Warnstreiks im öffentlichen Dienst

Große Wut über Niedriglöhne und Arbeitsstress

Am Donnerstag streikten erneut etwa 10.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes. In mehreren Bundesländern setzten Kita-Erzieherinnen, Müllmänner, Sozialarbeiterinnen und andere öffentliche Beschäftigte die Warnstreiks im Tarifkampf fort. In München, Karlsruhe, Stuttgart, Leipzig, Saarlouis, Darmstadt, Lübeck und vielen weiteren Städten fanden zentrale Kundgebungen statt.

Erzieherinnen und Lehrer in Leipzig im Warnstreik

Während die Streikenden ihre Kampfbereitschaft und Wut über die vorherrschenden miesen Zustände demonstrieren, stehen die Gewerkschaften auf der Seite der Arbeitgeber. Sie haben das Zustandekommen der Großen Koalition aktiv unterstützt und halten der Regierung den Rücken frei. Aus diesem Grund vermeiden die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, die GEW und der Beamtenbund dbb im Tarifkampf jede Ausweitung und breitere Solidarisierung. Seit fünf Wochen führen sie einen Arbeitskampf „auf Sparflamme“, mit kurzen Streiks und unzusammenhängenden „Nadelstichen“ hier und dort.

Gleichzeitig lässt die neue Große Koalition keinen Zweifel an ihrer rechten und arbeiterfeindlichen Politik aufkommen. Der neue Finanzminister Olaf Scholz (SPD), der selbst als NGG-Mitglied dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) angehört, hat vor wenigen Tagen einen Manager der Investmentbank von Goldman Sachs zu seinem Staatssekretär bestellt. Goldman Sachs steht symbolhaft für die extreme Polarisierung zwischen Reich und Arm der letzten Jahre. Am Donnerstag, an dem die Warnstreiks stattfanden, verkündete Scholz im Bundestag, er werde an der „Schwarzen Null“ strikt festhalten.

Immer wieder haben die Arbeitgebervertreter sowohl im Bund und in den Kommunen deutlich gemacht, dass sie sich auf die Forderungen nicht einlassen wollen. Besonders den Sockelbetrag von 200 Euro lehnen sie rundheraus ab. „Man kann so viel nicht bezahlen“, konstatierte Eva Peter vom Kommunalen Arbeitgeberverband Bayern am Donnerstag in München lapidar.

Das ist eine Lüge. Tatsächlich plant die Bundesregierung eine massive Aufrüstung, die die jährlichen Militärausgaben auf 70 Milliarden Euro verdoppeln soll. Die Forderungen im Tarifkampf nach 6 Prozent Lohnerhöhung würden für 2,3 Millionen Beschäftigte des Bundes und der Kommunen insgesamt nur etwa 6,4 Milliarden Euro kosten.

Unter den öffentlich Beschäftigten wächst daher die Wut. Während den Reichen in den letzten Jahren immer neue Steuergeschenke gemacht wurden, arbeiten immer mehr Menschen im Nahverkehr, bei der Müllabfuhr, in den Kliniken und im gesamten sozialen Bereich unter anwachsendem Stress für einen Niedriglohn.

Beschäftigte der Kitas und Kinderkrippen berichteten der World Socialist Web Site über die Zustände an ihren Arbeitsplätzen. Viele Erzieherinnen haben eine fünfjährige Ausbildung absolviert, doch sie werden praktisch am untersten Limit bezahlt.

Streikende in Darmstadt trotzen Schnee und Wind

„Natürlich kämpfen wir für gerechtere Löhne, aber am dringendsten brauchen wir einen besseren Betreuungsschlüssel“, erklärte Nadine aus Wixhausen. Sie nahm an der Kundgebung in Darmstadt auf dem Luisenplatz teil, wo etwa 700 Streikende Wind und Schneesturm trotzten.

Der aktuelle Betreuungsschlüssel sei unrealistisch, „das können wir im Alltag überhaupt nicht schaffen“, fuhr sie fort. „Es ist nicht umsetzbar.“ Nadine, die selbst zwei Kinder hat, sagte: „Ich arbeite dreißig Stunden. Dafür verdiene ich netto um die 1300 Euro.“ Sie berichtete, dass die Grippewelle vor kurzem zu untragbaren Zuständen geführt habe: „Unsre Gruppe besteht zurzeit aus 18 Kindern und zwei Erzieherinnen. Wenn eine der beiden krank wird, ist die andere mit achtzehn Kindern allein.“

Auch in Leipzig berichtete eine Erzieherin über die Auswirkungen der jüngsten Grippewelle. Sie habe die Lage im Kinderhort ins Unerträgliche verschärft: „Nicht selten war eine Person mit 20 oder mehr Kindern alleine.“ Und bei krankheitsbedingten Ausfällen „ist es nicht mehr möglich, mit den Kindern vernünftig zu arbeiten. Dann wirkt sich der Stress der Erzieher automatisch auf die Kinder aus.“

Ihre Kollegin ergänzte: „Wenn Erzieher ausfallen, dann müssen die Wenigen, die noch übrig sind, alles alleine schaffen, und eigentlich bräuchte man dann Unterstützung. Wenn acht bis neun Erzieher 150 Kinder stemmen müssen, weil ihre Kollegen ausfallen, ist das eine absolute Frechheit.“

