Umstrittenes Ergebnis im türkischen Verfassungsreferendum: Erdoğan erklärt Wahlsieg

Laut offiziellen Ergebnissen hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, Vorsitzender der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), das Verfassungsreferendum mit einer knappen Mehrheit von 51,4 Prozent der Stimmen gewonnen. Das „Nein“-Lager, das von der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) und der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) unterstützt wurde, erhielt 48,6 Prozent. Erdoğan erklärte, er habe jetzt eine Mehrheit für die umfassenden Verfassungsänderungen, die er gefordert hatte.

Allerdings war das Referendum von umfassenden Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe geprägt, sodass sofort der Vorwurf des Wahlbetrugs im Raum stand. Der Hohe Wahlausschuss (YSK) erklärte, man würde auch Wahlzettel, die nicht von seinen Beamten abgestempelt wurden, als gültig zählen, solange sie nicht als Fälschung einzustufen sind. Er sprach von „zahlreichen Beschwerden, dass YSK-Beamte sie [die Wahlzettel] in den Wahllokalen nicht abgestempelt haben“.

Die CHP erklärte, sie werde eine Neuauszählung von bis zu 60 Prozent der Stimmen fordern. Die HDP wiederum sagte, der Ausgang des Referendums stehe nicht fest, bis der YSK über ihren Einspruch wegen der Unregelmäßigkeiten entschieden habe.

Nach der Entscheidung des YSK erklärte der Vorsitzende der CHP Kemal Kilicdaroğlu, die Legitimität des Referendums sei fraglich. Auf einer kurzen Pressekonferenz am Sonntagabend sagte er, eine Verfassung sollte das Ergebnis eines gesellschaftlichen Konsenses sein. Er erklärte sich bereit, die türkische Verfassung auf der Grundlage eines Konsenses zu entwickeln.

Obwohl die AKP und die faschistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) das Referendum unterstützten, ist die absolute Stimmzahl des „Ja“-Lagers um 15 bis 20 Prozent kleiner als der gemeinsame Stimmenanteil der AKP und der MHP bei der Wahl im November 2015. Die HDP verlor in einigen ihrer mehrheitlich kurdischen Hochburgen Stimmen, in denen Hunderttausende vor den Kämpfen zwischen dem türkischen Militär und den kurdisch-nationalistischen Gruppen fliehen mussten.

In den größten Städten des Landes, Istanbul, Izmir, Ankara, Adana und Diyarbakir, setzte sich das „Nein“-Lager durch. Auch in den großen Industriestädten wie Bursa, Kocaeli und Manisa stimmte die Mehrheit mit „Nein“.

Als klar wurde, dass das „Ja“-Lager offiziell siegen würde, erklärte der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim vor einem Publikum aus AKP-Anhängern, mit dem Referendum beginne ein neues Kapitel in der Geschichte der Türkei. Erdoğan feierte daraufhin seinen hauchdünnen Vorsprung. Mit Blick auf seine Gegner erklärte er: „Manche werden das Ergebnis kleinreden. Lasst es bleiben. Jetzt ist es zu spät.“

Das Referendum verleiht Erdoğan faktisch diktatorische Vollmachten. Bei einer Rede im Huber-Palast in Istanbul erklärte er, die Türkei habe durch ihre Entscheidung einen 200 Jahre alten Widerspruch in ihrer Regierung aus der Welt geschafft: „Heute ist die Entscheidung zu einer Veränderung gefallen, zu einem Wechsel hin zu einem wirklich ernsthaften Regierungssystem.“

Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der Partei der faschistischen MHP, die das „Ja“-Lager unterstützt hatte, nannte das Ergebnis einen „bedeutenden Erfolg“. Dabei ignorierte er, dass knapp 50 Prozent der MHP-Wähler mit „Nein“ gestimmt hatten. Er wies den Vorwurf des Wahlbetrugs zurück und erklärte: „Die große türkische Nation, die als einzige die Souveränität besitzt, hat das letzte Wort über die Zukunft ihres Landes gesprochen und sich für ihre Unabhängigkeit und Zukunft entschieden.“

Die Verfassungsänderung ist eine reaktionäre Maßnahme. An die Stelle des türkischen Parlamentssystems tritt ein allmächtiger Präsident, welcher die vollständige Kontrolle über Legislative und Judikative ausübt. Er kann damit Gesetze erlassen, den Haushalt festlegen, die Judikative ernennen, das Parlament auflösen und die Kandidaten der Regierungspartei für Parlamentswahlen nominieren. Das Parlament würde zu einer Alibiveranstaltung werden.

