Perspektive

Die politischen Folgen der Brandkatastrophe im Grenfell Tower

Es gibt weltgeschichtliche Ereignisse, die zu einem grundlegenden Wandel im Bewusstsein führen und die Grundlage für die Entwicklung einer sozialistischen Orientierung in der breiten Masse der arbeitenden Bevölkerung schaffen. Das Inferno im Grenfell Tower vom 14. Juni ist ein solches Ereignis.

In den kommenden Jahren wird man das politische Leben in Großbritannien in „vor“ und „nach“ Grenfell unterscheiden müssen. Die Tragödie hat auf grausamste Weise die Wahrheit über die sozialen Beziehungen zwischen den Klassen enthüllt – und zwar im reichsten Bezirk einer der reichsten Städte der Welt.

Grenfell ist eine Katastrophe von nationalen Ausmaßen, der schwerste Großbrand seit über 100 Jahren. Und doch haben die Behörden auch nach 14 Tagen noch keine Opferzahlen bestätigt – sei es, weil sie es nicht wagen, oder weil ihnen die einstigen Bewohner des Grenfell Towers so gleichgültig sind, dass sie die Toten gar nicht zählen.

Jeden Tag kommen neue Berichte über das beispiellose Ausmaß der Katastrophe ans Licht: von Bewohnern, die ohne Aussicht auf Rettung starben; von Feuerwehrleuten, die apokalyptische Szenen erlebten; und vom Leid der Überlebenden, Verwandten und Anwohnern.

Das Leben von Hunderttausenden Menschen und Kindern in anderen Hochhäusern ist der gleichen Gefahr ausgesetzt. Die Außenverkleidung und Isolierung des Grenfell Tower, die ein kleines Feuer in einen vernichtenden Großbrand verwandelt haben, sind auch an 600 weiteren Hochhäusern angebracht, in denen sich vor allem Sozialwohnungen befinden. Bisher wurden die Außenfassaden von 75 Hochhäusern überprüft, die alle durch den Sicherheitstest fielen.

Jetzt werden 30.000 Schulen sowie Krankenhäuser, Studentenwohnheime, Hotels und ein Fußballstadion untersucht. Eine genauere Prüfung von Bürogebäuden, Einkaufszentren und anderen Gewerbeimmobilien soll noch folgen.

Das Desaster des Grenfell Tower nimmt internationale Dimensionen an. Vor dem Brand hatte es weltweit mindestens zwanzig ähnliche Hochhausbrände aufgrund der Fassadenverkleidung gegeben, die aber – aus reinem Zufall – weniger tragisch endeten. Arconic, der amerikanische Hersteller der Fassadenteile des Grenfell Towers, hat in Großbritannien Produkte verkauft, die in den USA seit fast zwei Jahrzehnten verboten und in Europa nie erlaubt waren. Brandexperten warnen, dass die britischen Bauvorschriften auch für die Länder des Nahen Osten und die ehemaligen Mitgliedsstaaten des britischen Commonwealth als Vorbild dienen.

Nicht nur in Großbritannien, sondern auf der ganzen Welt sind die Menschen erschüttert – so gewaltig ist die Tragödie, so überwältigend ihre Auswirkungen. Noch immer versuchen viele, das Geschehene und die Ausmaße, die mehr und mehr ans Licht kommen, zu verarbeiten.

Doch der Schock vermischt sich mit Empörung. Millionen erkennen, dass Grenfell kein Unfall war, sondern ein Verbrechen. Diese Tragödie war voll und ganz vorhersehbar und ist das direkte Ergebnis von vier Jahrzehnten Deregulierung unter den Tory- und Labour-Regierungen und ihren kommunalen Vertretern. Sie alle sind mitschuldig an diesem Massenmord.

Mindestens 100 Menschen, wahrscheinlich sogar mehr, sind in den Flammen umgekommen, weil sie arm sind und zur Arbeiterklasse gehören. In dieser Gesellschaft, in der nur das Wohl der Superreichen zählt, ist ihr Leben nichts wert.

Die Katastrophe des Londoner Grenfell Tower ist zum Inbegriff der kapitalistischen Verwüstung geworden, die ganze Generationen der Arbeiterklasse ins Elend getrieben hat und ein Ergebnis der massiven Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben ist.

Die ausgebrannte Ruine des Hochhauses ragt wie ein Mahnmal über London und klagt die Verbrecher an – von Margaret Thatcher, einer politischen Soziopathin, über Blair, Brown und Cameron bis Theresa May. Sie haben die sozialen Errungenschaften der britischen Arbeiterklasse zerstört, um die Taschen der internationalen Elite zu füllen.

Sie strichen lebensnotwendige Dienstleistungen zusammen – darunter die Kürzungen bei der Londoner Feuerwehr unter dem ehemaligen Bürgermeister und heutigen Außenminister Boris Johnson – und schafften zahlreiche Sicherheitsbestimmungen ab. Auch die Warnungen nach den Untersuchungen ähnlicher Brände in Großbritannien seit 1999, wie dem Feuer in Lakanal House im Jahr 2013, wurden ignoriert.

