Professor Sean McMeekin wärmt längst widerlegte Diffamierung Lenins wieder auf

Im Rahmen einer Serie von Gastbeiträgen zum einhundertsten Jahrestag der russischen Revolution veröffentlichte die New York Times am 19. Juni 2017 einen Artikel von Professor Sean McMeekin, der am Bard College lehrt. Kein Essay dieser Serie, die zwischen Schimpftiraden und zaghaften Rechtfertigungsversuchen für die Revolution schwankt, trägt zum Verständnis der Ereignisse von 1917 bei. Doch McMeekins Beitrag mit dem Titel „War Lenin ein Agent Deutschlands?“ ist eindeutig der gehässigste und dümmste von allen.

Der Artikel basiert auf McMeekins Buch „The Russian Revolution: A New History. („Die russische Revolution: Eine neue geschichtliche Darstellung“), das vor Kurzem erschienen ist.Hätten sich antikommunistische Diktatoren wie Franco (Spanien) und Pinochet (Chile) oder der Hexenjäger J. Edgar Hoover (USA) als Hobby-Geschichtsschreiber versucht, dann wäre wohl etwas Ähnliches herausgekommen. McMeekins Schrift kann nicht als Geschichtsbuch bezeichnet werden, da es dem Autor an Wissen, fachlicher Kompetenz und Respekt vor den Tatsachen mangelt. Es ist bloße antikommunistische Propaganda, aus der niemand etwas lernen kann.

Lenin spricht während der Russischen Revolution von 1917 zu den Massen

Weshalb hat McMeekin ein solches Buch geschrieben? Abgesehen von der Aussicht auf leicht verdientes Geld (antikommunistische Schriften werden in der Regel gut beworben und in der New York Times und vielen anderen Publikationen wohlwollend rezensiert) wird McMeekin auch von politischen Motiven geleitet. Wie die World Socialist Web Site zu Beginn dieses Jahres feststellte: „Ein Gespenst geht um in der Welt des Kapitalismus: das Gespenst der russischen Revolution.“ Davon fühlt sich auch McMeekin verfolgt. Im Epilog seines Buchs schreibt er unter der Überschrift „Das Gespenst des Kommunismus“, dass die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung eine Gefahr für den Kapitalismus darstellt und der Bolschewismus wieder an Anziehungskraft gewinnt. „Mit dem Leninismus verhält es sich leider wie mit den Atombomben, die ebenfalls dem ideologischen Zeitalter entsprangen, das 1917 begann: Einmal erfunden, ist er nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Die soziale Ungleichheit wird uns immer begleiten und damit auch die wohlmeinenden Bestrebungen von Sozialisten, sie abzuschaffen.“ Und so „ist die Neigung zum Leninismus unter den Ehrgeizigen und Unerbittlichen stets latent vorhanden, insbesondere in verzweifelten Depressions- oder Kriegszeiten, die radikale Lösungen nahelegen“. McMeekin fährt fort: „Wenn uns die letzten einhundert Jahre eines gelehrt haben, dann dies: dass wir uns besser wappnen und bewaffneten Propheten, die eine perfekte Gesellschaft versprechen, Widerstand entgegensetzen sollten.“[1]

In seinem Buch erläutert McMeekin dann, wie sein Aufruf, „dass wir uns besser wappnen und bewaffneten Propheten, die eine perfekte Gesellschaft versprechen, Widerstand entgegensetzen sollten“, zu verstehen ist. Das einzige Mittel gegen die Gefahr der Revolution ist für ihn die Ermordung der Revolutionäre. Der große politische Fehler im Jahr 1917, so McMeekin, habe darin bestanden, dass Kerenski die Bolschewiki nicht physisch auslöschte, als sich im Juli 1917 die Gelegenheit dazu bot. Denn zu diesem Zeitpunkt seien Informationen „entdeckt“ worden, die bewiesen hätten, dass die Bolschewistische Partei Geld von Deutschland erhalten und Lenin folglich als Agent der Obersten Heeresleitung gehandelt habe.

Mit dieser einhundert Jahre alten Verleumdung äfft McMeekin die Journalisten nach, die 1917 in der antikommunistischen gelben Presse die Propaganda der Rechtsliberalen, Monarchisten und Schwarzhunderter (russischen Faschisten) verbreiteten.

