Großbritannien und der Brexit: Labour-Parteichef Jeremy Corbyns Schlingerkurs

Die positive Reaktion der großen Wirtschaftsverbände auf die Grundsatzrede von Labour-Führer Jeremy Corbyn am Montag zum Brexit macht die Tiefe der politischen Krise deutlich, mit der der britische Imperialismus konfrontiert ist.

Während heftig darüber diskutiert wird, wie lange sich Theresa May als Premierministerin noch halten kann, erhielt Corbyn Applaus für sein Vorhaben, mit der EU einen neuen Vertrag über eine Zollunion auszuhandeln. Damit, so der Tenor, könne man der Vormacht des Flügels der Konservativen, der für einen „harten Brexit“ steht, entgegentreten und hoffentlich ein Abkommen aushandeln, das einen zollfreien Zugang zum europäischen Binnenmarkt vorsieht. Vielleicht könne man sogar den Brexit rückgängig machen, falls Mays Bemühungen scheiterten, einen für Großbritannien annehmbaren EU-Ausstieg auszuhandeln.

Die Financial Times lobte Corbyns „willkommenen Schwenk in der Frage der Zollunion“. Dies diene „dem nationalen Interesse“, weil es die Konservativen unter Druck setze, „den Brexit vernünftiger“ zu gestalten.

Die Generaldirektorin des britischen Unternehmerverbands CBI begrüßte „das Engagement Corbyns für eine Zollunion“, bei der „durch weiterhin enge wirtschaftliche Beziehungen mit der EU Arbeitsplätze und Lebensstandard an erster Stelle stehen“. Stephen Martin vom Institute of Directors fügte hinzu, dass „viele Unternehmen, vor allem das produzierende Gewerbe, erfreut sein werden vom Vorschlag der Opposition, weiterhin für eine Zollunion zu werben.“

Die Zustimmung solcher gesellschaftlicher Kräfte für Corbyn sollte als Warnung vor seinem wirtschaftsfreundlichen und arbeiterfeindlichen Programm verstanden werden. Liest man seine Rede aufmerksam, dann kann man ermessen, welche Rolle eine künftige Labour-Regierung spielen würde, wenn die Verschärfung der Krise, in der die Tories sich befinden, zu vorgezogenen Neuwahlen führen sollte.

Die rechten Medien verurteilen Corbyn rundheraus, weil er das Brexit-Votum „verrät“. Doch Corbyns Programm ist ein Verrat an der Arbeiterklasse, ob Großbritannien die EU nun verlässt oder nicht.

Corbyns Kernbotschaft bestand darin, dass die herrschenden Kreise Labour als praktikable Alternative zu einer schlecht funktionierenden und gespaltenen konservativen Regierung akzeptieren sollen. Sie ist ein Spielball ihres rechten Flügels, der eine Schicht von Hedgefonds-Managern und Spekulanten repräsentiert, deren engstirnige Eigeninteressen das britische Kapital von Europa, seinem wichtigsten internationalen Markt, abzuschneiden droht.

Andere Passagen der Rede machen noch deutlicher, dass Labour den Interessen der Wirtschaft verpflichtet ist. Es müsse Schluss damit sein, dass „unsere Produktivität der anderer großer Volkswirtschaften gefährlich weit hinterher hinkt“, womit eine verschärfte Ausbeutung der Arbeiterklasse gemeint ist. Die Tories werden kritisiert, weil sie keinen ausgeglichenen Haushalt erreicht hätten, „was bereits für 2015, dann für 2016, dann für 2017 angestrebt war. Dann sollte das Ziel 2020 erreicht werden, und inzwischen ist der Zeitpunkt auf 2025 verschoben worden.“ Corbyn kann es drehen und wenden, wie er will: „ausgeglichener Haushalt“ bedeutet noch drastischere Sparmaßnahmen und Sozialkürzungen.

