbeitsbedingungen von Krankenhausärzten in Schleswig-Holstein. Zu wenig Personal, viel zu lange Arbeitszeiten, schlechte Organisation und zu viel Bürokratie seien die Hauptgründe für Überlastung und Unzufriedenheit, fasste der Vorsitzende des Landesverbandes der Ärztegewerkschaft, Henrik Herrmann, die Ergebnisse zusammen.

89 Prozent der angestellten Ärzte fühlen sich laut der Umfrage wegen Personalmangels und zunehmender Arbeitsverdichtung überlastet. Mehr als jeder zweite Arzt arbeitet über 48 Stunden in der Woche, jeder sechste sogar über 60 Stunden. Zwei Prozent gaben an, mehr als 80 Stunden pro Woche zu arbeiten. „Überlange Arbeitszeiten gefährden nicht nur die Gesundheit der Ärztinnen und Ärzte, sondern können auch ein Sicherheitsrisiko für die Patienten darstellen,“ warnte Herrmann.

Ein Viertel der befragten Ärzte gab an, die tatsächlichen Arbeitszeiten würden nicht einmal erfasst. Stechuhren gebe es nur bei 13 Prozent. Jeder vierte Arzt erklärte, Überstunden würden weder vergütet noch mit Freizeit ausgeglichen. Die Ärztegewerkschaft forderte die staatlichen Arbeitsschutzbehörden auf, die Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Vorschriften in Krankenhäusern regelmäßig zu überprüfen.

Im pflegerischen Bereich wird mit den vorgehaltenen Betten auch Personal abgebaut. Die Zahl der Betten in den Krankenhäusern Deutschlands ist bereits deutlich gesunken. Nach Ansicht von Krankenkassen und Gesundheitsökonomen gibt es aber vor allem in Ballungszentren immer noch mehr Kapazitäten als nötig. Sie pochen auf einen radikalen Umbau der Klinik-Landschaft.

Damit einher geht das Outsourcing nicht ärztlicher und pflegerischer Leistungen, wie Reinigung, Wäscherei und technischer Dienst. Hier sind die Bedingungen teilweise noch katastrophaler. Der Großteil der Beschäftigten arbeitet hier ohne Tarifvertrag oder zum Mindestlohn.

Nach dem Gesundheitsreport der Betriebskrankenkassen von 2016 hat das Pflegepersonal in der Altenpflege ein besonders hohes Risiko, psychisch krank zu werden. Zwei Fünftel des Personals hatten 2015 mindestens einmal die Diagnose einer psychischen Erkrankung. Laut einer aktuellen Umfrage gaben 93 Prozent der Pflegefachkräfte an, zu wenig Zeit für die Bewohner zu haben. 86 Prozent gaben an, sie hätten „regelmäßig das Gefühl, dem eigenen pflegerischen Anspruch nicht gerecht werden zu können“. Bei vier Fünfteln der Fachkräfte führt die hohe Arbeitsbelastung zu Konflikten in der Familie und im Privatlaben.

Die Gehälter in der Branche entsprechen in keiner Weise den Anforderungen an den Beruf der Pflegekräfte. Nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung aus dem Jahr 2015 verdienen Altenpfleger teilweise deutlich weniger als andere Facharbeiter. In Ostdeutschland liegt das durchschnittliche Bruttogehalt unter 2000 Euro.

Immer mehr Beschäftigte sind nicht mehr gewillt, diese Zustände zu akzeptieren. In deutschen Kliniken kommt es immer häufiger zu Protesten, wie im vergangenen Jahr am größten Universitätsklinikum, der Berliner Charité. Gegenwärtig kommt es immer wieder zu Protesten bei den Median-Kliniken an verschiedenen Standorten.

Die ärztliche und pflegerische Versorgung kranker Menschen ist eine gesellschaftliche Aufgabe und unvereinbar mit dem Profitstreben von Unternehmen und Superreichen. Vor diesem Hintergrund ist der Appell der Krankenschwester an Kanzlerin Merkel für eine „Reform“ des Gesundheitswesens – auch wenn dieser gut gemeint ist – naiv. Vertreter sämtlicher Parteien, von Unionsparteien bis hin zur Linkspartei, sind verantwortlich für die Zustände an Kliniken und anderen Einrichtungen im Gesundheitswesen. In enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften haben sie die Privatisierungen und Kürzungen geplant und umgesetzt.

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