Perspektive

Die Arbeiterklasse und die Wahlen in Großbritannien

Heute geht ein Wahlkampf zu Ende, wie man ihn in Großbritannien noch nie erlebt hatte. Innerhalb weniger Wochen machten die Prognosen eines Erdrutschsiegs für die Konservativen Spekulationen über eine knappe Mehrheit, ein Patt oder sogar einen Sieg von Labour Platz.

Zwei brutale Terroranschläge hinterließen viele Tote und noch mehr Verwundete. Auf den Straßen patrouilliert in großer Zahl bewaffnete Polizei. Unter geheimen Sicherheitsvorkehrungen bezogen an strategisch wichtigen Orten Soldaten Stellung.

Premierministerin Theresa May hatte die vorgezogenen Wahlen anberaumt, weil ihre Herren, die Finanzoligarchie und der Militär- und Geheimdienstapparat, keine zwei Jahre mehr abwarten wollten. Sie befürchteten, ansonsten die nächsten Wahlen vor dem Hintergrund schwerer politischer und gesellschaftlicher Erschütterungen abhalten zu müssen. Doch es stellte sich heraus, dass schon zwei Monate zu viel waren.

May wollte den internen Fraktionskrieg in der Labour Party und die gehässige Medienkampagne gegen Jeremy Corbyn ausnutzen, um de facto eine parlamentarische Diktatur zu errichten. Auf diesem Wege wollte sie den Sozialabbau und die militärischen Interventionen in Syrien und anderswo vorantreiben. Doch ihr Wahlkampf provozierte die Arbeiter und Jugendlichen, ihren ganzen Hass auf die Tories und deren Politik zum Ausdruck zu bringen. Corbyns Versprechen auf ein Ende der Sozialkürzungen wurden weithin unterstützt.

Mit ihrem widerlichen Versuch, die Empörung über die Terroranschläge für sich auszuschlachten, erlitt May auf der ganzen Linie Schiffbruch. Die klaren Beweise dafür, dass der Attentäter von Manchester, Salman Abedi, und mindestens zwei der drei Londoner Täter den Geheimdiensten und die Polizei bekannt waren, führen der Öffentlichkeit vor Augen: Zahlreiche Islamisten werden vom Staat geschützt, um sie in den Kriegen in Libyen, Irak und Syrien als Stellvertreter Großbritanniens und der USA zu benutzen.

Der „harte Brexit“, mit dem May ihre Zukunft verknüpft hat, stößt bei großen Teilen des Big Business und des Finanzplatzes London auf Ablehnung. Schätzungen, dass der Außenhandel mit der Europäischen Union nach dem Brexit um 40 % zurückgehen könnte, lösten Warnungen vor einer finanziellen Katastrophe aus.

Mays Absicht, gestützt auf die Trump-Regierung Deutschland, Frankreich und die übrigen EU-Staaten unter Druck zu setzen, hatte die entgegengesetzte Wirkung. Bundeskanzlerin Merkel beantwortete Trumps nationalistische Drohungen mit der Feststellung, dass die USA und Großbritannien keine verlässlichen Bündnispartner mehr seien. Angesichts der wachsenden Spannungen zwischen den USA und Europa versagt die außenpolitische Strategie Großbritanniens, den eigenen Einfluss durch den Rückgriff auf die militärische und wirtschaftliche Stärke der USA zu erhöhen.

Dennoch muss man der harten Wahrheit ins Gesicht sehen, dass eine Labour-Regierung unter Corbyn keine echte Alternative zu der von May vertretenen Kürzungs- und Kriegspolitik wäre.

Millionen Arbeiter wollen die Tories loswerden und sind bereit, Corbyns ständiges Zurückweichen vor dem rechten Blair-Flügel seiner Partei zu entschuldigen, weil sie auf seine Versprechen hoffen, den nationalen Gesundheitsdienst zu erhalten, den Mindestlohn zu erhöhen und neuen Wohnraum zu schaffen. Doch Corbyns Versuch, in seinem Wahlprogramm minimale Sozialreformen mit der militaristischen Agenda des britischen Imperialismus zu verbinden, gleicht der Quadratur des Kreises.

Die tiefste Krise des Weltkapitalismus seit dem Zweiten Weltkrieg, mit der die Schrecken von Faschismus und Krieg aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückkehren, hinterlässt ihre Spuren: Großbritannien gerät wirtschaftlich, politisch und gesellschaftlich aus den Fugen. Der Versuch, unter Bedingungen von Handelskriegen und militärischen Konflikten die „globale Wettbewerbsfähigkeit“ zu wahren, setzt die Zerschlagung von Arbeitsplätzen, Löhnen und lebenswichtigen sozialen Diensten voraus.

