Türkei: Hunderte Verhaftungen nach Zusammenstößen zwischen Bauarbeitern und Sicherheitskräften

Am Wochenende wurden hunderte türkische Bauarbeiter von Polizei und Gendarmerie festgenommen, nachdem sie Massenproteste gegen die tödlichen Arbeitsbedingungen auf der Baustelle des neuen Istanbuler Flughafens organisiert hatten.

Nach einem Shuttlebus-Unfall, bei dem siebzehn Arbeiter verletzt wurden, legten tausende weitere Arbeiter wütend die Arbeit nieder und protestierten. Der Vorfall war nur der jüngste in einer ganzen Reihe von Betriebsunfällen auf der Baustelle, die von Arbeitern als „Friedhof“ bezeichnet wird. Es fehlt selbst an den grundlegendsten Sicherheitsmaßnahmen. Die Regierung übt Druck auf die Baufirma aus, den riesigen Flughafen pünktlich bis Ende nächsten Monats zu eröffnen.

Hunderte von Arbeitern skandierten: „Wir sind Arbeiter, wir sind im Recht. Wir werden uns durchsetzen, so oder so.“ Der Hashtag „#wir sind keine sklaven“ (#KöleDegiliz) zur Unterstützung der Arbeiter stieß in der ganzen Türkei auf große Unterstützung.

Özgür Karabulut, ein Sprecher der Gewerkschaft Yapi-Is, erklärte, Polizei und Gendarmerie hätten Militärfahrzeuge, Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt, um die Proteste der streikenden Arbeiter niederzuschlagen. „30 Gendarmen sind in das Lager der Arbeiter eingedrungen, haben Türen aufgebrochen und etwa 500 Arbeiter verhaftet“, erzählte er Reuters per Telefon.

Polizei und Gendarmerie gehen gegen protestierende Arbeiter vor

Die Bauarbeiter posteten Videos, auf denen zu sehen war, wie staatliche Sicherheitskräfte Arbeiter zusammentreiben und verhaften. Einige der inhaftierten Bauarbeiter wurden zwar am Sonntag wieder freigelassen, doch noch am Montag befanden sich hunderte von ihnen in Polizei- und Gendarmeriestationen in ganz Istanbul.

Laut dem Gouverneur der Provinz Istanbul Vasip Şahin wurden 401 Menschen verhaftet, entweder wegen Arbeitsverweigerung oder weil sie „versuchten andere zu beeinflussen“, wie die Zeitung Hürriyet schrieb. Sie zitierte Şahin mit der Aussage, am Sonntagmorgen seien 275 Arbeiter freigelassen worden, der Betreiber des Flughafens Istanbul Grand Airport (IGA) habe begonnen „sich der Probleme anzunehmen“.

Karabulut erklärte am Sonntag, 160 Menschen seien freigelassen worden. Laut Schätzungen der Gewerkschaft befinden sich 360 noch immer in Haft. „Einige unserer Freunde, die gestern Abend verhaftet wurden, kamen wieder ins Lager zurück, arbeiten aber nicht. Wir rechnen damit, dass diese Proteste noch eine Zeitlang weitergehen werden“, erklärte er gegenüber Reuters.

Verletzte Arbeiter nach dem Shuttlebus-Unfall am Freitag

Ein Vertreter des Flughafens spielte die Proteste herunter und erklärte gegenüber Reuters, der Flughafen werde wie geplant am 29. Oktober eröffnet werden. Der Kommunikationsdirektor von IGA, Gökhan Şengül, erklärte: „Die Arbeiten gehen im Zeitplan voran, es gibt keinerlei Störungen. Am Freitag kam es zu kleinen Protesten, die von Provokateuren ausgelöst wurden, die sich als Gewerkschaftsvertreter ausgaben.“

Bereits seit Monaten protestieren Arbeiter gegen die Bedingungen auf der Baustelle. Der geplante Flughafen ist ein Vorzeigeprojekt der Erdoğan-Regierung und soll der größte der Welt werden.