Wenn der Sieg des „Ja“-Lagers bestätigt wird, werden sich die Beziehungen der Türkei zur Nato und zur Europäischen Union grundlegend verändern. Im Vorfeld hatte Erdoğan angekündigt, nach dem Referendum den Flüchtlingsdeal mit der EU neu zu verhandeln.

Obwohl es bei der Abstimmung viele Unregelmäßigkeiten gab, appellierte der proeuropäische Unternehmerverband TÜSIAD an die Wähler, den Sieg des „Ja“-Lagers zu unterstützen. Er forderte die Bevölkerung auf, „solidarisch für eine stärkere Türkei“ einzutreten und „ohne Verzögerung in die Zukunft zu blicken“. Die Regierung und das Parlament rief er auf, „den Reformplänen, vor denen das Land steht, Priorität einzuräumen“. Weiter erklärte er: „Die Zeit ist gekommen, durch den Schutz von Freiheiten, Pluralismus und Solidarität Fortschritte zu erzielen.“

Obwohl das Referendum dem türkischen Präsidenten eindeutig diktatorische Vollmachten erteilt, forderte der TÜSIAD Erdoğan auf, „die Unabhängigkeit der Justiz“ zu stärken und den Ausnahmezustand aufzuheben, den er letztes Jahr nach dem gescheiterten, von Washington und Berlin unterstützten Putsch ausgerufen hatte.

Die TÜSIAD forderte außerdem engere Beziehungen zur EU bei Themen wie Zollpolitik, Medien- und Internetfreiheit, der Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen und der Flüchtlingspolitik, visafreien Reisen, einer politischen Lösung für Zypern und einer Lösung für den Krieg in Syrien.

Der Europarat äußerte sich ähnlich. Er forderte die türkische Regierung auf, nach ihrem Sieg vorsichtig vorzugehen. Generalsekretär Thorbjørn Jagland erklärte schriftlich: „Gemäß dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, das in der europäischen Menschenrechtskonvention verankert ist, ist der Schutz der Unabhängigkeit der Justiz von entscheidender Bedeutung. Der Europarat, dem die Türkei als Vollmitglied angehört, ist bereit, das Land bei diesem Prozess zu unterstützen.“

Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel forderte die türkische Regierung auf, einen „kühlen Kopf zu bewahren“. Axel Schäfer von der SPD bezeichnete das Ergebnis des Referendums als Katastrophe und verglich es mit Hitlers Machtergreifung 1933.

Er erklärte, durch den Brexit sei Großbritannien an den Rand gedrängt, die USA würden sich mit Trumps Wahlsieg auf ein Abenteuer einlassen, Erdoğans Referendum führe die Türkei in den Absolutismus und die Reichstagswahl 1933 hatte Deutschland in den Abgrund geführt.

Erdoğans engste Verbündete äußerten ihre Unterstützung für das Referendum. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev gratulierte Erdoğan und erklärte: „Dieses Referendum wird zweifellos den Beginn einer neuen Ära in der Geschichte unseres Bruderlandes einläuten und die Rolle und den Stand einer stabilen, starken Türkei auf der Weltbühne stärken.“

Der Emir von Katar, Scheich Tamim bin Hamad Al Thani, Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und die Regierungschefs Pakistans, Ungarns, Mazedoniens, Saudi-Arabiens, des Sudans und Kenias gratulierten dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu telefonisch zu dem Ergebnis.

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