Merkel droht Ankara

Mit der Drohung der deutschen Bundesregierung, Auftrittsverbote gegen türkische Regierungspolitiker in Deutschland zu verhängen, haben die deutsch-türkischen Beziehungen einen neuen Tiefpunkt erreicht.

Bei der Eröffnung der Industriemesse CEBIT in Hannover forderte Bundeskanzlerin Angela Merkel öffentlich, „dass die Nazi-Vergleiche von Seiten der Türkei aufhören müssen [...] – und zwar ohne Wenn und Aber“. Deutschland werde nicht „nicht zulassen, dass der Zweck die Mittel immer wieder heiligt und jedes Tabu fällt“.

Merkel zitierte dann aus einer sogenannten Verbalnote des Auswärtigen Amtes an Ankara. In dieser sei der Türkei „unmissverständlich mitgeteilt“ worden, „dass Auftritte türkischer Politiker in Deutschland nur stattfinden können, wenn sie auf der Grundlage der Prinzipien des Grundgesetzes erfolgen“.

Die Verbalnote knüpfte die Genehmigung, dass die rund 1,4 Millionen in Deutschland wohnhaften türkischen Staatsbürger ab kommendem Montag in Deutschland über das türkische Verfassungsreferendum abstimmen dürfen, an die Bedingung, dass „von der türkischen Seite eine zuverlässige und konstruktive Zusammenarbeit in allen Fragen der Vorbereitung und Durchführung der Wahlen, und besonders bei Angelegenheiten öffentlicher Sicherheit und Ordnung“ erfolge. Das gelte insbesondere für die Wahlkampfauftritte türkischer Politiker.

Die türkische Regierungspartei AKP reagierte auf diese Drohung, die Genehmigung für die Durchführung der Abstimmung in Deutschland zurückzuziehen, indem sie alle geplanten Ministerauftritte in Deutschland absagte. Das löste unter deutschen Politiker einen wahren Sturm der Begeisterung aus.

„Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich das für ein Zeichen der Vernunft“, sagte der sozialdemokratische Parteichef und Kanzlerkandidat Martin Schulz am Dienstag im Berliner Bundestag vor einer Fraktionssitzung seiner Partei. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann zeigte sich „erleichtert, dass die Türkei jetzt davon absieht, ihre Minister hier nach Deutschland zu schicken“. Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) erklärte, er sei „froh, dass keine weiteren Politiker zum Wahlkampf nach Deutschland kommen“.

Die Offensive der Bundesregierung gegen die Türkei wird von einer hysterischen Kampagne mit rassistischen Untertönen begleitet.

In einem Kommentar mit dem Titel „Das Ende der Merkelsgeduld“ hetzt der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Berthold Kohler: „Es ist an der Zeit, den Türken zu zeigen, dass Erdogans Politik der verbrannten Erde schwerwiegende Folgen hat. Erdogan führt die Türkei in die Isolation. Er koppelt sie vom freien und demokratischen Westen ab und verwandelt sie immer mehr in eine asiatische Despotie.“

In die gleiche Kerbe schlug Stefan Kornelius am Dienstag in der Süddeutschen Zeitung. „Es gab Zeiten, da wären Staaten wegen der Beleidigung ihres Führungspersonals in den Krieg gezogen. Die sind glücklicherweise vorbei.“ Allerdings böten sich „neben den üblichen diplomatischen Schraubzwingen – Abberufung des eigenen, temporäre Ausweisung des türkischen Botschafters“ – Maßnahmen beim „Handel und in der Europapolitik an“, um die Türkei zu sanktionieren.

Auf keinen Fall dürfe die Bundesregierung „schwächlich“ wirken. Und auch wenn „diese archaischen Muskelspiele […] den Westeuropäern vielleicht fremd geworden“ seien, gegenüber Erdogan seien „sie notwendig, auch und vor allem zum Selbstschutz“. Der türkische Präsident befördere „nämlich nicht nur den Extremismus im eigenen Land“, sondern habe „sich längst schon Deutschland vorgenommen“.

Die aggressivsten Töne kamen wie zu erwarten aus den Reihen der Grünen und der Linkspartei. „Ich warne davor, die AKP-Absage aller Wahlkampfauftritte in Deutschland als politischen Erfolg zu verkaufen und jetzt selbstgefällig zum lauten Schweigen gegenüber Ankara zurückzukehren“, erklärte Claudia Roth von den Grünen.