Die Gewerkschaft Dev Yapi-Is, die diese Zustände toleriert hat, veröffentlichte eine Stellungnahme, um ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Darin erklärte sie, die Baustelle unterscheide sich nicht von einem „Konzentrationslager für Arbeiter.“

Im April hatte Verkehrsminister Ahmet Arslan bei einem Besuch auf der Baustelle erklärt, seit Beginn der Bauarbeiten im Jahr 2015 seien 27 Arbeiter bei Arbeitsunfällen oder durch schlechte gesundheitliche Verhältnisse gestorben. Die Arbeiter selbst behaupten jedoch, diese Zahl sei deutlich zu niedrig.

Der Auftritt des Verkehrsministers war eine Reaktion auf die Veröffentlichung der oppositionellen Zeitung Cumhuriyet vom Februar, laut der die Regierung bis zu 400 Todesopfer unter den 35.000 Arbeitern auf der Baustelle verheimlicht.

Die Arbeiter erklärten gegenüber der Zeitung, die Arbeitgeber hätten angesichts von mehreren Verzögerungen bei dem geplanten Eröffnungsdatum auf eine höhere Produktivität gedrängt. Laut den Arbeitern werden viele Todesfälle nicht gemeldet, weil die Regierung den Familien der Opfer, von denen viele in verarmten Dörfern weit weg von Istanbul oder im Ausland leben, umgerechnet 100.000 Dollar „Schweigegeld“ zahlt.

Einige der festgehaltenen Arbeiter

Arbeiter erklärten gegenüber Cumhuriyet, viele Todesfälle gingen auf den nahezu unkontrollierten Verkehr von tausenden von Lastwagen auf der Baustelle zurück, bei dem Polizeibeamte und Inspektoren wegsehen würden. Der Gewerkschaftsvertreter Yunus Özgür erklärte, jede Woche würden drei bis vier Arbeiter bei Unfällen sterben.

Arbeiter beklagten sich außerdem über die minderwertige Qualität des Essens, über Flöhe und Bettwanzen in ihren Schlafstätten und ausstehende oder zu spät gezahlte Löhne. Sie haben Videos und Bilder in sozialen Netzwerken veröffentlicht, auf denen Insekten, angesammelter Müll und Risse in den Decken und Wänden der vom Unternehmen gestellten Unterkünfte zu sehen sind.

Das Regime von Präsident Recep Tayyip Erdoğan fürchtet, dass der Kursverlust der türkischen Lira, die steigende Inflation und die Entlassungswelle die Klassenspannungen verschärft und Widerstand in der Arbeiterklasse auslösen wird.

Das türkische Wirtschaftswachstum in den letzten zehn Jahren beruhte hauptsächlich auf einem fünfzehn Jahre andauernden Bauboom unter Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP). Sie hat u.a. Brücken und Autobahnen und nun auch den dritten Flughafen in Istanbul bauen lassen. Diese Projekte waren jedoch davon abhängig, dass es auf den internationalen Finanzmärkten billige Kredite gab, die jetzt zur Neige gehen.

Letzten Freitag erklärte Erdoğan, die Regierung werde neue Investitionen stoppen, um die Inflation zu begrenzen und die Lira zu stützen, die dieses Jahr bereits ca. 40 Prozent gegenüber dem Dollar verloren hat. In der Baubranche gibt es bereits einen Stillstand, sodass zehntausende von Arbeitern unbeschäftigt sind. Anderen Sektoren der exportabhängigen Wirtschaft setzt der Abschwung zu, u.a. der Autoindustrie. Ford, Mercedes Benz und Renault bereiten sich darauf vor, ihre Autoarbeiter in unbezahlten Urlaub zu schicken.

Unter dem Ausnahmezustand, den Erdoğan nach dem gescheiterten, von den USA unterstützten Putschversuch im Juli 2016 ausgerufen hatte, wurde das Streikrecht stark eingeschränkt. Die Aufhebung des Ausnahmezustands im Juli war größtenteils ein symbolischer Akt. Wie die Massenverhaftungen am Flughafen von Istanbul zeigen, sind die Strukturen für massive staatliche Unterdrückung bereits vollständig aufgebaut.

