Ein Arbeiter berichtet über die Arbeitsbedingungen bei Amazon Leipzig

Der Online Newsletter International Amazon Workers Voice der WSWS stößt unter den Beschäftigten von Amazon in Deutschland auf großes Interesse. Während des Streiks im Verteilzentrum Bad Hersfeld fand der Informations-Flyer starken Absatz.

Einer der ersten, der sich in den Newsletter eintrug, war ein Amazon-Arbeiter aus Leipzig. Seit 2011 arbeitet er im dortigen Amazon Distribution-Center. Er war bereits mehrmals an Streikaktionen gegen die miserablen Arbeitsbedingungen beteiligt. Am Sonntag sprach er mit WSWS-Reportern über die Situation im Betrieb und gab einen Einblick in die perfiden Ausbeutungsbedingungen des US-Multis. Seinen Namen wollte er lieber nicht nennen.

Das Leipziger Werk wurde im Sommer 2006 errichtet und beschäftigt auf einem Areal von 75.000 m² gut 2000 Arbeiter. Es ist eines von bisher neun Versandhäusern mit rund 12.000 Beschäftigten in Deutschland.

Gleich zu Beginn unseres Gesprächs in Leipzig berichtete unser Gesprächspartner, dass er den Newsletter vor allem deshalb abonniert habe, weil er an einer internationalen Zusammenarbeit und Koordination aller Beschäftigten interessiert sei.

Er sagte: „Zwei Dinge sind für mich wichtig. Erstens, Amazon ist ein Weltkonzern und man kann nicht erfolgreich gegen ihn ankämpfen ohne internationale Zusammenarbeit der Arbeiter. Beim Streik im vergangenen Dezember wurden die Arbeiter in Polen gezwungen Extra-Schichten zu fahren, um unseren Arbeitskampf zu unterlaufen. Zweitens, Amazon spielt eine Vorreiterrolle. Die gnadenlose Ausbeutung bei uns soll zum Maßstab in allen anderen Betrieben werden.“

Dann schilderte er seinen Arbeitstag. Er wohnt außerhalb von Leipzig und muss bereits vor 5:00 Uhr mit dem Bus los. Um 6:30 Uhr ist Schichtbeginn. Die Frühschicht geht bis 15:00 Uhr. Zu der Zeit beginnt die Spätschicht und geht bis 23:30. Nachtzuschlag gibt es nicht, denn der beginnt erst ab 24:00 Uhr. Im Herbst und Winter sieht er – wenn er Frühschicht hat – nicht das Tageslicht. Wenn er morgens losgeht, ist es noch dunkel, und wenn er am frühen Abend zurück ist auch.

Es gibt auf jeder Schicht zwei Pausen. Eine dauert 20 und eine 25 Minuten. Am Arbeitsplatz darf man nicht essen und der Weg zur Kantine dauert 3 bis 5 Minuten. „Meist bleiben nur 10 Minuten in denen man sein Essen runterschlingen muss, und dann schnell zurück in die Halle“, sagt er.

Er ist Packer. Das heißt, er muss die Versandteile in ein Paket verpacken und versandfertig auf ein Band legen. Das geht folgendermaßen: Er steht an einem Packtisch vor einem Monitor. Dort wird der Auftrag angezeigt und die Teile liegen in einem so genannten „Silver Cart“ bereit, sie sind vorher von den „Pickern“ zusammengetragen worden.

Der Monitor zeigt auch die Größe der zu verwendeten Versandbox und die Art der Versendung, mit oder ohne Beipackzettel oder Lieferschein und die Art des Füllmaterials. Dann muss die Versandbox aufgefaltet, die Versandware eingelegt, mit Füllmaterial gesichert, geschlossen und verklebt werden. Dann muss ein Strichcode-Aufkleber von einer Rolle abgezogen und aufgeklebt werden und das Paket auf das Band gelegt werden.

Die Vorgabe von Amazon lautet: 75 Pakete in der Stunde packen. Das bedeutet knapp 50 Sekunden für ein Paket und ist trotz intensiver und konzentrierter Arbeit nicht zu schaffen. „Im Durchschnitt erreicht man nicht mehr als 65 oder 66 Pakete“, erklärt unser Gesprächspartner. Von Zeit zu Zeit komme ein „Leader“ oder „Manager“ vorbei – so heißen Vorabeiter und Meister –, zeige auf seinem Laptop die Leistungsbilanz „und ermahnt zur Leistungssteigerung.“

Die Arbeit ist körperlich und geistig sehr anstrengend. Zwar muss ein Packer nicht so viel rennen wie die Picker, die an manchen Tagen 25 Kilometer zurücklegen. Aber die starke Konzentration, das lange Stehen am Packtisch und die immer gleichen Bewegungen sind eine große Belastung und verursachen auf die Dauer eindeutige Gesundheitsschäden. Für diese Arbeit verdient er 11,96 Euro die Stunde, das ist ein Monatseinkommen von knapp 1400 Euro netto.