In einem Interview mit der konservativen Welt forderte die Bundestagsvizepräsidentin die deutsche Regierung auf, Ankara weiter in die Schranken zu verweisen. „Wenn die Bundesregierung dem Kurs Erdogans glaubhaft begegnen möchte, dann muss sie den Flüchtlingsdeal endlich aufkündigen, Rüstungsexporte in die Türkei umgehend stoppen und den kürzlich erbetenen Finanzhilfen zur Abfederung der Wirtschaftskrise eine Absage erteilen.“

Sevim Dagdelen, die Sprecherin der Linksfraktion für internationale Beziehungen, forderte den sozialdemokratischen Außenminister Sigmar Gabriel auf, „den Botschafter der Republik Türkei sofort einzubestellen“. Weiter hieß es in ihrer Stellungnahme: „Angesichts der fortgesetzten Verharmlosung der Verbrechen des deutschen Faschismus, der Verhöhnung der Opfer und der ungeheuren Unterstellung, die EU würde am liebsten Gaskammern einrichten, darf sich die Bundesregierung nicht weiter wegducken.“

Merkel und Gabriel müssten „endlich handeln und Zeichen gegen Erdogan setzen“, verlangte Dagdelen und stellte folgenden Forderungskatalog auf: „Die Bundesregierung muss die deutschen Soldaten aus der Türkei abziehen und sich bei der EU für den Stopp der Beitrittsverhandlungen einsetzen. Die EU-Vorbeitrittshilfen für die Türkei in Höhe von 630 Millionen Euro müssen eingefroren werden. Der Werbefeldzug von Erdogan und seiner islamistischen AKP in Deutschland muss gestoppt werden. Bei Einbürgerungswilligen Türken sollte künftig auf die türkische Entlassungsurkunde verzichtet werden, sonst spielt man Erdogans Diktatur noch in die Hände.“

Zu den hysterischen Forderungen von Dagdelen und der Linkspartei einige Anmerkungen:

Die Forderungen nach Auftrittsverboten und Sanktionen gegen Ankara sind genau das Gegenteil von einem Kampf gegen Diktatur. Tatsächlich stärkt die Argumentation der Linkspartei diktatorische Tendenzen nicht nur in der Türkei, sonder auch in Deutschland. In der Türkei nutzt Erdogan die Attacken aus Berlin, um Nationalismus zu schüren und Unterstützung für sein autoritäres Verfassungsreferendum zu mobilisieren. In Deutschland wird ein Präzedenzfall für die Unterdrückung unliebsamer Meinungen geschaffen. Letztlich bestimmen der Staat und die Regierung, was öffentlich gesagt werden darf und was nicht.

Dass die Linkspartei Erdogans Verweis auf „Nazimethoden“ unterdrücken will, spricht Bände über ihren pro-imperialistischen Charakter. Als Partei des deutschen Militarismus ist es ihr ein Dorn im Auge, wenn jemand Parallelen zwischen der Bundesregierung oder der Europäischen Union und dem Nationalsozialismus zieht. Der Linken geht es dabei nicht in erster Linie um die Aussagen Erdogans, der selbst auf autoritäre Methoden zurückgreift, sondern um die Unterdrückung von Kritik am deutschen Militarismus. Die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung lehnt Aufrüstung und Kriegseinsätze ab, weil sie sich an die Schrecken der Nazi-Zeit erinnert fühlt.

Hinter dem aggressiven Auftreten der Linkspartei stecken außerdem geopolitische Interessen. Ein erheblicher Teil der deutschen Bourgeoise ist der Ansicht, dass eine zu enge Zusammenarbeit mit Ankara die Hände des deutschen Imperialismus bei der Verfolgung seiner Interessen im Nahen und Mittleren Osten zu sehr binde. Aus diesem Grund stieß der Flüchtlingsdeal, den Bundeskanzlerin Merkel im Namen der Europäischen Union mit Erdogan aushandelte, von Anfang an auch in rechten politischen Kreisen auf Kritik.

Ein Teil der deutschen Bourgeoisie erwägt immer offener eine Zusammenarbeit mit der in Deutschland verbotenen kurdischen Arbeiterpartei (PKK), deren syrischer Ableger PYD eine wichtige Rolle als Stellvertretermiliz beim Kriegseinsatz des Westens in Syrien und im Irak spielt. Die Linkspartei die über beste Verbindungen zu den Kurdenorganisationen verfügt, tritt seit langem für eine solche Orientierung ein.

Bezeichnenderweise griff die Polizei nicht ein, als am Wochenende auf einer Großdemonstration in Frankfurt zum kurdischen Newroz-Fest Fahnen mit dem Bild von PKK-Führer Abdullah Öcalan geschwenkt wurden, obwohl dies offiziell verboten ist. Mehrere Wahlkampf-Auftritte von AKP-Politikern waren dagegen mit fadenscheinigen Begründungen verhindert worden.

Am Montag teilte Dagdelen auf ihrem Twitter-Account einen Kommentar von Georg Restle in den Tagesthemen. Der Leiters des ARD-Politmagazins „Monitor“ fragt darin: „Wer ist hier eigentlich der Terrorist? Der Führer der PKK, der seit 18 Jahren streng bewacht in einem türkischen Knast gefangen gehalten wird – oder der Präsident der Türkei, der Zehntausende Oppositionelle verfolgen und inhaftieren lässt, darunter auch die Parlamentarier der prokurdischen Partei HDP?“

Die türkische Bourgeoisie – und das gilt nicht nur für Erdogans AKP – bekämpft die PKK als Terrororganisation und versucht mit allen Mitteln, die Entstehung eines autonomen Kurdenstaats in Syrien zu verhindern.

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