Die Bewohner von Grenfell hatten mehrfach versucht, auf die gefährlichen Zustände in dem Hochhaus hinzuweisen, vor allem als die sogenannte „Sanierung“ stattfand, die von der konservativ regierten Bezirksverwaltung und den beauftragten Firmen durchgeführt wurde. Die Warnungen wurden nicht nur ignoriert, sondern den betreffenden Personen wurde auch mit Strafverfahren gedroht.

Grenfell hat die Identitätspolitik, die auf Fragen der Hautfarbe, des Geschlecht und der sexuellen Orientierung fixiert ist, vollständig entblößt. In der allgemeinen Anteilnahme und Solidarität, die der Brand ausgelöst hat, und in dem Hass auf diejenigen, die für das Verbrechen verantwortlich sind, wird sichtbar, dass die Frage der Klasse die grundlegende Trennlinie in der Gesellschaft ist.

Die unzähligen Äußerungen der Grenfell-Anwohner, die die Ursache der Katastrophe in der Lage der Arbeiterklasse und der ärmsten Schichten der Bevölkerung sehen, zeigen eine Veränderung im politischen Bewusstsein: Es wird immer deutlicher, dass der Kampf gegen soziale Ungleichheit nur geführt werden kann, wenn sich die arbeitende Bevölkerung gegen ihren gemeinsamen Feind zusammenschließt.

Dieser scheinbar plötzliche Sprung im politischen Bewusstsein der arbeitenden Bevölkerung beruht auf den bitteren Erfahrungen der letzten Jahrzehnte.

Nach der Niederlage der russischen Revolution von 1905 wurde der Klassenkampf mehrere Jahre zurückgedrängt, und die politische Reaktion wähnte sich als Sieger. Doch nach dem Massaker an 250 streikenden Arbeitern der sibirischen Goldgruben an der Lena änderte sich die Lage grundlegend. Das Massaker wirkte wie ein Katalysator, der die verborgene und unterdrückte Feindschaft der russischen Massen gegenüber der bestehenden Ordnung weckte und eine Welle von Massenstreiks und ein Wiederaufleben der revolutionären Stimmung auslöste.

Die Arbeiter in Großbritannien und der ganzen Welt haben eine noch viel längere Periode durchlebt, in der ihr sozialistisches Bewusstsein und der Klassenkampf unterdrückt wurden. Millionen Menschen mussten dafür mit der Zerstörung ihrer Arbeitsplätze, Löhne und Lebensbedingungen bezahlen und ein Vierteljahrhundert ununterbrochener Kriege in einem Land nach dem anderen ertragen.

Doch auch diese Zeit neigt sich dem Ende zu. Ein neues Stadium der Geschichte beginnt, in dem sich die Arbeiter und Jugendlichen daran erinnern, warum die Bolschewiki die Massen im Oktober 1917 in den revolutionären Sturz des kapitalistischen Regimes geführt haben – und warum dieser heldenhafte Kampf in Großbritannien so große Unterstützung gewonnen hatte.

Am Wochenende hielt Labour-Parteichef Jeremy Corbyn im südenglischen Glastonbury eine Rede vor 200.000 Zuhörern. Er fragte: „Ist es richtig, dass nach den grauenhaften Ereignissen im Grenfell Tower momentan so viele Menschen Angst in ihrer eigenen Wohnung haben?“

Corbyn zitierte den berühmten Ausruf des britischen Schriftstellers Percy Bysshe Shelley an die Arbeiter nach dem Peterloo-Massaker von 1819: „Löwen! Schlummert immer noch?“

Tatsächlich will er jedoch, dass sich die Arbeiterklasse niederlegt wie die Lämmer. Sein Ziel ist es, die Empörung der Bevölkerung zu beruhigen und den sozialen Frieden wiederherzustellen. Beispielhaft dafür ist sein pastoraler Aufruf zur „Einigkeit“ aller „intelligenten Menschen“. Deshalb unterstützt er die Versuche von Premierministerin Theresa May, die Wut über Grenfell in die sicheren Kanäle einer öffentlichen Untersuchung zu lenken, die, so Corbyns Behauptung, in einigen Jahren sorgfältig berechnete und unbedeutende Reformen hervorbringen wird.

In Wirklichkeit kann es auf die immense soziale Katastrophe, die in Grenfell ihren Ausdruck fand, keine andere Antwort geben als eine politische Offensive mit dem Ziel, die Vorherrschaft der Finanzoligarchie und ihrer Parteien über die Gesellschaft zu beenden. Wie können Millionen Häuser, Schulen, Krankenhäuser und andere öffentliche Gebäude sicher gemacht werden, wenn nicht der Reichtum und die Kapitalgüter der Superreichen beschlagnahmt werden? Wie sonst können all die Verbrecher in den obersten Rängen ihre gerechte Strafe erhalten?

Der Geist des Widerstands gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, den Corbyn zu Unrecht beschwört, ist in Wirklichkeit nur in der revolutionären Perspektive der Socialist Equality Party und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale beinhaltet. Dieser Partei muss sich die Arbeiterklasse jetzt zuwenden.

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