Mehrmals in seiner Rede bekannte sich Corbyn zum Brexit, versprach aber gleichzeitig, für die Zeit nach dem Austritt eine „enge“ Beziehung anzustreben, die den Zugang zum europäischen Binnenmarkt und den zollfreien Handel gewährleistet. Labour wolle „individuelle, vertraglich geregelte Beziehungen“ nach einer Übergangsperiode, während der das Vereinigte Königreich „eine Zollunion mit der EU und die weitere Mitgliedschaft im europäischen Binnenmarkt anstrebt […] zu den geltenden Regeln.“ Labour strebe einen abschließenden Vertrag an, der „die Vorzüge des gemeinsamen Marktes und der Zollunion beinhaltet“ – mit der Maßgabe, dass Großbritannien „neue Handelsabkommen in unserem nationalen Interesse aushandeln kann.“

Er ließ offen, dass ein Ausstieg aus dem Brexit auch zu einem späteren Zeitpunkt noch möglich wäre, weil Labour „kein Verhandlungsergebnis der Tories unterstützen würde, das sich negativ auf Arbeitsplätze, Rechte und Lebensstandard auswirkt“. Außerdem würde Labour „dafür sorgen, dass das Parlament über den endgültigen Vertragstext abstimmt.“

Auf dieser Grundlage richtete Corbyn einen ungewöhnlichen Appell zu nationaler Einheit – „an Abgeordnete aller Parteien, die bereit sind, die Interessen des Volkes über ideologische Hirngespinste zu stellen, uns ihre Unterstützung für eine neue Zollunion zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU zu geben, die uns bei künftigen Handelsabkommen ein Mitspracherecht einräumt.“

Diese prokapitalistische Perspektive geht davon aus, dass Labour eine neue gesellschaftliche Übereinkunft zwischen den Klassen herstellen kann – wenn eine zur Besinnung gekommene City of London und die Wirtschaft die Vorzüge einer geringfügig höheren Besteuerung, besserer Finanzierung des staatlichen Gesundheitswesens und Linderung der sozialen Ungleichheit als notwendige Agenda für ein Großbritannien nach dem Brexit – zumindest verbal – akzeptieren.

Große Teile seiner Rede waren der Rhetorik des „linken Brexit“ der stalinistischen Kommunistischen Partei Großbritanniens und der pseudolinken Gruppen aus der Zeit der Referendumskampagne 2016 entlehnt. Damit sollte die Unterstützung für Labour in der Arbeiterklasse und die Opposition gegen die EU in nationalistische Kanäle gelenkt werden.

Corbyn unterstützt schon lange den klassenübergreifenden Volksfront-Nationalismus, der mit dem Stalinismus und seinem „Britischen Weg zum Sozialismus“ mittels der Labour Party verbunden ist. Zu Beginn seiner politischen Laufbahn in den 1980ern unterstützte er Tony Benns Alternative Economic Strategy, die von seinen heutigen wichtigsten stalinistischen Beratern zur EU-Politik – Seumas Milne und Andrew Murray – grob verfälscht präsentiert wird. Die Zeitung der Stalinisten, der Morning Star, pries Corbyns Rede als die Verwirklichung des „Lexit“ (Linker Brexit): „Corbyn ist in diesem Punkt seinen Kollegen im Unterhaus meilenweit voraus.“

Corbyns Reformvorschläge sind nur billige Kosmetik. Sie sind kein Mittel gegen die soziale Katastrophe, unter der Arbeiter leiden, sondern bloße Augenwischerei. Ein wirklicher Angriff auf die Interessen der Wirtschaft erfordert Klassenkampf, nicht Klassenkompromiss.

Die herrschende Elite will keinesfalls auf ihren obszönen Reichtum verzichten, weil Corbyn an ihre Moral appelliert. Die Financial Times, die ihn gerade noch für seine Haltung zur Zollunion gelobt hatte, schlug sich auf die Seite der Medien, die für einen harten Brexit werben, wie Rupert Murdochs The Sun. Corbyn, warnte sie, „ist für weitreichende Verstaatlichungen und stellt sich auf einen Run auf das Pfund ein, falls er ins Amt gewählt wird“. Außerdem „stellt [er] eine größere Gefahr für die Wachstumschancen in Großbritannien dar als jedes noch so üble Brexit-Ergebnis.“

Der wichtigste Aspekt – das hat der Zusammenbruch der Sowjetunion zweifelsfrei bestätigt – ist folgender: in einer globalisierten Wirtschaft, die von transnationalen Konzernen und von zunehmenden Handels- und militärischen Konflikten dominiert ist, hat eine reformistische Wirtschaftspolitik, die auf nationale Autarkie ausgerichtet ist, keinerlei Aussicht auf Erfolg. Schon der Versuch würde mit wütender wirtschaftlicher und politischer Sabotage beantwortet werden, nicht nur vonseiten der herrschenden Elite in Großbritannien, sondern auch von den Vereinigten Staaten und den europäischen Mächten.