Letzten Januar hatten der türkische Verband der Metallarbeitgeber (MESS) und drei große Gewerkschaften ein Tarifabkommen unterzeichnet, das eine 24,6-prozentige Lohnerhöhung mit einer Laufzeit von zwei Jahren vorsieht, um die 130.000 Metallarbeiter zu beschwichtigen. Zuvor hatte Erdoğan einen geplanten branchenweiten Streik mit der Begründung verboten, er schade „der nationalen Sicherheit“. Die Metallarbeiter widersetzten sich dem Dekret der Regierung und setzten ihre Demonstrationen fort. Sie trugen Plakate mit der Aufschrift: „Wenn der Ausnahmezustand für die Bosse da ist, sind die Streiks für uns da.“

Im Februar erklärte das Innenministerium, 845 Menschen seien wegen Protesten oder Posts in sozialen Netzwerken, in denen sie sich kritisch über eine türkische Militärintervention in der nordsyrischen Stadt Afrin äußerten, wegen Terrorismus verhaftet worden.

Sicherheitskräfte treten die Türen in Arbeiterunterkünften ein

Laut der Zeitung Evrensel wurden im gleichen Monat zwei Bauarbeiter von der Polizei verhaftet, als sie am Adnan-Menderes-Flughafen in Izmir eintrafen, von wo aus sie in ihre Heimatstadt Diyarbakir fliegen wollten. Die beiden Arbeiter Nazim Toplu und Ahmet Polat wurden von der Polizei festgehalten, weil sie „verdächtig“ aussahen. Sie mussten ihre Facebook-Accounts öffnen, um zu überprüfen, ob sie etwas Kritisches über die Regierung geschrieben hatten. Als sie sich weigerten und diese Forderung als illegal bezeichneten, beschlagnahmte die Polizei ihre Handys und rief von diesen aus die Social-Media-Accounts der beiden auf. Sie wurden schließlich freigelassen, nachdem die Polizei erklärte, sie seien noch nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten.

Die Unfälle auf der Flughafenbaustelle zeigen die tödlichen Bedingungen für Arbeiter in der Türkei, die von den europäischen und amerikanischen multinationalen Konzernen als billige Arbeitskräfte benutzt werden. Im Jahr 2014 verzeichneten die 28 EU-Staaten insgesamt 3.700 Todesfälle während der Arbeit, von denen sich alleine in der Türkei 1.600 ereigneten. Laut einer Schätzung der türkischen NGO Arbeitergesundheits- und Arbeitsschutzvereinigung wurden letztes Jahr 2.006 Arbeiter bei Unfällen getötet. Im Jahr 2016 betrug die Zahl laut der NGO noch 1.970 Todesopfer.

Im Jahr 2014 starben 301 Arbeiter bei einem der schlimmsten Industrieunfälle in der Geschichte der Türkei, dem Brand in einer Kohlengrube im westtürkischen Soma. Die Tragödie war das Ergebnis der Privatisierung und der „Strukturanpassungspläne“, die vom Internationalen Währungsfonds unterstützt wurden. Diese wurden von Erdoğan und seinen Amtsvorgängern aus allen Fraktionen der türkischen herrschenden Klasse umgesetzt und von den Gewerkschaften durchgesetzt. Ein Grubenarbeiter namens Oktay Berrin erklärte damals gegenüber AFP: „Es gibt in dieser Grube keine Sicherheitsvorkehrungen. Die Gewerkschaften sind nur Marionetten und unserem Management geht es nur ums Geld.“

Der Wutausbruch der Bauarbeiter in Istanbul ist Teil einer wachsenden und sich radikalisierenden Bewegung der weltweiten Arbeiterklasse. Vor zehn Jahren, im September 2008, kam es zum globalen Zusammenbruch des Finanzsystems. Daraufhin wurde die Finanzaristokratie von den kapitalistischen Regierungen gerettet. Heute organisieren die Arbeiter in Europa, Amerika, Afrika und Asien eine wachsende Zahl von Streiks und Massenprotesten gegen stagnierenden Lebensstandard, Austerität und Ausbeutung am Arbeitsplatz. Diese Bewegung wird sich immer mehr zu einem internationalen Kampf gegen das kapitalistische Profitsystem entwickeln.

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