Großbritannien wirft Russland erneut Nowitschok-Anschlag vor

Unter Berufung auf einen zweiten angeblichen Zwischenfall mit dem Nervengift Nowitschok in der Nähe von Salisbury hat die britische Regierung eine neue Provokation gegen Russland gestartet.

Gestützt auf die bis heute unbewiesenen Behauptungen, dass die Putin-Regierung hinter einem Mordanschlag auf den Doppelagenten Sergei Skripal und seine Tochter Julia stecke, wird Moskau jetzt beschuldigt, gewissermaßen als Kollateralschaden verursacht zu haben, dass sich nun zwei britische Staatsbürger in kritischem Zustand befinden.

Die Umstände der jüngsten Beschuldigungen sind ebenso zweifelhaft und haltlos wie diejenigen im Zusammenhang mit dem Zwischenfall vom 4. März. Dieser hatte zu weltweiten diplomatischen Verwicklungen geführt. Auf Betreiben von Premierministerin Theresa May und Außenminister Boris Johnson hatten die USA und andere Verbündete insgesamt mehr als 100 russische Diplomaten aus ihren Ländern ausgewiesen.

Gestern nun bezeichnete der britische Sicherheitsminister Ben Wallace Russland als Verursacher der Vergiftung von Dawn Sturgess, 44, aus Salisbury und Charlie Rowley, 45, aus dem 11 Kilometer entfernten Amesbury. „Die Arbeitshypothese lautet, dass die Beiden Opfer der Folgen des früheren Angriffs oder etwas anderem, aber nicht, dass sie Opfer eines gezielten erneuten Angriffs sind“, erklärte er der BBC.

Wallace äußerte sich weniger als 24 Stunden, nachdem Neil Basu, Großbritanniens führender Antiterrorkämpfer, den Medien mitgeteilt hatte, dass Wissenschaftler in dem Giftgaslabor der britischen Armee in Porton Down Kontakt mit Nowitschok für den Zusammenbruch des Paars verantwortlich gemacht hätten.

Im Anschluss an eine Sitzung des Sicherheitsrats der Regierung, des sogenannten Cobra-Komitees, erklärte Innenminister Sajid Javid vor dem Parlament, dass das Vereinigte Königreich „sich nach diesen jüngsten Entwicklungen mit seinen internationalen Partnern und Verbündeten beraten wird“.

„Die Augen der Welt sind gegenwärtig auf Russland gerichtet, nicht zuletzt wegen der Fußball-WM … Es ist an der Zeit, dass der russische Staat endlich erklärt, was los ist.“

Diese Aufforderung müsste eigentlich der britischen Regierung gelten. Denn der Ablauf der Ereignisse, der zu ihren jüngsten Beschuldigungen geführt hat, wirft viele Fragen auf.

Die angebliche Vergiftung in Wiltshire wurde der Öffentlichkeit erstmals am Morgen des 4. Juli mitgeteilt. Zu diesem Zeitpunkt gab die Polizei bekannt, dass sie ihre anfängliche Hypothese auf den Prüfstand stelle, dass das Paar kontaminiertes Heroin oder Crack-Kokain konsumiert hätten. Nowitschok als augenscheinliche Ursache wurde am Abend des Tages bestätigt.

Das Paar erkrankte bereits am Samstag, den 30. Juni. Sturgess wurde um 11 Uhr vormittags ins Krankenhaus eingeliefert und Rowley um 18.30 Uhr. Laut der offiziellen Darstellung wurde Nowitschok als Ursache deshalb so spät festgestellt, weil Rowley als Heroinabhängiger und Sturgess als Drogenkonsumentin bekannt war, sodass es bei der Polizei niemandem in den Sinn kam, dass es einen Zusammenhang zum Fall Skripal geben könnte. Und dies, obwohl die beiden nur 11 Kilometer von Salisbury entfernt aufgefunden wurden und ganz ähnliche Symptome wie die Skripals aufwiesen.

Erst am Donnerstag erschienen dann Berichte, die plausibel machen sollten, wie die beiden mit dem Giftstoff in Kontakt gekommen sein konnten, der dann bei einer Reinigungsaktion von Hunderten Polizisten, die zehn Millionen Pfund gekostet hatte, wundersamerweise übersehen wurde.

Britische Beamte hatten bisher behauptet, dass das Nowitschok, mit dem die Skripals in Kontakt gekommen waren, deswegen nicht tödlich gewesen war, weil es als Gel verabreicht wurde, das auf den Türknauf ihres Hauses geschmiert worden war. Mittlerweile müsste es durch Wasser und Verdunstung völlig wirkungslos geworden sein.

Um glaubhaft zu machen, wie der Giftstoff noch nach vier Monaten eine so verheerende Wirkung entfaltete, wird behauptet, dass Rowley die zuvor obdachlos gewordene Sturgess im John Baker House Hostel in Salisbury besuchte und dort eine gebrauchte Spritze fand, in der sich Nowitschok eben jener Sorte befand, mit dem die Skripals vergiftet wurden, bevor sie auf einer Parkbank im Queen Elizabeth Garden zusammenbrachen.

Der Chemiewaffenexperte Richard Guthrie erklärte im Frühstücksfernsehen der BBC, dass Nowitschok im Inneren einer Spritze länger haltbar sei. Der Chemiewaffenexperte Hamish de Bretton-Gordon sagte der MailOnline, dass Nowitschok in einer Spritze monatelang wirksam bleiben könne.