Corbyns Version eines „Lexit“ erkennt zwar an, dass Großbritannien vom Weltmarkt abhängt, doch nur aus der Sicht der Kapitalistenklasse. Er wendet sich nicht ein einziges Mal an die europäische oder internationale Arbeiterklasse. Stattdessen stellt er die Orientierung auf die EU, das wichtigste Werkzeug der europäischen Bourgeoisie, als Ausdruck der „wertvollsten internationalistischen Traditionen der Arbeiterbewegung und unseres Landes“ dar. Corbyn geht es nur darum, die Interessen des britischen Kapitalismus innerhalb der EU zu schützen, in die 44 Prozent der britischen Exporte gehen.

Am Beispiel eines Minis zeigte Corbyn, wie ein Auto bis zu seiner Fertigstellung in Deutschland, Frankreich und Großbritannien „herumkommt“ und dabei den Ärmelkanal dreimal überquert. Diese Demonstration des einheitlichen internationalen Charakters der Arbeiterklasse diente ihm allerdings nur dazu, zu erklären, dass „eine von Großbritanniens Kultmarken von einer reibungslos funktionierenden, vernetzten Lieferkette“ abhängig ist.

Er behauptete, dass eine „enge“ Allianz mit der EU dazu diene, „unsere Industrien zu unterstützen, Arbeiter und Verbraucher zu schützen und die Umwelt zu bewahren.“

Corbyn führte detailliert die schrecklichen Auswirkungen von „acht Jahren Sparpolitik durch die Konservativen“ vor Augen, „wodurch die Löhne heute noch niedriger sind als vor zehn Jahren“, und die Brexit-Politik der Regierung, die „Großbritannien in eine Spirale der Deregulierung von Rechten und Lebensbedingungen zwingt“. Das hinderte ihn jedoch nicht, der EU insgesamt ein gutes Zeugnis auszustellen.

Dabei spricht er von einer Institution, die seit zehn Jahren massive Einschnitte bei den Löhnen und Arbeitsbedingungen durchsetzt und weite Teile öffentlicher Dienstleistungen abgeschafft hat.

Besonders auffällig ist, dass Corbyn dabei mit keinem Wort erwähnt, wie Syriza ähnliche Versprechen gebrochen hat, mit der Sparpolitik Schluss zu machen, um Griechenland weiterhin in der EU zu halten.

Corbyn bestreitet es zwar, doch eine zweijährige Übergangsvereinbarung mit der EU „zu den geltenden Regeln“ bedeutet, Sparpolitik zu akzeptieren. Daran zeigt sich aufs Neue, dass es immer dann, wenn er sich zwischen seinen Versprechen an die Arbeiter und den Bedürfnissen des britischen Kapitals entscheiden muss, stets nur einen Sieger geben wird.

Auch die migrantenfeindliche Politik der EU – Stichwort „Festung Europa“ – rechtfertigt er auf ähnliche Weise.

Corbyn nannte die 65 Millionen Flüchtlinge weltweit die dritte große Plage der Menschheit, „auf der Flucht vor Konflikten, Verfolgung, Menschenrechtsverletzungen, gesellschaftlichem Zusammenbruch und Klimakatastrophen“. Doch seine Antwort ist, die Bemühungen der EU, nämlich ihren „Angriff auf die Schlepperbanden“, zu unterstützen, damit Migranten nicht aus Afrika herauskommen. Er lobte die Einsätze der EU im Mittelmeer, Operation Sophia, und behauptete, Großbritanniens Royal Navy sei in einer humanitären Mission unterwegs, um „verzweifelte Leute“ davon abzuhalten, „auf der Suche nach Schutz zu ertrinken“.

Corbyns Unterstützung für ausländerfeindliche Maßnahmen liegt auf einer Linie mit seiner innenpolitischen Agenda. Seine Unterstützung für die EU ist nicht neu, er trat 2016 für den Verbleib des Landes in der EU ein. Doch seine bekannte „Skepsis“ gegenüber der Mitgliedschaft lehnt sich an das migrantenfeindliche Argument der Befürworter eines „linken Brexit“ an, die vorgeben, mit der Abwehr von Flüchtlingen könne verhindert werden, dass Löhne und Arbeitsbedingungen durch Billiglohnarbeit aus Osteuropa verschlechtert werden. Nach dem Referendum hat Corbyn keine Hemmungen zu erklären: „Unser Einwanderungssystem wird sich ändern, und das Recht auf Freizügigkeit wird enden, wenn wir die Europäische Union verlassen.“