Man muss immer kurz vor Beginn der Schicht am Arbeitsspatz sein. Jede Schicht beginnt mit einer zehnminütigen Abteilungsversammlung in der ein Manager, manchmal auch ein Leader eine Ansprache hält und über „Vorkommnisse“ berichtet. Manchmal heißt es dann: „Heute wird es ein sportlicher Tag.“ Das bedeutet, die Auftragslage ist angespannt, das Arbeitstempo muss intensiviert werden. Meistens endet das Abteilungstreffen mit einem Appell zur Arbeitssicherheit. Darunter fällt auch die Ordnung und Sauberkeit am Arbeitsplatz für die jeder Beschäftigte selbst verantwortlich ist.

Die Manager und Leader hätten einen deutlichen Kommandoton drauf, berichtet der Leipziger Packer. Er wisse, dass unter ihnen mehrere ehemalige Bundeswehr-Soldaten und Offiziere tätig sind. Für sie sei das Kommandieren selbstverständlich, und manchmal würden Kollegen schon bei geringen Versäumnissen sehr schroff zur Rede gestellt. Das sei sehr erniedrigend.

Der Arbeitsdruck wird durch ein perfides Bonussystem namens „PRP“ noch verstärkt. Dabei handelt es sich um folgendes: Pro Monat gibt es die Möglichkeit, um zwölf Prozent brutto mehr zu verdienen. Aber nur, wenn bei Arbeitssicherheit, Produktivität und Inventurgenauigkeit keine Fehler passieren. Die 12 Prozent werden fast nie erreicht. Meistens gibt es nicht mehr als 3 bis 5 Prozent, oft auch Null.

Doch der Gruppendruck, der damit erzeugt wird, ist sehr groß. Finden drei Arbeitsunfälle oder auch geringe Arbeitssicherheitsvorfälle statt, fallen schon drei oder vier Prozent weg. Erreichen mehrere Arbeiter die vorgegebene Produktivität nicht, fallen auch diese vier Prozent weg. Und legen viele „Stower“, das sind die Verteiler, die die Ware in die Regale verstauen, Dinge falsch ab, oder übersteigt aus anderen Gründen die Inventurgenauigkeit eine bestimmte Toleranz, dann sind auch diese Bonuspunkte weg.

Die Bonuspunkte gelten für die ganze Abteilung. Das bedeutet, dass durch Fehler von einzelnen alle Arbeiter „bestraft“ werden und daher jeder versucht, seine Leistung in vollem Umfang zu bringen, um die anderen Kollegen nicht zu schädigen.

Vor wenigen Wochen brannte im Leipziger Werk die Müllpresse. Die Ursache war unklar. Arbeiter vermuten, dass es möglicherweise die fehlende Mülltrennung war, die dazu führte, dass sich Akkus unter dem Pressdruck entzündeten. Zumindest wurde seit dem Brand eine Mülltrennung eingerichtet. Mehrere Feuerwehrleute erlitten Rauchvergiftungen und mussten ärztlich behandelt werden. Obwohl sie nicht zur Belegschaft gehörten, wurde der Vorfall als Arbeitsunfall gewertet und der Bonus gesenkt.

Ein anderes Mal habe ein Arbeiter einen Schlaganfall erlitten und sei ins Krankenhaus gebracht worden. Obwohl weder er selbst noch sonst ein Mitarbeiter dafür verantwortlich gemacht werden könne, sei ein Punkt für Arbeitssicherheit abgezogen worden, berichtet der Leipziger Amazon-Arbeiter.

Dieses Bonussystem soll in Zukunft noch ausgeweitet werden. Aufgrund eines anhaltenden hohen Krankheitsstandes soll ein spezieller „Healthbonus“ eingeführt werden. Hat man selbst keine Fehlzeiten wegen Krankheit, kann man die Gesundheitsprämie trotzdem nur erreichen, wenn auch das ganze Team, in dem man arbeitet, keine oder wenige Fehlzeiten aufweist.

Mit dem System werden Arbeiter unter Druck gesetzt, sich auch dann auf die Arbeit zu schleppen, wenn es ihnen schlecht geht und sie sich eigentlich auskurieren müssten. Die Maßnahme spielt die Beschäftigten gegen einander aus und trägt dazu bei, das Arbeitsklima zu vergiften. Sie drängt besonders ältere und chronisch kranke Kollegen ins Abseits.

In Wirklichkeit ist der Grund für den hohen Krankenstand natürlich die extrem harte, Kräfte zehrende Arbeit. Die ständige Hetze, der Arbeitsdruck und die permanente Kontrolle erschöpfen auf Dauer die physische und psychische Gesundheit. In vielen Werken in Osteuropa sei der Arbeitsdruck und die Ausbeutung noch größer als in Leipzig, erklärt unser Gesprächspartner und betont die Dringlichkeit einer internationalen Zusammenarbeit.

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