Ein Akt von Staatsterrorismus

Indische Polizei tötet in Tuticorin 12 Demonstranten gegen giftige Industrieabfälle

[headline]Indische Polizei tötet in Tuticorin 12 Demonstranten gegen giftige Industrieabfälle[/headline]

In den letzten Tagen wurden bei der gewaltsamen Unterdrückung von Massenprotesten im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu mindestens zwölf Menschen von der Polizei getötet. Die Proteste richteten sich gegen eine Kupferschmelzerei, die bereits seit zehn Jahren die Gegend mit gefährlichem Industrieabfall vergiftet und damit für zahlreiche Todesfälle verantwortlich ist.

Am Dienstag wurden zehn Demonstranten getötet, darunter zwei Frauen, und 60 weitere verletzt, als die Polizei das Feuer auf eine 20.000-köpfige Menschenmenge eröffnete. Die Teilnehmer hatten sich einem Erlass der Regierung widersetzt, der Versammlungen von mehr als vier Menschen verbietet. Am Mittwoch eröffnete die Polizei erneut das Feuer auf Gegner des Hüttenwerks, die in Tuticorin gegen die Polizeigewalt vom Vortag protestierten, und tötete einen weiteren Demonstranten.

Der Chief Minister von Tamil Nadu und Parteichef der regionalistischen Partei All India Anna Dravida Munnetra Kazhagam (AIADMK), Edappadi Palaniswami, verteidigte das brutale Vorgehen der Polizei mit den Worten: „Die Polizei war gezwungen zu handeln, um öffentliches Leben und Eigentum zu schützen.“

Auch H. Raja, der nationale Sekretär der hindu-chauvinistischen Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP), rechtfertige die Ermordung von Menschen, die für die Schließung des Werkes demonstrierten. Es gehört einem milliardenschweren indischen Industriellen und hat der Bevölkerung von Tuticorin und den Fischern an großen Teilen der indischen Südostküste schweren Schaden zugefügt. Raja behauptete, die Polizei habe „keine andere Wahl“ gehabt, da die Proteste „in Gewalt umgeschlagen waren“. Die AIADMK ist ein enger Verbündeter der BJP, allerdings nicht Teil der von dieser angeführten National Democratic Alliance.

Die Morde haben in ganz Indien Abscheu und Wut ausgelöst. Aus Angst vor massiven sozialen Unruhen hat die Regierung des Bundesstaats Tamil Nadu im Distrikt Thoothukudi, wo sich Tuticorin befindet, und in den Nachbardistrikten Tirunelveli und Kanniyakumari den Internetzugang generell für fünf Tage gesperrt.

Innenminister Niranjan Mardi erklärte am Dienstag in einem Brief, in dem er die Internetprovider anwies, das Internet zu sperren: „Massenversammlungen wurden hauptsächlich durch die Informationen möglich, die über soziale Medien verbreitet wurden.“ Er behauptete, „asoziale Elemente“ versuchten jetzt, die Lage durch „provokante Nachrichten“ auszunutzen.

Die Zeitung The Hindu aus Chennai schrieb: „In Tamil Nadu wurde die höchste Alarmstufe ausgerufen. Die Nachrichtendienste warnen vor möglichen Anschlägen auf das öffentliche Verkehrssystem und Sabotage an Eisenbahnschienen vor dem Hintergrund geplanter bundesstaatsweiter Proteste von Parteien, Fischern und anderen.“

Diese „Warnungen“ deuten stark darauf hin, dass sich der Staat auf weitere Gewaltanwendung vorbereitet. Die BJP-Zentralregierung hat die paramilitärische Central Reserve Police Force bereits für einen möglichen Einsatz in Tamil Nadu vorbereitet.

Die Regierung von Tamil Nadu und die Polizei haben „Agitatoren von außen“ und „Linke“ für die mörderische Gewalt am Dienstag verantwortlich gemacht und behaupten, diese hätten die Proteste zur Eskalation getrieben. Tatsächlich deutet alles darauf hin, dass die Behörden bewusst eine gewalttätige Konfrontation provoziert haben.