Um sein Beharren auf weiteren Handelsbeziehungen zur EU zu bekräftigen, machte sich Corbyn lustig über die, die „anscheinend besonders darauf aus sind, unsere Handelsverbindungen mit Europa herunterzufahren“, obwohl „Handel mit den USA oder China“ den „deutlichen Handelseinbruch mit unseren Nachbarn in der EU nicht kompensieren kann.“ Großbritannien mit den USA unter Trump zu verbünden, sagte er, „würde weiteren Privatisierungen Tür und Tor öffnen“ und „die britische Bevölkerung zwingen, Chlorhühnchen zu essen“.

Was beinhaltet eine solche Position? Corbyn ist nicht zu einem Anhänger des deutsch-französischen Projekts der europäischen Einigung geworden und macht deutlich, dass er Maßnahmen der EU ablehnt, die Großbritanniens nationale Interessen beeinträchtigen. Als Vertreter des britischen Imperialismus überlegt er schon heute, welche Handels- und politischen Allianzen in Europa und auch darüber hinaus vorrangig gepflegt werden müssen.

Solche prinzipienlosen Erwägungen werden britische Arbeiter nur noch mehr zu Opfern der Handelskonflikte machen, die nach Corbyns Worten für „einen unablässigen Angriff auf elementare Schutzbestimmungen und Rechte am Arbeitsplatz“ verantwortlich sind. Was die Sache noch gefährlicher macht, ist die Tatsache, dass heute der Kampf der imperialistischen Mächte um die globale Vorherrschaft die Gefahr eines Krieges mit Russland und China mit allen Nato-Mächten immer größer macht.

Einer der Hauptgründe für Corbyns Beliebtheit bei Arbeitern und Jugendlichen ist seine bisherige Opposition gegen Krieg. Doch in seiner Rede macht er eine erfolgreiche Opposition gegen den „Einsatz unilateraler militärischer Aktionen und Interventionen“ und gegen künftige „Kriege für Regimewechsel“ abhängig von der „Partnerschaft mit der EU“.

Corbyn baut auf Illusionen, dass die EU weniger militaristisch sei als die USA und der britische Imperialismus. Doch Deutschland, Frankreich und andere größere Mächte sind in einen irrsinnigen Rüstungswettlauf eingetreten und arbeiten an einer europäischen Armee, um mit der Nato um globalen Einfluss zu konkurrieren. Präsident Emmanuel Macron hat eine schwindelerregende Erhöhung des französischen Militärhaushalts angekündigt, die Wiedereinführung der Wehrpflicht gefordert und Syrien mit Bombenangriffen gedroht. Der deutsche Noch-Außenminister Sigmar Gabriel erklärt, dass es „eine gemeinsame Machtprojektion in der Welt“ brauche und das nicht ohne den Einsatz von Militär tun kann, „denn als einziger Vegetarier werden wir es in der Welt der Fleischfresser verdammt schwer haben.“

Die Arbeiterklasse kann ihre Interessen nicht auf nationalistischer Grundlage durchsetzen – weder durch einen „linken Brexit“ bei Fortführung des Handels mit der EU, noch durch eine Neumitgliedschaft in der EU.

Im Referendum von 2016 rief die Socialist Equality Party zu einem aktiven Boykott auf. Sie warnte, dass beide Lager, Befürworter und Gegner eines Austritts aus der EU, die Interessen rivalisierender Teile der Bourgeoisie zum Ausdruck brachten. Ihre Differenzen drehten sich darum, wie die Interessen des britischen Kapitalismus gegen seine europäischen und internationalen Rivalen unter Bedingungen wirtschaftlichen Niedergangs und der Eskalation von Militarismus und Krieg am besten verteidigt werden können.

Die SEP forderte die Arbeiterklasse auf, von allen Fraktionen der herrschenden Klasse politisch unabhängig zu handeln, ein internationalistisches Programm zu vertreten, um die Kämpfe der Arbeiter in ganz Europa zur Verteidigung des Lebensstandards und der demokratischen Rechte und gegen Militarismus und Krieg voranzubringen – für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa. Dieser Aufruf bildete den Grundstein für die politische Neubewaffnung und Neuorientierung der Arbeiterklasse in Großbritannien und in ganz Europa, unter der Führung der SEP und ihrer Genossen und Gleichgesinnten im Internationalen Komitee der Vierten Internationale.

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