Bevor wir im Einzelnen auf die von McMeekin wieder aufgewärmte Lüge eingehen, sind einige Anmerkungen über seine fachliche Kompetenz angebracht. Wie vielen „Autoritäten“ auf dem Gebiet der Geschichte des revolutionären Russlands, die heute weithin publiziert werden, mangelt es McMeekin an elementarer Sachkenntnis. Ein Beispiel hierfür ist seine Darstellung der Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki, die sich 1903 auf dem Zweiten Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) vollzog. Dies war das wohl wichtigste Ereignis in der Geschichte der russischen revolutionären Bewegung vor 1917, das auch auf internationaler Ebene weitreichende Folgen hatte. Hier die Darstellung McMeekins:

Nach der gängigen Auffassung, die in den meisten Geschichtsbüchern vertreten wird, geht die berühmte Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki im Juli 1903 darauf zurück, dass Lenins Konzeption eines Kaders von Berufsrevolutionären (bisweilen als Avantgardismus bezeichnet), die er 1902 in seiner Streitschrift Was tun? vertreten hatte, auf den Widerstand der Menschewiki stieß, denen eine Massenmitgliedschaft von Arbeitern in der Partei vorschwebte. Doch in Wirklichkeit entzündete sich der eigentliche Streit auf dem Brüsseler Parteitag an der jüdischen Frage. Die Frage der Parteiorganisation kam überhaupt erst im 14. Plenum zur Sprache. Lenins Hauptziel in Brüssel war, die Autonomie des Bunds – d. h. der Juden – innerhalb der Partei zu unterbinden. Dabei setzte er auf das Argument, dass die Juden keine Nation im eigentlichen Sinne darstellten, da sie weder eine gemeinsame Sprache noch ein nationales Siedlungsgebiet hätten. Martow, der Gründer des Bunds, nahm hieran großen Anstoß und verließ den Parteitag, um die neue Minderheitsfraktion (Menschewiki) zu gründen. Ihm schlossen sich nahezu alle jüdischen Sozialisten an, insbesondere Lew Bronstein (Trotzki), ein junger Intellektueller aus der südukrainischen Stadt Cherson, der an einer deutschen Schule im kosmopolitischen Odessa für den europäischen Marxismus empfänglich geworden war. Da Lenin praktisch in Reinform die Argumente der russischen Antisemiten wiederholte, ist leicht zu begreifen, weshalb sich Martow, Trotzki und andere Juden der Opposition anschlossen.[2]

Diese Darstellung ist sowohl faktisch als auch von der politischen Auslegung her völlig verkehrt. Abgesehen von der falschen Zeitangabe (die Spaltung war nicht im Juli, sondern im August) zaubert McMeekin, um Lenin als Antisemiten zu verleumden, eine Darstellung des Bruchs zwischen Menschewiki und Bolschewiki aus dem Hut, die nichts mit der historischen und politischen Realität zu tun hat. Die Spaltung der SDAPR ging nicht auf die Frage des jüdischen Bunds zurück. Martow war nicht der „Gründer“ des Bunds und verließ auch keineswegs den Parteitag, um dagegen zu protestieren, dass Lenin diesem innerhalb der Partei keine Autonomie gewähren wollte. In Wirklichkeit war Martow der Verfasser der SDAPR-Resolution, die den Bund zum Auszug veranlasste. Martow widersetzte sich der jüdischen Autonomie innerhalb der revolutionären Arbeiterpartei weitaus entschiedener als Lenin. Wie Leopold Haimson, die führende Autorität auf dem Gebiet der Geschichte des Menschewismus, in seiner bedeutenden Studie über die russischen Marxisten und die Ursprünge des Bolschewismus schrieb, „führte dieses Thema auf dem Zweiten Parteitag zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen Martow und den Vertretern des Bunds. In diesen Diskussionen schlug er einen schärferen polemischen Ton an als alle anderen Mitglieder seines Lagers“.[3] Was McMeekins Behauptung angeht, auch Trotzki habe aus Unterstützung für die Forderung des Bunds nach Autonomie den Parteitag von 1903 verlassen, so ist sie ein weiterer Ausdruck haarsträubender Unwissenheit. Trotzki war ein unversöhnlicher Gegner des Bunds, und aus der Mitschrift der Debatten (die auf Englisch vorliegt) geht hervor, dass Trotzki wiederholt zugunsten von Martows Resolution Stellung nahm.