Letzten Freitag erklärte ein Richter des High Court von Madras, die Proteste am Dienstag zum 100. Tag der Kampagne für eine dauerhafte Schließung der Schmelzanlage hätten „wahrscheinlich einen Einsatz der Ordnungskräfte gerechtfertigt.“ Damit reagierte er auf eine Beschwerde des transnationalen Konzerns Vedanta Resources, dem die Kupferschmelze in Tuticorin gehört. Er empfahl der Distriktverwaltung, die Proteste durch Anwendung von Abschnitt 144 des Strafgesetzbuchs zu verbieten. Dabei handelt es sich um eine autoritäre Bestimmung aus der britischen Kolonialzeit. Die Verwaltung folgte dieser Empfehlung sofort.

Die AIADMK-Regierung mobilisierte 1.500 Polizisten und forderte Sicherheitskräfte von außerhalb Tuticorins an, um die „illegalen“ Proteste am Dienstag gewaltsam niederzuschlagen. Gemäß den Plänen ging die Polizei praktisch von Anfang an mit Knüppeln und Tränengas gegen die Demonstranten vor. Als diese sich wehrten, setzte die Polizei ohne Vorwarnung und mit Tötungsabsicht scharfe Munition ein, obwohl dies gegen ihre eigenen „Befehle und Richtlinien“ verstieß.

Der Vorsitzende der People's Union for Civil Liberties, V. Suresh, verwies auf Videos und Augenzeugenberichte, laut denen die Polizei vorsätzlich versuchte, Demonstranten umzubringen. Am Mittwoch erklärte er, Scharfschützen hätten „von den Dächern von Polizeifahrzeugen aus direkt auf die Anführer der Demonstration geschossen und versucht, sie zu töten.“

Wie zum Hohn bietet die Regierung von Tamil Nadu den Opfern der Polizeigewalt vom Dienstag jetzt eine lächerliche „Entschädigung“ an. Die Familien der Toten sollen 1 Million Rupien (weniger als 15.000 US-Dollar) erhalten, „ernsthaft Verletzte“ etwa umgerechnet 4.400 Dollar, weitere Verletzte 100.000 Rupien (etwa 1.460 Dollar).

Die AIADMK-Regierung verteidigte das Vorgehen der Polizei zwar uneingeschränkt, hat jedoch eine inszenierte Untersuchung der Ereignisse vom Dienstag angeordnet, für die ein Richter des High Court zuständig sein wird.

Die indischen Gerichte und der Rest des Staatsapparates und des politischen Establishments haben Vedanta und seinem milliardenschweren Chef Anil Agrawal jahrzehntelang freie Hand gelassen, mit dem Giftmüll aus seinem Kupferhüttenwerk die Umwelt zu verseuchen.

Die lokale Bevölkerung hat sich bereits seit der Eröffnung des Hüttenwerks Mitte der 1990er Jahre lauthals über dessen verheerende Folgen für die Umwelt beklagt, stieß dabei jedoch von offizieller Seite nur auf Gleichgültigkeit und Ablehnung.

Tatsächlich haben die indischen Behörden Vedantas Plan genehmigt, die Produktionskapazität des Werks von 400.000 auf 800.000 Tonnen pro Jahr zu verdoppeln.

Arsen, Blei, Schwefeldioxid und andere Emissionen aus dem Hüttenwerk haben das örtliche Grundwasser vergiftet, zu einer deutlichen Zunahme von Atemwegserkrankungen in der unmittelbaren Nähe der Anlage geführt und hatten verheerende Folgen für die Perlenernte und die Fischerei vor den Küsten im Südosten von Tamil Nadu.

Trotz zahlreicher Beweise haben Vedanta und mehrere Regierungen von Tamil Nadu darauf beharrt, dass das Werk keine Gefahr für die Umwelt darstelle. Doch 2008 wurden im Rahmen einer Studie mehr als 80.000 Menschen aus einem Umkreis von fünf Kilometern um das Werk untersucht. Dabei kam heraus, dass 14 Prozent von ihnen an Atemwegserkrankungen aufgrund von schlechter Luft und Feinstaub litten.

1996, 1999 und 2013 sollte das Hüttenwerk geschlossen werden, da seine Schwefeldioxidemissionen die Umweltschutzstandards deutlich überschritten. Jedes Mal duldeten es die Behörden, dass Vedanta die Produktion nach kurzer Zeit wieder aufnahm.

