EU-Gipfel unterstützt Spaniens geplantes Polizei- und Militärregime in Katalonien

Nach einer Krisensitzung der spanischen Regierung am Samstag hat Ministerpräsident Mariano Rajoy die Entmachtung der katalanischen Regionalregierung und Neuwahlen zum Regionalparlament angekündigt. Damit bringt er zum ersten Mal in der Geschichte Spaniens den Verfassungsartikel 155 zur Anwendung, mit dem die Zentralregierung den Regionen die Autonomierechte entzieht. Artikel 155 wird als „nukleare Option“ bezeichnet. Außerdem beantragte Madrid beim spanischen Senat die Absetzung des katalanischen Regierungschefs Carles Puigdemont und des Vizepräsidenten Oriol Junqueras.

Infolge der Entscheidung der Zentralregierung gingen am Samstagabend Hunderttausende Menschen in Katalonien auf die Straße. Laut Angaben der katalanischen Polizei protestierten allein in Barcelona 450.000 Menschen. Puigdemont bezeichnete die Schritte Madrids als „Putsch“. Die Anwendung von Artikel 155 sei ein „inakzeptabler Angriff auf die Demokratie“ und der „schlimmste Angriff“ seit der Franco-Diktatur.

Am Freitag hatten die Regierungschefs der EU auf einem zweitägigen Gipfeltreffen in Brüssel Rajoy bereits ihre volle Unterstützung zugesichert. Sie stellten sich einstimmig hinter die Pläne der spanischen Regierung, eine neue katalanische Regionalverwaltung einzusetzen, die von der spanischen Polizei und dem Militär unterstützt wird.

Obwohl die Krise in Katalonien nicht offiziell auf der Tagesordnung stand, durfte Rajoy in einer Rede seine Entscheidung rechtfertigen. Nach dem brutalen Vorgehen der Polizei gegen das katalanische Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober rechtfertigte Rajoy die Besetzung Kataloniens mit einer systematischen Falschdarstellung der Krise in Spanien und erhielt dafür begeisterte Unterstützung von den Großmächten der EU.

Alle weiteren Gespräche mit der katalanischen Regierung schloss Rajoy faktisch aus, gab aber dennoch der angeblichen Sturheit der katalanischen Regierung und den „Radikalen“ in Katalonien die alleinige Verantwortung für die Krise: „Sie sind dafür verantwortlich, was heute passiert. Offen gesagt hat die Regierung in Katalonien ihre Positionen trotz der Unterstützung, die sie erhielten, schlecht verteidigt.“

Weiter erklärte er: „Wir waren sehr vorsichtig und haben versucht, keine schwierige Lage zu schaffen, aber das ist schwer, wenn Gesetze und der Rechtsstaat aufgelöst werden …, wenn Gesetze ignoriert und ohne Garantien Referenden abgehalten werden. Wir befinden uns in einer grenzwertigen Lage: wenn wir die Forderungen der Radikalen akzeptieren, tritt genau das ein, was jetzt passiert.“

Diese Argumente sind nichts als dreiste Lügen, die eine aggressive Intervention von Militär und Polizei in Katalonien rechtfertigen sollen. Madrid und die EU sind die Hauptverantwortlichen für die Krise und die EU-Mächte unterstützen Rajoys Pläne, den wachsenden politischen Widerstand der Bevölkerung mit autoritären Maßnahmen zu unterdrücken.

Die Krise, die mit dem Referendum am 1. Oktober begann, ist das Ergebnis der tiefen Krise des europäischen Kapitalismus. Nach fast zehn Jahren brutaler Sparmaßnahmen haben sich die sozialen Bedingungen deutlich verschlechtert, Dutzende Millionen Menschen in ganz Europa sind arbeitslos.