Der Guardian fokussierte seine Ausführungen darauf, die bisherigen Annahmen über die Eigenschaften von Nowitschok zu revidieren. Er zitierte Alastair Hay, einen Umwelttoxikologen von der Universität Leeds mit den Worten: „Es gibt natürlich keine öffentlich zugänglichen Daten über die Haltbarkeit von Nowitschok, aber Diskussionen mit Experten in Porton Down legen nahe, dass es sich nur langsam zersetzt.“

Die jüngsten Erkenntnisse beruhen ausschließlich auf den Aussagen von Sam Hobson, einem Freund von Rowley und Sturgess, der die beiden den ganzen letzten Tag begleitet hatte. Er sagte, Sturgess habe sich schlecht zu fühlen begonnen, nachdem sie einen „Gegenstand“ im Queen Elizabeth Garden aufgehoben habe.

Nachdem Sturgess ins Krankenhaus eingeliefert worden war, löste Rowley offenbar seine Rezepte bei Boots ein, besuchte ein Grillfest mit Hobson und kaufte dann rote, weiße und blaue Haarfarbe, um sich auf das bevorstehende Match der englischen Mannschaft gegen Kolumbien vorzubereiten. Ihm wurde erst schlecht, nachdem er nach Hause in seine Wohnung in der Muggleton Road gekommen war.

Die Behauptung, dass die Polizei den Einsatz von Chemiewaffen erst später in Betracht zog, wird von Augenzeugen widerlegt, die berichteten, dass die Sanitäter, die Rowley abholten, Schutzanzüge trugen.

Die Nachbarin Amy Ireland sagte der Daily Mail, dass das Wohngebiet von Feuerwehrleuten, Polizisten und Sanitätern nur so wimmelte. „Absperrungen wurden errichtet, und Anwohner wurden zurückgedrängt. Die Leute dachten zuerst an ein Gasleck.“

Ein anderer Nachbar berichtete dem Daily Mirror: „Wir wurden angewiesen, in den Häusern zu bleiben.“

Die siebzehnjährige College-Studentin Chloe Edwards, die gegenüber von Rowley wohnt, sagte: „Überall standen Krankenwagen, Feuerwehrautos, Lkw und die Leute mit ihren gelben und grünen Warnwesten.“

Sie sagte dem Independent, dass Feuerwehrleute Wasserschläuche an die Hauptleitung angeschlossen hätten. Das habe normalerweise mit Dekontaminierungsaktionen zu tun, wie die Zeitung anmerkte. Am Samstag brachte der Feuerwehr- und Rettungsdienst von Dorset und Wiltshire eine spezielle Dekontaminierungsdusche herbei. Aber eine Mannschaft aus Swindon twitterte später, es sei zum Glück nichts Schwerwiegendes gewesen und die Dekontaminierungsdusche sei nicht benötigt worden. Der Tweet wurde zwischenzeitlich gelöscht.

All das wurde tagelang geheim gehalten. Und nichts, was seitdem berichtet wurde, kann für bare Münze genommen werden, wenn man bedenkt, was für Lügengeschichten in der Skripal-Affäre aufgetischt wurden. Man muss sich nur an die ursprüngliche Story erinnern, laut der Sergei Skripal ein seit langem pensionierter Ex-Spion sei. Erst der ehemalige britische Botschafter Craig Murray enthüllte im Mai, dass der Presse Maulkörbe umgehängt worden waren, um den Führungsoffizier Skripals beim MI6, Pablo Miller, zu schützen.

Murray stellt jetzt die Darstellung von Rowley und Sturgess als arbeits- und obdachlose Drogenabhängige in Frage und fragt, ob Pablo Miller „Rowley und Sturgess kennt, da er in der gleichen Gemeinde wohnt“.

Sicher ist, dass die britische Regierung sehr daran interessiert ist, ihr rasch verblassendes und diskreditiertes Skripal-Märchen aufzufrischen. Dass Javid die Weltmeisterschaft für seine Zwecke auszunutzen versucht, zeigt, wie sehr sich die Tory-Regierung über den erfolgreichen Verlauf der Fußball-WM ärgert. Alle große Parteien, inklusive der Opposition und der königlichen Familie, boykottieren das Sportfest. Möglicherweise kommt England noch ins Viertelfinale oder trifft sogar im Halbfinale auf Russland, ohne dass ein offizieller Vertreter des Landes im Publikum sitzt.

Noch mehr dürfte die britische Regierung beunruhigen, dass Präsident Donald Trump bei einem Gipfel am 16. Juli in Finnland einen neuen Modus vivendi mit Präsident Wladimir Putin suchen könnte, und das nur einen Tag nach seinem lange hinausgeschobenen Besuch des Vereinigten Königreichs und eine Woche nach dem Nato-Gipfel am 11.-12. Juli. Auf Letzterem soll die Verstärkung der Operationen der Militärallianz an der russischen Grenze diskutiert werden.

Zwei Tage vor den Ereignissen in Wiltshire, am 28. Juni, schrieb der für diplomatische Themen zuständige Herausgeber des Guardian, Patrick Wintour: „Das Vereinigte Königreich ist zum Teil aus freien Stücken und zum Teil aufgrund der Umstände diejenige westliche Macht, die Putin am feindlichsten gesonnen ist. Jetzt droht ihm er Boden unter den Füßen wegzubrechen. Es besteht die Befürchtung, dass der Trump-Putin-Gipfel dem Gipfel mit dem nordkoreanischen Führer Kim Jong-un ähneln könnte. Wird er eine impulsive Geste machen, die Europa im Abseits stehen lässt, oder wird er auf dem Nato-Treffen und dem Treffen mit May die Geduld verlieren, so wie auf dem G7 Gipfel vor seinem bilateralen Treffen mit Kim?“

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