Julius Martow 1917

Das ist kein geringfügiger Fehler. Mit seiner Prahlerei, er habe eine „gängige Auffassung“ über die Spaltung von 1903 widerlegt, stellt McMeekin lediglich zur Schau, dass er nicht einmal die einfachsten Tatsachen über die Geschichte der russischen revolutionären Bewegung kennt. Man kann davon ausgehen, dass McMeekin weder Haimsons maßgebliches Werk (es ist nicht in der Bibliografie seines Buches aufgeführt) noch Lenins detaillierte Beschreibung des Zweiten Parteitags in Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück gelesen hat. Mit seiner Unfähigkeit, die Ursachen für die Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki zu erkennen und zu erläutern, disqualifiziert sich McMeekin als ernstzunehmender Kenner der Geschichte des Sozialismus in Russland.

McMeekins Umgang mit den Verleumdungen, die während der konterrevolutionären Welle im Juli-August 1917 gegen Lenin und die Bolschewiki erhoben wurden, bewegt sich auf dem gleichen erbärmlichen Niveau. Seine Geschichten von „deutschem Gold“ enthalten nichts Neues. Der herausragende Historiker der russischen Revolution Alexander Rabinowitch erläuterte bereits 1968 in seinem Werk Prelude to Revolution (Vorspiel zur Revolution), auf welche politischen Beweggründe die Angriffe auf Lenin zurückgingen.

Die deutsche Regierung mag 1917 versucht haben, den Bolschewiki Geld zukommen zu lassen. Doch dabei rechnete sie sich aus, dass ihr Feind durch den Widerstand der Sozialisten gegen die Kriegsführung Russlands geschwächt würde. Solche Bemühungen, auf die Entwicklung in Russland Einfluss zu nehmen – die auch von britischer und französischer Seite unternommen wurden – fanden ohne jede Beteiligung Lenins an den Ränken der deutschen Regierung statt.

„Doch nirgendwo in der umfangreichen Literatur zu diesem Thema“, schreibt Rabinowitch in Prelude to Revolution, „findet man den geringsten Beweis für die These, dass Lenins Politik oder Taktik in irgendeiner Weise von den Deutschen bestimmt oder auch nur beeinflusst wurde“. [4]

Es dürfte nicht überraschen, dass McMeekin in seiner Bibliografie Rabinowitchs Buch nicht unter den wichtigsten Werken zum Juli 1917 aufführt. Dabei ist Rabinowitchs Einschätzung wissenschaftlicher Konsens. Kein einziger ernsthafter Historiker hat die Anschuldigungen gegen Lenin je anders eingeschätzt denn als Verleumdungen.

Trotzkis Ankunft in Petrograd 1917

Kaum war Lenin nach der Fahrt durch Deutschland in seinem „verplombten Zug“ in Russland angekommen, da stellte die konterrevolutionäre Reaktion den Führer der Bolschewiki auch schon als Agenten des Kaisers hin. In den ersten Monaten der Revolution wurde diese Bezichtigung außerhalb der rechtsliberalen und faschistischen Kreise von niemandem aufgegriffen. Jedem war klar, dass der Mann, der von den russischen Arbeitern als einer ihrer mutigsten und klügsten Führer anerkannt wurde, auf dem schnellsten Weg in das revolutionäre Petrograd zurückkehren wollte. Einen Monat später machte auch Martow nach langem Zaudern von der Route durch Deutschland Gebrauch. Darüber hinaus wurde Lenins Entscheidung durch die Erfahrungen bestätigt, die Trotzki im März-April 1917 machte. Als er von New York aus den Atlantik überqueren wollte, holten ihn die britischen Behörden vor Halifax gewaltsam vom Schiff. Die Briten sperrten den gefürchteten Revolutionär, den viele für „schlimmer als Lenin“ hielten, einen Monat lang in einem Kriegsgefangenenlager ein, um seine Rückkehr nach Russland zu verhindern. Angesichts der Proteste des Petrograder Sowjets und der zögerlichen Forderungen nach seiner Freilassung vonseiten der Provisorischen Regierung durfte Trotzki schließlich seine Rückreise nach Russland fortsetzen. Er traf dort einen Monat später als Lenin ein.