Das Referendum fand vor dem Hintergrund eines wachsenden Konflikts zwischen Madrid und Barcelona über die Frage statt, wie die Sozialkürzungen umgesetzt werden sollen, die die EU seit der Finanzkrise von 2008 mit Madrid ausgehandelt hat. In der Vergangenheit, zuletzt im November 2014, verliefen ähnliche Referenden in Katalonien friedlich, doch dieses Jahr reagierte die Zentralregierung mit Gewalt. Sie ließ Wahlurnen beschlagnahmen, versuchte Hunderte von Bürgermeistern und anderen Amtsträgern zu verhaften und begann eine Einschüchterungskampagne, um das Votum am 1. Oktober zu verhindern.

Als 1. Oktober 16.000 Polizisten der Guardia Civil von riesigen Menschenmassen daran gehindert wurden, Wahllokale zu schließen, gingen sie mit brutaler Gewalt gegen friedliche Wähler vor. Millionen Menschen auf der ganzen Welt reagierten schockiert und erschüttert auf die Videos, auf denen Polizisten der Guardia Civil in Schulen eindringen und auf Menschen eintreten, die auf dem Boden sitzen und auf die Abgabe ihrer Wahlzettel warten. Sie gingen sogar auf ältere Frauen los. Insgesamt mussten sich wegen des brutalen Vorgehens der Guardia Civil über 800 Menschen in Krankenhäusern behandeln lassen.

Obwohl 90 Prozent der Teilnehmer für die Unabhängigkeit stimmten, verzichtete Puigdemont in seiner Rede vom 10. Oktober auf eine Unabhängigkeitserklärung und hat seither erfolglos den Dialog mit Madrid angestrebt. Die Zentralregierung hingegen hat die Lage zur Eskalation getrieben, indem sie katalanische Websites gesperrt, nationalistische katalanische Politiker ins Gefängnis geworfen und mit der Verhängung des Ausnahmezustands gedroht hat. Die Folge waren Massenproteste mit hunderttausenden Teilnehmern in der katalanischen Hauptstadt Barcelona.

Bei seinem Auftritt in Brüssel versuchte Rajoy, den diktatorischen Charakter seiner Politik herunterzuspielen und die völlig berechtigte Angst vor einem noch blutigeren Vorgehen zu zerstreuen. Er behauptete, die Anwendung von Artikel 155 setze nicht zwingend den Einsatz von Gewalt voraus und fügte hinzu, die amtierende Partido Popular (PP) werde gemeinsam mit der Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens (PSOE) und den rechten Ciudadanos über die notwendigen Maßnahmen entscheiden.

Rajoy machte jedoch deutlich, dass das herrschende Establishment in Madrid tatsächlich über massive Unterdrückungsmaßnahmen gegen die katalanische Bevölkerung diskutiert. Auf die Frage, ob er ähnliche Gewalt wie am 1. Oktober befürchte, verweigerte er die Antwort und stellte der Polizei stattdessen einen Blankoscheck für Gewalt aus: „Die Sicherheitskräfte haben die volle Unterstützung Spaniens und seines Ministerpräsidenten.“

Die Anwendung von Artikel 155 wird zu einer Konfrontation mit den katalanischen Arbeitern und Jugendlichen führen, wie es sie nicht mehr gegeben hat, seit 1978 das faschistische Regime von Francisco Franco durch Massenkämfe der Arbeiterklasse zu Fall gebracht wurde. Kataloniens gewählte Regierung würde entmachtet und durch eine neue ersetzt werden, die von Madrid eingesetzt und von der Guardia Civil und Einheiten des Militärs unterstützt wird. In den spanischen Medien wurden bereits einige der Einheiten genannt, die bei einem solchen Vorgehen mobilisiert werden würden. Die Rede war unter anderem von motorisierten Infanteriebataillonen in Barcelona und Sant Climent Sescebes.

Während es in Barcelona bereits zu Massenprotesten kam, diskutieren die spanischen Medien ein diktatorisches Programm für das nicht gewählte Regime in Katalonien, wodurch noch mehr Widerstand ausgelöst würde: Austerität, die Einstellung des öffentlichen Fernsehens in Katalonien und die Abschaffung katalanischsprachiger Schriftstücke aus Schulen. Zweifellos wird im spanischen Sicherheits- und Militärapparat bereits aktiv ein noch gewalttätigeres Vorgehen als am 1. Oktober diskutiert und vorbereitet. Madrid erwägt darüber hinaus, Artikel 116 anzuwenden und über ganz Spanien den Ausnahmezustand zu verhängen.