Im Jahr 2013 setzte der Oberste Gerichtshof ein Urteil eines niedrigeren Gerichts außer Kraft, das dem Hüttenwerk auferlegt hatte, die Produktion einzustellen und die lächerliche Geldstrafe von einer Milliarde Rupien zu zahlen (etwa fünfzehn Millionen US-Dollar).

Aufgrund der niedrigen Löhne und aufgrund der lockeren und kaum durchgesetzten Umweltschutzstandards in Indien gilt die Anlage von Sterlite als eines der profitabelsten Kupfer-Hüttenwerke der Welt.

Die Kampagne gegen das Sterlite-Hüttenwerk ist Teil einer wachsenden Welle von sozialen Kämpfen in ganz Indien, an denen u.a. die Arbeiter aus der neuen und global vernetzten indischen Autoindustrie, die arme Stadt- und Landbevölkerung, sowie Schüler und Studenten teilnehmen.

Während die indische Elite, ausländische Investoren und die westlichen Medien Indiens angeblichen „Aufstieg“ feiern, muss die große Mehrheit der 1,3 Milliarden Einwohner des Landes von zwei Dollar oder noch weniger pro Tag leben. Die „Marktreformen“ des letzten Vierteljahrhunderts haben Indien zu einer der am stärksten sozial polarisierten Gesellschaften gemacht. Das oberste Prozent der indischen Bevölkerung erhält fast ein Viertel des Gesamteinkommens und besitzt 60 Prozent des Gesamtvermögens des Landes.

Doch wie überall in der Welt ist die kapitalistische Elite auch in Indien unsicher. Sie fürchtet den Widerstand von unten und die zunehmende Instabilität ihres eigenen Systems, durch die sich der Kampf um Märkte, Profite und geopolitische Vorteile immer weiter verschärft.

Vor vier Jahren brachte sie die BJP unter dem Hindu-Machthaber Narendra Modi an die Macht, um eine aggressivere Politik gegen die Arbeiterklasse zu betreiben und ihre eigenen Großmachtambitionen aggressiver durchzusetzen.

Die Modi-Regierung hat investorenfreundliche Reformen forciert, darunter die Aushöhlung von Umweltschutzbestimmungen und die Einführung einer neuen Kategorie von „Kurzzeitbeschäftigten“, die von den Arbeitgebern jederzeit und ohne Abfindung entlassen werden können. Zudem hat sie Indien faktisch in einen Frontstaat der militärisch-strategischen Offensive der USA gegen China verwandelt. Sie propagiert systematisch Hindu-Kommunalismus, um den Widerstand der Arbeiterklasse gegen ihren ultrarechten Kurs zu spalten und zu schwächen.

Anfang des Monats warnte der ehemalige nationale Sicherheitsberater M.K. Narayanan die indische Regierung vor einem heraufziehenden „Sturm“ des sozialen Widerstands: „Proteste und Unruhen haben ein Eigenleben, und wenn man ihr Potenzial unterschätzt, könnte es Ärger geben.“

Aufgrund der verräterischen Politik der stalinistischen Parteien und der Gewerkschaften hat sich dieser wachsende Widerstand bisher noch nicht zu einer politischen Gefahr für die Modi-Regierung und den Kapitalismus entwickelt. Die Stalinisten waren jahrzehntelang Teil des politischen Establishments und haben den Klassenkampf systematisch unterdrückt. Als die Bourgeoisie auf die BJP und die Reaktion zuging, rückten sie noch weiter nach rechts und verbündeten sich mit der Kongresspartei, der traditionellen Regierungspartei der indischen Bourgeoisie, die im letzten Vierteljahrhundert die neoliberalen Reformen und Indiens „globale strategische Partnerschaft“ mit Washington vorangetrieben hat.

Als Reaktion auf die Ereignisse in Tuticorin riefen die Stalinisten zu gemeinsamen Protesten mit der Kongresspartei, ihrer regionalen Verbündeten DMK und anderen rechten bürgerlichen Parteien auf. Dieselben Parteien haben Vedanta jedoch erst ermöglicht, ein enormes Vermögen anzuhäufen, und dabei das Leben und die Existenzgrundlage der Menschen im Südosten von Tamil Nadu zerstört.

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