Massenproteste gegen Kürzungen und Arbeitslosigkeit in Tunesien

In den letzten drei Tagen wurde Tunesien von Demonstrationen und gewalttätigen Zusammenstößen mit Sicherheitskräften erschüttert. In mindestens 18 Städten protestierten Arbeiter und Jugendliche gegen den Sparhaushalt für 2018, der die Massenarbeitslosigkeit, Armut und soziale Ungleichheit in dem nordafrikanischen Land weiter verschlimmern wird.

Wie das Innenministerium zugab, wurde am Montag in Tebourba, einer Stadt 32 km von der Hauptstadt entfernt, ein 55-Jähriger bei Protesten getötet. Fünf weitere Menschen wurden verletzt. Über die Todesursache gab es widersprüchliche Aussagen. Einige Demonstranten sagten, der Mann sei von einem Polizeiauto überfahren worden; die Behörden gaben an, er sei an einer Tränengasvergiftung gestorben.

In mehreren Gebieten wurde das Militär mobilisiert, um lokale Sicherheitskräfte zu unterstützen und Regierungsgebäude und Banken zu schützen.

In der nordtunesischen Stadt Nefza zündeten Demonstranten die Polizeiwache und das örtliche Finanzamt an.

In anderen Städten blockierten Demonstranten die Hauptstraßen mit großen Steinen und brennenden Reifen. Die Polizei verhaftete zahlreiche Demonstranten und feuerte mit Tränengas und scharfer Munition in Menschenmengen. Daraufhin setzten sich die Demonstranten mit Steinen und Molotowcocktails zur Wehr.

Vor knapp sieben Jahren hatte die Selbstverbrennung des 26-jährigen Straßenverkäufers Mohamed Bouazizi eine umfassende Revolte ausgelöst, die zum Sturz der vom Westen unterstützten Diktatur des tunesischen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali führte. Nun brechen erneut massive soziale Unruhen aus.

In Sidi Bouzid, wo sich Bouazizi aus Protest gegen polizeiliche Willkür und Arbeitslosigkeit das Leben genommen hatte, fand eine Demonstration mit hunderten Teilnehmern statt. Sie trugen Transparente mit Parolen gegen Preissteigerungen und den Mangel an Arbeitsplätzen.

Keines der Probleme, die die Arbeiterklasse vor sieben Jahren in revolutionäre Kämpfe gegen Ben Alis Regime und gegen die US-gestützte ägyptische Diktatur von Hosni Mubarak getrieben haben, ist seither gelöst worden.

In beiden Ländern haben es Teile der alten Regimes geschafft, im Interesse der nationalen herrschenden Elite und des internationalen Kapitals ihre Macht erneut zu festigen. In Bahrain und Saudi-Arabien wurden die Manifestationen des sogenannten „arabischen Frühlings“ brutal durch das Militär unterdrückt. Gleichzeitig wurde die Region von den Kriegen der imperialistischen Mächte verwüstet, u.a. in Libyen, Syrien, dem Jemen und Mali. Das Ziel war stets, die Kontrolle der imperialistischen Mächte wiederherzustellen.

Der Anlass für die jüngsten Erhebungen war die Ankündigung eines Sparhaushalts für das Jahr 2018, der Erhöhungen der Treibstoffpreise und Steuern sowie neue Zölle auf Importprodukte vorsieht. Alle diese Maßnahmen bedeuten einen weiteren verheerenden Angriff auf den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung Tunesiens.

Die jährliche Inflationsrate ist im Dezember bereits auf 6,4 Prozent gestiegen. Die Arbeitslosenquote liegt derweil bei über 15 Prozent, mehr als ein Drittel aller Jugendlichen hat keine Stelle.

Die „Wirtschaftsreformen“ werden von der Regierung von Präsident Beji Caid Essebi durchgesetzt, um die Forderungen des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Union zu erfüllen. Als Gegenleistung dafür erhält Tunesien Kredite, die größtenteils zur Tilgung seiner Schulden bei den internationalen Banken verwendet werden.

Gleichzeitig hat ein wachsendes Handelsdefizit den Wert des tunesischen Dinars verringert, sodass die Kosten für den Schuldendienst gestiegen sind und die Kaufkraft der Bevölkerung gesunken ist.

Die Unruhen sind offenbar spontan ausgebrochen. In sozialen Netzwerken und Graffitis in der Hauptstadt Tunis verbreitete sich die Parole „Worauf warten wir“, die mit den Protesten assoziiert wird.

Die 27-jährige Universitätsabsolventin Imem Mhamdi, die in einer Fabrik arbeitet, erklärte gegenüber Al Jazeera: „Diese Regierung ist genau wie alle nach Ben Ali: Sie macht nur Versprechungen und tut nichts. Die Leute sind wütend und die Armut steigt.“

Mhamdi, die sich an den Demonstrationen in der Küstenstadt Sousse beteiligte, erklärte dem Nachrichtensender, die tunesischen Jugendlichen hätten das Vertrauen in alle Parteien verloren. Sie erklärte: „Ich habe wenig Hoffnung, aber wir sagen Nein“.

Der Student Mouna Ali aus Sousse erklärte gegenüber Al Jazeera, die Austeritätsmaßnahmen der Regierung seien „eine Katastrophe für die Mittelschicht“, und fügte hinzu: „Die tunesische Regierung muss verstehen, dass die Gesellschaft genug hat. Sie erstickt in Elend, Armut und Arbeitslosigkeit.“

Der tunesische Ministerpräsident Youssef Chahed reagierte am Dienstag auf die landesweiten Proteste, indem er ein hartes Vorgehen ankündigte: „Die einzige Reaktion auf Plünderungen von öffentlichem und privatem Eigentum und deren Verteidiger wird es sein, dem Gesetz Geltung zu verschaffen.“ Diese Erklärung wurde der Presse übermittelt, während der Ministerpräsident eine Eliteeinheit des Militärs in der südtunesischen Garnisonsstadt Remada nahe der libyschen Grenze besuchte.

