Perspektive

Vorgezogene britische Neuwahlen inmitten Brexit-Krise

In Großbritannien werden am 8. Juni Neuwahlen stattfinden. Dies beschloss das britische Unterhaus am gestrigen Mittwoch mit 522 zu 13 Stimmen. Weit mehr als die erforderliche Zweidrittelmehrheit erhielt der Vorschlag, den Premierministerin Theresa May am Dienstag, 18. April, bekanntgegeben hatte. Das Parlament wird seine Tätigkeit am 2. Mai einstellen.

Mays überraschende Entscheidung macht das Ausmaß der Krise deutlich, die den britischen Imperialismus beherrscht, seit im letzten Juni bei einem Referendum mit knapper Mehrheit der Austritt aus der Europäischen Union beschlossen wurde. Seit damals steht May an der Spitze ihrer Partei. Die Frau, die damals dem „Remain“-Lager [für einen Verbleib in der EU] angehörte, hat sich ganz in den Dienst der Pro-Brexit-Kräfte gestellt und versichert unaufhörlich: „Brexit heißt Brexit“. Aber trotz ihres harten Auftretens ist es ihr bisher nicht gelungen, die tiefe Spaltung in der herrschenden Klasse zu übertünchen, geschweige denn zu heilen. Stattdessen hat sie sich in die Haltung eines „harten Brexit“ manövriert, der zum Ausschluss des Vereinigten Königreichs aus dem Europäischen Binnenmarkt führen könnte.

Weil jedoch 44 Prozent der britischen Exporte für Europa bestimmt sind und davon abhängen, dass London seine Stellung als Finanzzentrum mit Zugang zum Kontinent behält, verbinden die übrigen Parteien ihre Ablehnung eines „harten Brexit“ mit der Drohung, jedes Verhandlungsergebnis zu blockieren, das nicht den fortgesetzten Zugang zum Binnenmarkt garantiert.

Diese Konstellation hat Mays Verhandlungsposition gegenüber der EU stark geschwächt. In der geschwächten Position wiederum kommt das abnehmende Gewicht Großbritanniens in der Weltpolitik zum Ausdruck.

In ihrer kurzen Ansprache, in der sie die vorgezogene Wahl ankündigte, kritisierte May alle anderen Parteien scharf. So habe die Labour Party gedroht, „gegen unsere Abmachung mit der EU zu stimmen“, die Liberaldemokraten hätten angekündigt, „die Arbeit der Regierung bis zum Stillstand zu behindern“, und die schottische SNP [Scottish National Party] wolle gegen das Gesetz stimmen, das die britische EU-Mitgliedschaft außer Kraft setzt. Sie bezog sich auch auf „nicht gewählte Mitglieder aus dem Oberhaus“, ohne diese namentlich zu nennen.

Alle Genannten bezichtigte May samt und sonders des „nationalen Verrats“ in diesem „für die Nation enorm wichtigen Moment“ und forderte sie in einem Ton zur Beilegung aller Meinungsverschiedenheiten auf, der mehrere Medien veranlasste, sie mit dem türkischen Präsidenten Erdogan zu vergleichen.

Das Herzstück der Rede war die Aussage: „Das Land steht zusammen, aber nicht Westminster.“

Das ist eine Lüge. Zunächst einmal widerspiegeln die Spaltungen im Regierungszentrum jene in der herrschenden Klasse, die sich ständig vertiefen. Sie sind Ausdruck der wachsenden nationalen Gegensätze, die schon das Brexit-Referendum hervorgebracht haben. May hoffte, ihre Gegner durch ein Bündnis mit Donald Trump zum Schweigen zu bringen. Dieser hat den Brexit unterstützt und mit seinem eigenen „America First“-Protektionismus in Verbindung gebracht. Trump macht kein Hehl aus seiner Feindschaft gegen die EU, die er als von Deutschland dominierten Handelsrivalen der USA betrachtet.

Aber die Regierungen in Berlin und Paris konterten Trumps Herausforderung mit ihrer eigenen Unnachgiebigkeit. So erlitt Außenminister Boris Johnson in der Woche vor Mays Ankündigung auf dem G7-Gipfel eine herbe Schlappe, als die europäischen Regierungen seine im Auftrag der USA erhobene Forderung nach weiteren Sanktionen gegen Russland einhellig ablehnten. Moskau goss Hohn und Spott über Großbritannien aus: Das Land, dem jedes unabhängige Urteil fehle, sei offenbar nicht ernst zu nehmen.

Schließlich – und das ist das Wichtigste – kann kein einziger Politiker, und am wenigsten Theresa May, offen über die enormen sozialen Spannungen sprechen, die im Referendum vom letzten Juni zu der unerwarteten Ablehnung der EU geführt hatten. Ein beträchtlicher Teil der besonders ausgebeuteten und unterdrückten Arbeiter boykottierte die Aufforderung, für eine weitere EU-Mitgliedschaft zu stimmen. Sie brüskierten damit nicht nur den damaligen Tory-Führer David Cameron und den Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn, sondern auch den Gewerkschaftsdachverband TUC, die City of London, den damaligen US-Präsidenten Barack Obama und die EU-Staats- und Regierungschefs, die alle zum Verbleib in der EU aufgerufen hatten.