In Katalonien, Spanien und ganz Europa bahnt sich eine Krise an, die revolutionäre Implikationen hat. In der europäischen Arbeiterklasse herrscht tiefer, historisch verwurzelter Widerstand gegen eine Rückkehr zu Diktatur. Madrids Versuch, durch massive Unterdrückungsmaßnahmen eine rechtswidrige Marionettenregierung in Barcelona an die Macht zu bringen, würde in ganz Europa enorme Wut auslösen. Der einzige Weg, erfolgreich Widerstand gegen Madrids Versuche zu leisten, in Katalonien und Spanien diktatorische Herrschaftsverhältnisse einzuführen, ist die Mobilisierung der Arbeiterklasse in ganz Europa in einem politisch unabhängigen, revolutionären Kampf gegen die EU und das Vorgehen Madrids in Katalonien.

Die Argumente von Kräften wie der spanischen Partei Podemos, die Bevölkerung solle warten, bis die EU interveniert und den Konflikt zwischen Madrid und Barcelona friedlich löst, sind falsch und müssen zurückgewiesen werden. Podemos' Sekretär für die Region Madrid, Ramon Espinar, begrüßte in der Zeitschrift Público, einen „breiten internationalen Konsens... über die Notwendigkeit von Vermittlung und Dialog“. Darin liege der Schlüssel für die Lösung der Krise.

Solche Illusionen dienen einzig und allein dem Zweck, Massen von Menschen ruhig zu stellen. Die EU besteht aus bankrotten Regierungen, in denen Polizei und Militär nach fast zwei Jahrzehnten „Krieg gegen den Terror“ und einem Jahrzehnt von Sparmaßnahmen eine enorme Rolle spielen, und greift selbst grundlegende demokratische Rechte an, etwa durch den Ausnahmezustand in Frankreich. Sie signalisiert ihre Unterstützung für den Angriff auf die katalanische Bevölkerung, weil sie selbst ähnliche Angriffe auf die Arbeiterklasse in ganz Europa vorbereitet.

Alle wichtigen europäischen Regierungschefs unterstützten auf dem Gipfeltreffen in Brüssel Rajoys diktatorische Pläne. Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte ihre Unterstützung für die Position der spanischen Regierung und schloss sich später Rajoys Forderung nach einer Lösung der Krise an, die „auf dem Boden der spanischen Verfassung gefunden werden“ solle.

Die britische Premierministerin Theresa May äußerte sich am Freitag ähnlich: „Ich habe heute morgen wie auch schon Anfang der Woche mit Mariano Rajoy gesprochen und deutlich gemacht, dass die Haltung Großbritanniens sehr klar ist. Wir glauben, dass die Menschen die Gesetze befolgen und sich für die spanische Verfassung einsetzen sollten.“

Während der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte die Krise in Katalonien als „innere Angelegenheit Spaniens“ bezeichnete, traf sich der französische Präsident Emmanuel Macron hinter verschlossenen Türen mit Rajoy, nachdem er zuvor erklärt hatte, die EU-Regierungschefs würden eine „Botschaft der Einheit nach ganz Spanien“ aussenden.

Der Präsident der Europäische Kommission Jean-Claude Juncker, der EU-Ratspräsident Donald Tusk und der Präsident des Europäischen Parlaments Antonio Tajani reisten am Freitag in einer außergewöhnlichen Geste der Unterstützung für Madrid nach dem Gipfel geschlossen nach Oviedo, wo der spanische König Felipe VI. der EU den Prinzessin von Asturien-Preis überreichte. Sie hörten zu, wie der König erklärte, Katalonien sei ein „wichtiger“ Teil Spaniens – woraufhin es zu anhaltendem Applaus kam.

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