„Vision 2020+“: Siemens leitet nächste Phase des Arbeitsplatzabbaus ein

Der im vergangenen Herbst angekündigte Abbau von 7000 Arbeitsplätzen in der Energiesparte ist noch nicht abgeschlossen, da steht beim Siemens-Konzern bereits die nächste Spar- und Umstrukturierungsrunde an. Am 1. August verkündete Vorstandschef Joe Kaeser die Umrisse des Programms „Vision 2020+“, das bereits mit Beginn des neuen Geschäftsjahres am 1. Oktober umgesetzt werden soll. Er hat dabei die volle Unterstützung des Betriebsrats und der IG Metall.

Die Belegschaft von Siemens weiß aus langer und bitterer Erfahrung, was solche Umbauprogramme bedeuten: Endloser Stress, Unsicherheit und die Vernichtung tausender Arbeitsplätze, während sich die Konten der Aktionäre füllen und die Vorstandmitglieder Boni in Millionenhöhe einstreichen. Die langfristigen Interessen der Arbeiter und ihrer Familien werden den kurzfristigen Profitinteressen der Börsen und der unersättlichen Gier von Millionären geopfert.

„Vision 2020+“ sieht vor, die noch existierenden fünf Industrie-Divisionen von Siemens in drei weitgehend selbständige, operative Unternehmen umzuwandeln.

Der bisherige Automatisierungsbereich Digital Factory heißt dann Digitalisierung und Automatisierung (Digital Industries) mit Sitz in Nürnberg. Der Energiebereich (P&G) und alles, was dazu gehört, wird in das Unternehmen Kraftwerksgeschäft (Gas and Power) überführt und in Houston, Texas (USA) angesiedelt. Der Bereich Gebäudetechnik und verwandte Unternehmensbereiche werden zu Infrastrukturaktivitäten (Smart Infrastructure) mit Sitz im Steuerparadies Zug (Schweiz) zusammengefasst.

Der Bereich Energie hat derzeit 71.000 Mitarbeiter und macht einen Umsatz von 21 Milliarden Euro. Smarte Infrastruktur hat ebenfalls 71.000 Mitarbeiter und einen Umsatz von 14 Milliarden Euro. Digitale Industrie hat 78.000 Mitarbeiter und einen Umsatz von 14 Milliarden Euro.

In einem vierten Unternehmen sollen Forschung und andere Bereiche mit derzeit noch 21.000 Mitarbeitern und 5 Milliarden Umsatz zusammengefasst werden, die nicht den drei operativen Hauptsäulen zugeordnet werden können. Hierzu gehören auch vom Siemens-Vorstand als „Problemfälle“ eingestufte Bereiche, wie die Post- und Flughafenautomatisierung und die Tochterfirma Flender, die mechanische Antriebe herstellt. Sie sollen nach den Zielvorgaben des Vorstands bis 2020 Gewinne erzielen oder werden abgestoßen, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Arbeitsplätze.

Der Unternehmensbereich Windkraft von Siemens wurde bereits Anfang letzten Jahres mit dem spanischen Windkrafthersteller Gamesa fusioniert und an die Börse gebracht. Hier wurde kurz nach der Fusion der Abbau von 6000 Arbeitsplätzen in 24 Ländern angekündigt. Jeder fünfte der insgesamt 26.000 Beschäftigten verliert damit innerhalb von drei Jahren seinen Arbeitsplatz.

Der hoch profitable Bereich Medizintechnik mit 48.000 Beschäftigten wurde in diesem Jahr unter dem Kunstnamen Siemens Healthineers an die Börse gebracht. Auch hier wurden im Vorfeld viele Arbeitsplätze abgebaut, um weitere Einsparungen zu erzielen.

Der Bereich Bahntechnik oder Siemens Mobility befindet sich gerade im Ausgliederungs- und Fusionsprozess mit dem französischen Konzern Alstom. Er soll im nächsten Jahr an die Börse gebracht werden.

Vorstandschef Kaeser begründete die neuen Umbaupläne, die Siemens langfristig in eine Holding verwandeln, mit der Sicherung der Zukunft des Konzerns. Obwohl damit die Interessen der Eigentümer auf Kosten der Belegschaft gesichert werden, erhielt er die volle Unterstützung von IG Metall und Betriebsräten. Die Abstimmung im Aufsichtsrat fiel einstimmig.

Das Handelsblatt kommentierte: „Dass die Abstimmung im Aufsichtsrat einstimmig fiel, zeigt: Kaeser gelang es, beide Seiten mitzunehmen. Die Zuspitzung in Richtung Holding gefällt den Investoren. ...Die drei Bereiche digitales Industriegeschäft, Infrastruktur sowie Kraftwerke und Gasturbinen bekommen zwar möglichst viel Eigenständigkeit – aber keine eigene Rechtsform. Es handelt sich also nicht um eine formale Aufspaltung. So bekam Kaeser die misstrauischen Arbeitnehmervertreter mit ins Boot.“

Von Misstrauen ist auf Seiten der Aufsichtsratsmitglieder aus IG Metall und Betriebsrat nicht viel zu spüren. Für jeden, der bis zwei zählen kann, ist offensichtlich, dass die Aufteilung in selbständige, operative Unternehmen der erste Schritt zur Aufspaltung des Konzerns ist. Auf diese Weise wird verhindert, dass die Gewinne profitabler Unternehmensteile eingesetzt werden, um vorübergehende Verluste in anderen Bereichen auszugleichen – wie dies in Großkonzernen früher üblich war. Der Börsenwert profitabler Bereiche steigt so, während die anderen abgestoßen oder stillgelegt werden.