Die Anschuldigung, Lenin sei ein deutscher Agent gewesen, wurde auf dem Höhepunkt der Julitage (3.-4. Juli 1917) von Alexander Kerenski, der Provisorischen Regierung und der faschistischen Rechten aus Angst vor einem Aufstand der Arbeiterklasse erhoben. Obwohl die Bolschewistische Partei einen Aufstand für verfrüht hielt und zur Zurückhaltung mahnte, holten die Provisorische Regierung und ihre Verbündeten zu einem wüsten Angriff gegen Lenin aus. Die reaktionäre Gossenpresse schürte in Petrograd eine pogromartige Stimmung, doch die Hetze wurde als solche erkannt. Nikolai Suchanow erinnert sich in seinen Memoiren:

Natürlich zweifelte niemand von denen, die wirklich mit der Revolution verbunden waren, daran, dass die Gerüchte [gegen Lenin] unsinnig waren. Aber mein Gott! – Was lösten sie für Gespräche unter der Minderheit, den Außenstehenden, den durchschnittlichen städtischen und ländlichen Dummköpfen aus.[5]

Eindringlich beschreibt Suchanow die von Lügen und Gewalt geprägte Atmosphäre, in der die gegen Lenin gerichteten Verleumdungen eine erstaunlich starke Wirkung entfalteten. Mit Abscheu äußert er sich über die „Verkommenheit unserer liberalen Presse“, die nichts unversucht ließ, um Lenins Glaubwürdigkeit zu zerstören. Niemand habe sich die Mühe gemacht, die Dokumente, die Lenin angeblich belasteten, genauer zu untersuchen.

In den folgenden Tagen wurde keinerlei weiteres Material veröffentlicht. Aber für die beginnende Periode [der politischen Reaktion] genügte das Wenige. Es bedarf keiner Zitate, um sich vorzustellen, welchen Kriegstanz die bürgerliche Presse auf den Beweis für Lenins Käuflichkeit hin vollführte. Zweifellos versuchten die zaristische Geheimpolizei und die wahren Agenten des deutschen Generalstabs, die Juli-Unruhen auszunutzen. Alle möglichen windigen Gestalten in der Hauptstadt nutzten die Verwirrung, das Durcheinander, die Zusammenstöße und Stimmungsschwankungen des Vortags aus. Die Schuld an sämtlichen Verbrechen wurde natürlich von allen Seiten den Bolschewiki zugeschoben. Und am 5. Juli, dem ersten Tag der Reaktion, quoll die „große Presse“ über von Hetze gegen die Bolschewiki. [6]

Prägnant zusammengefasst werden die Anschuldigungen gegen Lenin in dem gut recherchierten und anschaulich geschriebenen Buch October von China Miéville, das vor Kurzem erschienen ist:

Die byzantinisch anmutenden Details der Verleumdung gingen auf Äußerungen eines gewissen Fähnrichs namens Jermolenko und eines Kaufmanns namens S. Burstein zurück. Letzterer erhob den Vorwurf, dass ein deutsches Spionagenetzwerk in Stockholm unter der Führung des zum deutschen Patriotismus bekehrten ehemaligen marxistischen Theoretikers Parvus Verbindungen zu den Bolschewiki unterhalte. Jermolenko wiederum behauptete, er habe als Kriegsgefangener von Lenins Rolle erfahren, als der deutsche Generalstab (wohl aufgrund einer komplizierten Kette von Verwechslungen) versucht habe, ihn anzuwerben, und er zum Schein darauf eingegangen sei.

Diese Darstellung war eine Mixtur aus Lügen, Erfindungen und Verdrehungen. Jermolenko war ein fragwürdiger Charakter, bestenfalls ein Fanatiker, und Burstein wurde sogar von den Behörden als völlig unglaubwürdig eingestuft. Das Dossier war von einem verbitterten Ex-Bolschewiken namens Alexinski zusammengestellt worden, der dermaßen dafür bekannt war, in der Scheiße zu rühren und Streit zu stiften, dass ihn der Sowjet nicht als Mitglied zugelassen hatte. Selbst auf der Rechten schenkten nur wenige ernsthafte Menschen all dem auch nur den geringsten Glauben, was erklärt, weshalb einige etwas weniger ehrlose oder vorsichtigere Reaktionäre wütend auf die Zeitung Schiwoje Slowo [Lebendiges Wort, das rechte Boulevardblatt, das die Hetzkampagne losgetreten hatte] waren, weil sie es veröffentlicht hatte. [7]

McMeekins Buch und sein Essay in der New York Times sind nichts weiter als eine Neuauflage des Versuchs „in der Scheiße zu rühren“, um Miévilles treffenden Ausdruck zu gebrauchen. Dabei mischt der Professor dem stinkenden Schlamm noch reichlich falsche Behauptungen bei.