Jens

In Darmstadt bestätigte Jens aus Münster diese Aussagen. Der Experte für Sprachförderung unterstützte den Streik seiner Kolleginnen aus Solidarität. „Sie müssen wirklich mehr verdienen“, sagte Jens. „Die Arbeit wird mit jedem Tag anstrengender und aufreibender, und es kommen täglich neue Anforderungen hinzu. Das findet einfach keine Entsprechung in der Bezahlung.“

„Die Arbeit ist enorm anspruchsvoll“, fuhr Jens fort. „Bei uns umfassen die Gruppen bis zu 25 Kinder, je nachdem, ob noch ein Integrationskind dazu gehört. Pro Gruppe sind zwei Erzieherinnen vorgesehen, und wenn eine krank wird, dann sieht das ganz schlimm aus.“ Jens berichtete, dass während der Grippewelle von zwölf Erzieherinnen sieben krank gewesen seien. „Da wurde alles mit heißer Nadel gestrickt. Hätten sie einen Hausmeister gehabt, dann hätten sie auch ihn zur Kinderbetreuung abgestellt.“

Die Politik der Großen Koalition finde er „niederschmetternd“, sagte Jens. Um sie zu verhindern, sei er extra in die SPD eingetreten. „Ich bin nicht aus Überzeugung eingetreten“, erklärte er. „Ich hatte gehofft, es gibt genügend Leute, die ähnlich denken wie ich. Aber der pragmatische Wunsch, am Trog mit zu fressen, war bei der SPD offenbar stärker. Das heißt, jetzt trete ich wieder aus.“ Es brauche offenbar „eine soziale Revolution“, fügte Jens noch hinzu.

Auch andere Streikende reagierten auf die Frage nach der neuen Regierung mit Wut, vor allem auf die jüngsten Aussagen des neuen Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU). Dieser hatte behauptet, kein Harz-IV-Empfänger sei arm, denn „jeder hat alles, was er braucht“. „Das ist wirklich bitter, wenn ein Minister so etwas sagt“, kommentierte eine Erzieherin in Leipzig. „Er sollte selbst mal versuchen, davon zu leben.“

„Ich kann das nicht verstehen, dass die Leute ganz oben so wahnsinnig viel Geld verdienen, während sie uns mit Versprechungen hinhalten“, fügte ihre Kollegin hinzu. „Und dann halten sie sie nicht ein.“

Die Kritik trifft nicht nur auf die Bankiers und Milliardäre und Regierungsmitglieder, sondern auch auf die Gewerkschaftsführer zu, die seit Jahren mit der Regierung zusammenarbeiten und dafür etwa mit Aufsichtsratsposten fürstlich entlohnt werden.

Mehrere Streikende zeigten sich unzufrieden mit den Versuchen Verdis, die Streiks zu isolieren und kleinzuhalten. „Ich glaube nicht mehr dran, dass wir auf diese Weise wirklich eine Verbesserung erreichen“, sagte eine Kita-Leiterin in Darmstadt. Sie erinnerte daran, dass Verdi vor drei Jahren den Kita-Streik nach mehreren Streikwochen ergebnislos abgebrochen hatte.

In Leipzig vermuteten die Erzieherinnen, dass die Gewerkschaft die streikenden Gruppen wohl bewusst voneinander isoliere. Von den Streiks im Ruhrgebiet hätten sie nur aus den Medien gehört. „Dass wir heute streiken, haben wir erst gestern erfahren“, berichteten sie. Was die Streiktaktik anbelange, so hätten sie „überhaupt kein Mitspracherecht“.

Auch im Verdi-Mitgliedernetz gibt es kritische Stimmen. Dort schreibt ein Mitglied: „Die Inflation liegt bei rund 2% im Jahr, wobei Mieten, Mietnebenkosten und Lebensmittel deutlich mehr als 2% zulegen. Was also soll die Forderung von 6%? Das wird dann wieder auf 2 Jahre verteilt und die Arbeitgeber handeln noch 1% runter weil sie nicht anders können. – Bleibt eine Nullnummer!“

Ein anderes Mitglied weist auf das abgenutzte „Tarifritual“ hin, bei dem „im Vorfeld bereits mit den Arbeitgebern bis zu drei Verhandlungstermine vereinbart“ worden seien, worauf bei jeder Runde die üblichen öffentlichen Verlautbarungen von beiden Seiten kämen – ein Theater, das jedem Beteiligten „bis zum Kotzen bekannt“ sei.

Der Grund für die Demobilisierung des Streiks von Seiten Verdis ist die enge Zusammenarbeit der Gewerkschaft mit dem Staat und den Arbeitgebern. Je aggressiver die Regierung auf Kriegskurs geht und die sozialen Interessen der Arbeiter angreift, desto näher rücken Verdi und Co an den Staatsapparat heran.

Arbeiter sind im Kampf für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen mit politischen Aufgaben konfrontiert. Die Gewerkschaften sind dabei zu offenen Gegnern geworden. Um ihre Interessen zu verteidigen, müssen Arbeiter unabhängig von den Gewerkschaften Betriebskomitees aufbauen, die sofort Kontakt zu Arbeitern anderer Branchen und anderer Länder aufnehmen und den Kampf gemeinsam organisieren.

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