Trotzdem rechtfertigte Siemens-Aufsichtsrat und IG Metall-Vorstandsmitglied Jürgen Kerner die Unterstützung der Vorstandspläne mit den Worten: „Für die Arbeitnehmerseite ist wichtig, dass die Neuaufstellung unter dem Dach der Siemens AG bleibt.“

Die stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende und Siemens-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Birgit Steinborn sagte: „Die neue Ausrichtung darf nicht dazu führen, dass Marke und Identität von Siemens als vernetzter Technologiekonzern verloren gehen.“

Steinborn sorgt sich nicht um die Arbeitsplätze, sondern um ihr Bankkonto. Laut einem Bericht von Spiegel Online aus dem vergangenen Jahr gehört sie zu den zehn bestbezahlten Aufsichtsratsmitgliedern in Deutschland. Sie erhält allein für ihre Aufsichtsratstätigkeit bei Siemens 463.500 Euro im Jahr.

Siemens-Chef Joe Kaeser argumentiert, er handle mit dem Umbau des Konzerns in Richtung einer Holding aus einer Position der Stärke. Siemens werde nicht von Finanzinvestoren vor sich hergetrieben – eine Anspielung auf die schwierige Situation beim Hauptkonkurrenten General Electrics (GE) und auf Thyssenkrupp, wo nach dem Rücktritt von Vorstandschef Heinrich Hiesinger und Aufsichtsratschef Ulrich Lehner die Zerschlagung des über hundert Jahre alten Industriekonzerns durch die Hedgefonds Cevian und Elliot droht.

Tatsächlich bereitet die jetzt beschlossene Umstrukturierung den „Heuschrecken“ aus der Finanzindustrie den Weg. Auch wenn die drei neu zu gründenden Industriebereiche zunächst keine eigene Rechtsform erhalten, bereitet die Umwandlung einem solchen Schritt den Weg. Die weltweit 370.000 Arbeiter und Angestellten von Siemens fürchten deshalb zu Recht um ihre Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen.

Sie verfügen in dieser Hinsicht über schmerzhafte Erfahrungen. Allein in den letzten zehn Jahren gab es bei Siemens vier grundlegende Umbaumaßnahmen, die jedes Mal zur Vernichtung Tausender Arbeitsplätze und einer Erhöhung der Arbeitsdichte für die verbleibenden Arbeiter und Angestellten führten.

So endete die Ausgliederung der Siemens-Mobilfunksparte und ihr Verkauf an das taiwanesische Unternehmen BenQ im Jahr 2005 in der Pleite. BenQ führte das Unternehmen genau ein Jahr weiter, solange die von der IG Metall ausgehandelte Arbeitsplatzgarantie galt, und ging dann in die Insolvenz. Die früheren Siemens-Arbeiter verloren nicht nur ihren Arbeitsplatz, sondern auch alle vorher erworbenen Ansprüche auf Altersteilzeit und ähnliche Rechte.

Die Ankündigung der „Vision 2020+“ führte zunächst nicht zur erwünschten Reaktion der Aktienmärkte. Ihnen gehen die Pläne nicht weit genug. Der Aktienkurs brach um beinahe fünf Prozent ein. Aktienanalysten bringen das damit in Verbindung, dass keine konkreten Angaben zu Einsparpotentialen und Arbeitsplatzabbau gemacht wurden. Besonders im Kraftwerksbereich halten viele Analysten den bisher angekündigten Abbau von etwa 7000 Arbeitsplätzen nicht für ausreichend.

Die fehlenden Angaben zum Arbeitsplatzabbau und weiteren Einsparungen bedeuten allerdings nicht, dass es keine entsprechenden Pläne gäbe. So sollen im Rahmen der „Vision 2020+“ Profitabilität und Umsatz in allen Siemens-Bereichen deutlich gesteigert werden. Angesichts eines eskalierenden Handelskriegs, von dem Siemens als exportabhängiges, weltweit operierendes Unternehmen besonders empfindlich betroffen ist, wird diese Steigerung der Profite auf Kosten der Beschäftigten erfolgen.

IG Metall und Betriebsrat arbeiten bei den Angriffen auf die Arbeiter eng mit dem Vorstand zusammen. Sie vertreten nicht die Interessen der Arbeiter, sondern verstehen sich als Teil des Managements und werden dafür mit Privilegien und hohen Vergütungen belohnt.

Der Siemens Dialog der IG Metall lobte Kaesers „Vision 2020+“ ausdrücklich. „Wenn Siemens sich neu aufstellt, sollte das vor allem mit dem Ziel nachhaltiger Stabilität und Wettbewerbsfähigkeit geschehen. Eine Ausrichtung des Unternehmens auf die operativen Geschäfte ist richtig“, hieß es darin. Wichtig sei es, alle Mitarbeiter mitzunehmen.

Einzige Bedingung der IG Metall: ihre Pfründe und Privilegien müssen erhalten bleiben. IG Metall und Betriebsräte müssten „als legitime Vertretung der Beschäftigten in den Prozess und die Gestaltung der Veränderungen uneingeschränkt“ einbezogen und daran beteiligt werden, fordert der Siemens Dialog.

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