Zuvor hatte Chahed im Interview mit einem Radiosender erklärt: „Wir haben keine Proteste erlebt, sondern Sachbeschädigung, Diebstahl und Überfälle auf Tunesier.“

Die tunesische Tageszeitung Le Temps äußerte sich höchst alarmiert. In einem Artikel über die Protestbewegung bezeichnete sie die Stimmung innerhalb der privilegierten Schichten der tunesischen Gesellschaft als „zwischen Paranoia und allgemeiner Panik“.

La Presse veröffentlichte derweil einen Artikel mit der Überschrift „Demokratie und Rechtsstaat“, in dem sie im Wesentlichen die Unterdrückung der Proteste befürwortete und betonte, die tunesische Bevölkerung müsse „vor einer sozialen Explosion bewahrt werden“. Sie argumentierte weiter, es müsse dem Land „gelingen, den wirtschaftlichen Wandel ebenso geschickt auszuhandeln wie die demokratische Revolution“.

Abgesehen von der militärischen Unterdrückung der Proteste setzt die herrschende Elite Tunesiens auf die korrupte Gewerkschaftsbürokratie der UGTT, die lange Zeit eine Säule von Ben Alis Diktatur war, und auf die Volksfront. Diese pseudolinke kleinbürgerliche Gruppierung hatte dabei geholfen, die derzeitige Regierung an die Macht zu bringen und die frühere Revolte von unten abzuwürgen.

Hamma Hammami, ein wichtiger Anführer der Volksfront, behauptete in einer Erklärung, die Gruppe unterstütze die Proteste, verurteile aber „Gewalt und Vandalismus“. Er forderte alle Parteien auf, gemeinsam eine Politik mit dem Ziel zu betreiben, „die Wut der Bevölkerung zu beschwichtigen“.

Bezeichnenderweise lag der Schwerpunkt der Proteste nicht in der Hauptstadt Tunis, die auch die Hochburg der politischen Institutionen ist, die von den privilegierteren Schichten des Kleinbürgertums dominiert werden. Vielmehr konzentrierten sie sich auf die verarmten Städte im Landesinneren.

In dieser Hinsicht und auch hinsichtlich der Auslöser der Protestbewegung – Haushaltskürzungen und soziale Ungleichheit –besteht große Ähnlichkeit zwischen den Unruhen in Tunesien und den Massenprotesten, die vor kurzem den Iran erschütterten. In beiden Ländern erheben sich Schichten der arbeitslosen Jugend und der verarmten Arbeiter gegen das bestehende Regime.

Gleichzeitig sind auch in Sudan ähnliche Proteste gegen das autokratische Regime von Omar al-Bashir ausgebrochen, das zuvor den Mehlpreise stark heraufgesetzt hatte. Dadurch war der Brotpreis über Nacht um das Doppelte gestiegen.

Die Proteste begannen am Samstag in der südostsudanesischen Stadt Sennar und breiteten sich schnell bis zur Hauptstadt Khartum und in viele Städte im Süden des Landes aus. In Geneina, der Hauptstadt von West-Darfur, wurde ein Student und unklaren Umständen getötet, als die Sicherheitskräfte eine Demonstration auflösten. Mindestens fünf weitere Demonstranten wurden verletzt. Am Montag wurden am vierten Tag in Folge Proteste in Khartum gemeldet, bei denen die Polizei Tränengas gegen Menschenmengen einsetzte.

Die jüngsten Austeritätsmaßnahmen werden auf Geheiß des IWF durchgesetzt. Er hat Khartum dazu gedrängt, seine Währung abzuwerten, um Auslandsinvestitionen anzulocken. Zuvor hatten die USA im Oktober die seit 20 Jahren bestehenden Sanktionen gegen das Land aufgehoben.

In der gesamten Region, die von imperialistischen Kriegen und gezielt geschürten religiösen Konflikten verwüstet wurde, zeichnet sich unverkennbar ein starkes Wiederaufleben des Klassenkampfs ab.

Die stürmischen Ereignisse im Nahen Osten und Nordafrika fallen zusammen mit wachsenden Anzeichen für Klassenkonflikte in der ganzen Welt: Streiks in der Pharmaindustrie und im öffentlichen Dienst in Israel, der wilde Streik der Ford-Arbeiter in Rumänien, Arbeitsniederlegungen in der deutschen Metallbranche, Arbeitskämpfe der britischen Eisenbahner und Konfrontationen zwischen den Arbeitern in Frankreich, u.a. in der Autoindustrie, und der Regierung von Emmanuel Macron.

Die World Socialist Web Site erklärte dazu zu Beginn des neuen Jahres: „Seit mehreren Jahrzehnten, insbesondere seit der Auflösung der Sowjetunion 1991, wird der Widerstand der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung niedergehalten. Doch die wesentlichen Widersprüche des kapitalistischen Systems treiben heute rasch auf den Punkt zu, an dem sich die Massenopposition der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus nicht mehr unterdrücken lässt. Diese Widersprüche bestehen zwischen einer global verflochtenen Wirtschaft und dem archaischen bürgerlichen Nationalstaatensystem, zwischen der weltweit vernetzten, Milliarden Arbeiter einbeziehenden gesellschaftlichen Produktion und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln, und zwischen den Grundbedürfnissen der Massengesellschaft und dem eigennützigen Geldscheffeln einzelner Individuen.“

Diese Perspektive wurde gleich durch die Ereignisse in den ersten Tagen des neuen Jahres eindrücklich bestätigt.

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