May spekuliert jetzt darauf, die EU-feindliche Stimmung für einen Wahlsieg auszunutzen. Ihre Arbeitshypothese geht von einem völligen Zusammenbruch der Labour Party aus. Auf dieser Grundlage hofft sie, die derzeitige schmale Mehrheit von 17 Sitzen bis auf 200 zu steigern. Dabei stützt sie sich auf aktuelle Meinungsumfragen, die den Tories momentan einen stabilen Vorsprung von bis zu 21 Prozentpunkten voraussagen. Aber dies ist ein hochriskantes Spiel, das nur gelingen kann, wenn der tief liegende Widerstand in der Bevölkerung gegen Austerität und soziale Zerstörung keinen fortschrittlichen Ausweg findet.

Jeremy Corbyn hat keine Alternative zu den Tories anzubieten. Er hat die letzten drei Jahre damit zugebracht, die Millionen, die darauf hofften, er werde Labours rechten Kurs umdrehen, nach Kräften zu enttäuschen. Corbyn hat die Initiative vollständig dem Blair-Flügel überlassen, der jetzt ein weiteres Mal versuchen wird, ihn abzusetzen oder ein Bündnis mit den Liberaldemokraten einzugehen.

Die Lage in Europa und weltweit ist höchst instabil und explosiv. So gesehen sind die sieben Wochen, die noch bis zum 8. Juni verbleiben, eine lange Zeit. Die politische Landschaft, die die aktuellen Umfragen bestimmt, kann sich bis zu den vorgezogenen Wahlen noch stark verändern.

Der Guardian schreibt ganz offen: „Großbritannien braucht diese Parlamentswahlen nicht, und die Bevölkerung will sie nicht. Es gibt keine Regierungskrise. Mrs. May verliert keine Abstimmungen im Unterhaus. Das Oberhaus stellt sich nicht quer. Kein Gesetzesvorhaben ist gefährdet. Wir haben weder Krieg noch Wirtschaftskrise. Bis zum Brexit sind es noch zwei Jahre hin. Auch die Presse verlangt keine vorgezogenen Wahlen. Der Regierung sind die Ideen nicht ausgegangen. Die Opposition steht nicht bereit.“

Weder Krieg noch Wirtschaftskrise?

Im Innern steht May einer zunehmend widerspenstigen Arbeiterklasse gegenüber, während sie zugleich auf eine Kollision mit der Scottish National Party zusteuert. Diese fordert ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit. Gleichzeitig erwägen Sinn Fein in Nordirland und die Regierung der Republik Irland im Süden ihre eigene Abstimmung über eine irische Vereinigung.

Nur einen Monat vor der geplanten britischen Wahl wird in Frankreich die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen stattfinden. Darin werden sich voraussichtlich Marine Le Pen, die Führerin des faschistischen Front National, und Emmanuel Macron von der PS-Abspaltung „En Marche!“ gegenüberstehen. Letzterer ist der Wunschkandidat der EU. Es könnte aber auch der nominell linke Jean-Luc Mélenchon von der Liste „Widerspenstiges Frankreich“ (La France insoumise) sein. Wer auch immer gewählt wird, das Ergebnis wird ganz Europa polarisieren und Auswirkungen auf Großbritannien haben, die niemand voraussagen kann.

Was noch wichtiger ist: Die britischen Ereignisse finden vor dem Hintergrund wachsender Kriegsgefahr statt: Die USA bedrohen Nordkorea, und auch die antirussische Propaganda nimmt weiter zu. Zeitgleich mit Mays Ankündigung überhäufte Washington die Regierung in Pjöngjang mit Drohungen, und Vizepräsident Mike Pence verkündete „das Ende der strategischen Geduld“.

Nach außen stellt sich Großbritannien als Trumps unerschütterlicher Verbündeter dar. Aber nur einen Tag vor Mays Ankündigung von Neuwahlen hat die Regierung wissen lassen, dass sie mit Äußerungen der amerikanischen Militärberater, die USA seien in der Lage, die Atomanlagen Nordkoreas zu zerstören, nicht einverstanden sei. Ein Insider der Regierung wird mit den Worten zitiert: „So weit waren wir schon einmal … Wir empfehlen dringend Zurückhaltung bei militärischen Schritten.“ Eine andere hochrangige Quelle aus der Regierung fügte hinzu: „Es fühlt sich an wie die Kubakrise. Noch dreizehn Tage bis zum Weltuntergang.“

Solche Warnungen aus dem Vereinigten Königreich werden in Washington auf wenig Gehör stoßen. Aber sie sind ein Hinweis auf die ernsten Gefahren, die der Weltbevölkerung drohen.

Bei jeder Wahl besteht die wichtigste Aufgabe darin, das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse auf das Niveau zu heben, das die immer tiefere Krise des Weltkapitalismus erfordert. Daher muss man alle Versuche zurückweisen, die Arbeiter in diesem „zweiten Brexit-Referendum“ an die eine oder andere Fraktion der herrschenden Klasse zu ketten. Es geht darum, die Weltereignisse in ihrer vollen Bedeutung zu verstehen.

Vor weniger als 15 Jahren sind schon einmal eine Regierung und ein Premierminister an einem massenhaften Antikriegsprotest gescheitert sind. Das war die Labour Party unter Tony Blair, und sie hatte zuvor eine viel breitere öffentliche Unterstützung als Theresa May mit ihren Tories. In dieser Wahl wird die Socialist Equality Party jede Gelegenheit nutzen, um klarzumachen, dass der Aufbau einer sozialistischen Führung notwendig ist, um die eigentlichen Pläne der Regierung zu vereiteln: Austerität, Militarismus und Krieg.

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