Nach einem zweiten Putschversuch, der als Julitage bekannt wurde, wurden Lenin und zehn weitere Bolschewiki des Landesverrats und der Organisation eines bewaffneten Aufstands angeklagt. Dutzende Zeugen meldeten sich und berichteten von Telegrammen aus Stockholm, Geldwäsche über eine deutsche Importfirma, deutsche Gelder für die bolschewistische Zeitung Prawda (z. B. für Nummern, die für die Frontsoldaten bestimmt waren) und die aktuellen Sätze für das Hochhalten bolschewistischer Schilder bei Straßenprotesten (10 Rubel) oder für die Beteiligung an den Roten Garden (40 Rubel pro Tag). Lenin selbst konnte nach Finnland fliehen, doch die meisten seiner Genossen wurden verhaftet. Die Bühne war bereitet für einen spektakulären Schauprozess.

In Wirklichkeit bereitete die Provisorische Regierung keinen „spektakulären Schauprozess“ vor. Sie benutzte die Hetzkampagne, um ein Klima zu schaffen, in dem Lenin noch vor dem Eintreffen auf einer Polizeiwache ermordet worden wäre, wenn er dem Militär oder den faschistischen Schlägern, die ihn jagten, in die Hände gefallen wäre. In der Orgie der Reaktion, die auf die Julitage folgte, war die gesamte politische Linke Freiwild.

„Nicht nur die Bolschewiki hatten Grund zu Angst“, schreibt Miéville. Die „sadistischen Wächter“ der faschistischen Schwarzhunderter „zogen durch die Straßen und drangen gewaltsam in Häuser ein, um ,Verräter‘ und ,Unruhestifter‘ zu jagen.“ [8] Juden waren besonders gefährdet. „Besonders bedrohlich war ein merklicher Zulauf für ultrarechte, antisemitische Pogromhetzer im ganzen Land. Eine Gruppe namens Heiliges Russland rief in ihrer Zeitung Grosa (Gewitter) wiederholt zu Gewalt auf. An den Straßenecken spien Agitatoren Gift und Galle gegen die Juden.“ [9]

Die „Julitage“ – Demonstration auf dem Newski-Prospekt direkt nachdem Truppen der Provisorischen Regierung das Feuer mit Maschinengewehren eröffnet haben

McMeekin hingegen charakterisiert die politische Lage nach den Julitagen in seinem Buch durchaus wohlwollend: „Infolge des Aufwallens patriotischer Gefühle gegen den Landesverrat der Bolschewiki war ein Aufstand der extremen Linken gerade noch verhindert worden.“ [10]

Die grundlegende Falschdarstellung, die im Zentrum von McMeekins Buch und seinem Essay steht, besteht darin, dass Lenins grundsätzliche sozialistische Opposition gegen den imperialistischen Krieg – bei der er sich auf die Positionen der Zweiten Internationale vor 1914 stützte – gleichgesetzt wird mit seinem angeblichen Landesverrat als Agent Deutschlands.

Ganz im Stile eines faschistischen russischen Nationalisten schreibt McMeekin: „Was Lenin von den anderen russischen Sozialisten abhob, waren seine fanatische Opposition gegen den Krieg und seine Unterstützung für die Unabhängigkeit der Ukraine, ein wesentliches Ziel der Mittelmächte.“ Hier haben wir es: Lenins Festhalten an den Antikriegsresolutionen der Zweiten Internationale, die 1907 in Stuttgart, 1910 in Kopenhagen und 1912 in Basel verabschiedet worden waren, machte ihn zum Komplizen der Mittelmächte! Und die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts der Nationen, das ein Kernbestandteil des Vorkriegsprogramms der Bolschewiki war, machte ihn zum deutschen Agenten!