Dadurch verschärft sich der Gegensatz zwischen der Arbeiterklasse und den Superreichen bis hin zu einer sozialen Explosion. Der Interessengegensatz zwischen der Oligarchie und der Arbeiterklasse hat sich so stark zugespitzt, dass er durch Corbyns Ruf nach „Gerechtigkeit“ und seiner Parole „für die Vielen, nicht die Wenigen“ nicht überbrückt werden kann. Die Labour Party vertritt mit ihrem Ziel eines „industriellen Patriotismus“ durch eine „partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften“ selbst eine nationalistische Politik. Damit werden die Arbeiter dem Handelskriegsprogramm von May untergeordnet, dem sie ihre Arbeitsplätze und ihren Lebensstandard opfern sollen.

Es ist nun knapp zwei Jahre her, seit Corbyn zum Parteivorsitzenden gewählt wurde. Hunderttausende hatten versucht, die Labour Party auf diese Weise nach links zu drücken. Doch stattdessen ist Corbyn selbst immer weiter nach rechts gerückt.

Er widersetzte sich dem Ausschluss rechter Abgeordneter, die seine Absetzung betreiben, hob bei der Abstimmung über das militärische Eingreifen in Syrien und über die Verlängerung des Trident-Atomwaffenprogramms den Fraktionszwang auf und nahm dann alle diese Rückzieher auch noch in sein Wahlmanifest auf. Das allein zeigt, welche Rolle eine Labour-Regierung unter seiner Führung spielen würde.

Corbyns Reaktion auf die Terroranschläge in Manchester und London bietet Anlass zu den schlimmsten Befürchtungen.

Die Konservativen versuchen die Anschläge zu Wahlkampfzwecken auszuschlachten, indem sie Corbyn eine weiche Haltung gegenüber dem Terrorismus vorwerfen und ihn als Gefahr für die nationale Sicherheit darstellen. Dabei beziehen sie sich auf seine Kritik an der Nato und seine Weigerung, kategorisch zu erklären, dass er zum Einsatz von Atomwaffen bereit sei. Die Tories bereiten sich darauf vor, nach dem Wahltermin am 8. Juni die staatliche Repression deutlich zu verschärfen.

Mays Vierpunkteplan zum „Kampf gegen den Terror“, der u. a. Zensur im Internet und ein Vorgehen der Polizei gegen „sichere Rückzugsorte“ für „Extremismus“ im öffentlichen Dienst umfasst, dient der Niederschlagung politischer Opposition. Zugleich soll das Streikrecht weiter eingeschränkt werden. Der diktatorische Kern des Plans zeigte sich in ihrer Aussage: „Und wenn Gesetze zum Schutz der Menschenrechte uns daran hindern, dann werden wir diese Gesetze ändern, damit wir freie Hand haben.“

Außerdem bekräftigte sie in ihrer Ansprache in London die Absicht, das militärische Eingreifen im Irak und in Syrien zu verstärken.

Zu all dem äußerte sich Corbyn mit keiner Silbe. Anstatt zu erklären, dass die Terroranschläge eine Folge der verbrecherischen Interventionen des britischen Imperialismus im Nahen Osten sind, wirft er May vor, zu viele Polizistenstellen abgebaut zu haben. Außerdem betont er, dass er selbst den Terrorismus „mit allen Mitteln“ bekämpfen würde.

Damit präsentiert er sich nicht als Kandidat für eine soziale Umgestaltung der Gesellschaft, sondern als Law-and-Order-Mann. Seine Zusage an die herrschende Elite, dass sie ungeachtet seiner linken Sprüche nichts zu befürchten habe, erfüllte sich bereits in der Wahlkampagne und hätte auch bei einer Regierungsübernahme von Labour Bestand.

Die pseudolinken Gruppen in Großbritannien bemühen sich, das tiefe Misstrauen der Arbeiter gegenüber Labour zu zerstreuen, indem sie die verbreiteten Illusionen über Corbyn als Person ausnutzen. So schreibt die Socialist Workers Party: „Wir unterstützen nicht diejenigen, die immer wieder versuchen, Labour nach rechts zu drücken. Aber die einzige Möglichkeit, Unterstützung für Corbyn zu zeigen, besteht darin, allen Labour-Kandidaten die Stimme zu geben.“ Die Socialist Party vermeidet das Wort „Labour“ und fordert einfach eine Corbyn-Regierung.

Der Standpunkt der Socialist Equality Party, dass die Labour Party nicht durch die Wahl eines neuen Vorsitzenden geändert werden kann, hat sich bestätigt. Die Labour Party ist heute noch dieselbe Partei wie unter Tony Blair und Gordon Brown.

Wie immer die Wahl am 8. Juni ausgeht, die britische Arbeiterklasse steht wie die Arbeiter weltweit vor einem Kampf auf Leben und Tod gegen das Absinken in soziale und politische Reaktion und die wachsende Kriegsgefahr. Der einzige Weg vorwärts liegt in einer neuen, revolutionären sozialistischen und internationalistischen Perspektive. Fortgeschrittene Arbeiter und Jugendliche stehen vor der Aufgabe, sich der SEP anzuschließen und sie als neue Führung der Arbeiterklasse aufzubauen.

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