Als weiteren Beweis für den Landesverrat verweist McMeekin auf Lenins Erklärung „Sozialismus und Krieg“ von 1915, in der das Programm des revolutionären Defätismus vertreten wird. Dabei unterschlägt er, dass Lenin in dieser Schrift, wie in zahlreichen weiteren wichtigen Dokumenten aus den Jahren 1914 bis 1917, vor allem den Verrat der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands geißelt, die im Krieg das eigene Land unterstützte. Lenin vertrat den Standpunkt, dass sich alle Sozialisten den Kriegszielen ihrer eigenen imperialistischen Regierungen widersetzen und auf deren Niederlage hinarbeiten sollten – nicht durch Sabotage, wie McMeekin andeutet, sondern durch Antikriegspropaganda unter Soldaten und in der Arbeiterklasse.

Als zusätzlichen Beleg dafür, dass Lenin als deutscher Agent gehandelt habe, macht McMeekin geltend: „Auch verhehlte Lenin nach seiner Rückkehr nach Russland nicht, dass er den Krieg ablehnte.“ Ganz bestimmt nicht! Zurück in Russland, kämpfte Lenin für das internationalistische Antikriegsprogramm, das er im September 1915 auf der Zimmerwalder Konferenz vertreten hatte.

Kerenski 1917

Ebenso wie in seinem Buch stellt McMeekin in seinem Essay die „Julitage“ als verpasste Gelegenheit dar. Im „Monat der großen Verleumdung“, wie Trotzki den Juli 1917 treffend nannte, ordnete Kerenski die Verhaftung der Bolschewiki an. Aber er versäumte es, ihnen endgültig den Garaus zu machen. Als der zaristische General Kornilow im August einen faschistischen Putschversuch unternahm, suchte Kerenski Unterstützung bei der Linken. „Mit einer kurzsichtigen Maßnahme gestattete Kerenski der Militärorganisation der Bolschewiki die Wiederbewaffnung. So erlangten sie die Waffen, mit denen sie ihn zwei Monate später vertreiben sollten.“

Die „kurzsichtige Maßnahme“ Kerenskis vereitelte Kornilows Pläne, Petrograd einzunehmen und Zehntausende Arbeiter abzuschlachten. In seinem Buch lässt McMeekin seiner Enttäuschung über dieses Versäumnis freien Lauf: „Was um Himmels Willen hatte sich Kerenski dabei nur gedacht?“ [11]

Am Schluss seines Essays legt McMeekin eine gewisse Beunruhigung über die heutige politische Lage an den Tag. Er schreibt:

Im Gegensatz zu Russland 1917 sitzen die Regierungen der heutigen Großmächte, ob in Washington, Paris, Berlin oder Moskau, so fest im Sattel, dass sie keinem Lenin zum Opfer fallen können. Wollen wir es zumindest hoffen.

Für McMeekin sind die Lehren aus der russischen Revolution eindeutig: Der „Fehler“ vom Juli 1917 darf sich nicht wiederholen. Allerdings hat die Bourgeoisie diese Lehren schon lange vor McMeekin gezogen. Eben deshalb ermordeten faschistische paramilitärische Truppen im Januar 1919 mit Unterstützung der sozialdemokratischen Regierung die beiden herausragenden Führer der deutschen Revolution, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

Trotz der Hetzkampagne vom Juli 1917 und der darauffolgenden Welle konterrevolutionärer Gewalt erholten sich die Bolschewiki rasch. Während der Monate August und September wuchsen ihre Reihen explosionsartig an. Die Anschuldigungen gegen Lenin wurden von den Massen zurückgewiesen. Damit hatte zugleich die Geschichte ihr Urteil gesprochen, und so viel Professor McMeekin auch in der Scheiße rühren mag, daran kann er nichts ändern.

***

[1] Sean McMeekin, The Russian Revolution: A New History (New York: Basic Books, 2017), S. 351–352, aus dem Englischen

[2] Ebd., S. 22–23, Hervorhebung hinzugefügt

[3] Boston: Beacon Press, 1955, S. 64

[4] Indiana University Press, 1968, S. 286

[5] N. N. Sukhanov, The Russian Revolution 1917,, edited by Joel Carmichael (New York: Harper Torchbook, 1962), S. 453–454

[6] Ebd., S. 459

[7] October: The Story of the Russian Revolution, von China Miéville (Verso, 2017), S. 185–186

[8] Ebd., S. 186

[9] Ebd., S. 192

[10] The Russian Revolution, S. 179

[11] Ebd., S. 198

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