Zum 20. Todestag des marxistischen Historikers und Soziologen Wadim Rogowin

Wadim Sacharowitsch Rogowin, der größte sowjetische und russische marxistische Soziologe und Historiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, starb vor zwanzig Jahren, am 18. September1998. Er wurde 61 Jahre alt.

Wadim Rogowin

Seine wichtigsten Arbeiten verfasste Rogowin nach der Auflösung der UdSSR. 1992 begann er eine intensive Arbeit an einer Geschichte der revolutionären marxistischen Opposition, die letztlich sieben Bände umfassen sollte. Unter dem Gesamttitel „Gab es eine Alternative?“ war das Thema dieser Reihe die Opposition unter Führung Leo Trotzkis gegen die stalinistische Degeneration der UdSSR in den Jahren 1923 bis 1940. Sie ist ein unübertroffenes Beispiel historischer Gelehrsamkeit, und sie ist unverzichtbar für ein Verständnis des stalinistischen Regimes und der tief verwurzelten sozialistischen Opposition gegen den Verrat an Prinzipien und Programm der Oktoberrevolution. Rogowin dokumentiert darin die enorme Popularität, die Trotzki auch noch nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion 1929 genoss. Er weist nach, dass der Hauptgrund für Stalins blutigen Terror in den 1930er Jahren die Auslöschung von Trotzkis politischem Einfluss war.

Vor der Auflösung der Sowjetunion 1991 hatte Rogowin viele Jahre unter schwierigen Bedingungen an einer soziologischen Analyse des Stalinismus gearbeitet. Den größten Teil seiner Karriere arbeitete er als Wissenschaftler am Institut für Soziologie in Moskau. Er wandte sich der Soziologie zu, um sich Bedingungen zu schaffen, die es ihm ermöglichten, über das Problem der sozialen Schichtung in der sowjetischen Gesellschaft zu forschen und zu schreiben. Seine Forschung konzentrierte sich auf die Ungleichheit in Lebensstilen und im Konsum, die gesellschaftlichen und politischen Wurzeln der Probleme der Arbeitsproduktivität in der UdSSR und die Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit.

Rogowins Beiträge zur Soziologie wurden in wichtigen Journalen und Presseorganen veröffentlicht. Sie umfassen Titel wie „Gerechtigkeit als gesellschaftlich-philosophische und sozioökonomische Kategorie“(1982), „Der menschliche Faktor und die Lehren der Vergangenheit“ (1984) und „Zu gesellschaftlichen Vorteilen und Privilegien“ (1989). Sein offenes Eintreten für Gleichheit machte ihn ausgesprochen populär. Das wurde in der damaligen UdSSR und selbst von westlichen Wissenschaftlern weithin anerkannt.

Wir veröffentlichen hier eine Würdigung Wadim Rogowins von David North, dem Vorsitzenden der Internationalen WSWS-Redaktion, der von 1992 bis 1998 eng mit dem großen marxistischen Historiker und Soziologen zusammenarbeitete. North hielt diese Rede am 15. Mai 2002 in Moskau. Mehr als 75 Personen gedachten dort des 65. Geburtstags des verstorbenen Historikers. Unter ihnen waren überlebende Kinder russischer Mitglieder der Linken Opposition, die vom stalinistischen Regime ermordet worden waren, Wissenschaftler, die mit Rogowin am Moskauer Institut für Soziologie gearbeitet hatten, Vertreter sozialistischer Tendenzen in Russland und viele Freunde. Die Versammlung wurde von Wadims Frau Galina Rogowina organisiert, die David North dazu eingeladen hatte.

Eine Würdigung Wadim Rogowins, 15. Mai 2002

Heute haben wir uns getroffen, um den 65. Geburtstag Wadim Rogowins zu begehen und der Öffentlichkeit den siebten und letzten Band seines großartigen historischen Zyklus „Gab es eine Alternative zum Stalinismus?“ zu übergeben. Es handelt sich um eine Geschichte des politischen Kampfs gegen den Verrat an der Oktoberrevolution von der Gründung der Linken Opposition 1923 bis zur Ermordung Leo Trotzkis 1940.

In diesem Zusammentreffen der Ereignisse liegt eine tiefe und bewegende Symbolik. Indem wir seines 65. Geburtstags gedenken, würdigen wir Wadims Leben. Indem wir die Veröffentlichung des siebten Bandes seiner Geschichte begrüßen, ehren wir Wadims Werk.

Jedes Menschenleben ist sowohl endlich als auch unendlich. Es ist endlich in seiner Individualität und physischen Sterblichkeit. Aber als Element des kollektiven gesellschaftlichen Seins der Menschheit ist es unsterblich. Auf dieser Grundlage gibt es der universellen menschlichen Erfahrung bewussten Ausdruck und weist über die Grenzen der endlichen Existenz hinaus.

David North an der Gedenkversammlung vom Mai 2002 in Moskau

Manche Menschen tragen, um mit Trotzki zu sprechen, „einen kleinen Teil des Schicksals der Menschheit auf ihren Schultern“. In solchen Menschen findet dieses wertvolle Element unendlicher Transzendenz einen besonders starken Ausdruck. Ihr Beitrag zur Zukunft der Menschheit lebt nach ihrem Tod weiter. Das Erbe ihres Lebens geht in das Bewusstsein nachfolgender Generationen ein und wird zum wertvollen und kollektiven Erbe der gesamten Menschheit. Das trifft auch auf das Leben Wadim Sacharowitsch Rogowins zu.

Worin bestand die Größe von Wadim Rogowins Leben? Diese Frage kann nur beantwortet werden, wenn man es in den Kontext der Zeit stellt, in der er lebte – besonders in den Kontext des letzten Jahrzehnts seines Lebens, der Periode von Wadims größter intellektueller Kreativität. Viel hat sich in den letzten 15 Jahren in der Sowjetunion verändert. Es ist nicht meine Absicht, heute über den Charakter der Veränderungen in der gesellschaftlichen und ökonomischen Struktur der post-sowjetischen Gesellschaft zu streiten. Ich bin sicher, dass es unter den Anwesenden recht unterschiedliche Meinungen über den Charakter und die Konsequenzen dieser Veränderungen gibt. Es war Wadims Meinung (und sie stimmt mit der der internationalen trotzkistischen Bewegung überein), dass die jahrzehntelange Krise des stalinistischen Regimes in der Sowjetunion in den späten 1980er und den 1990er Jahren in einer politisch reaktionären und gesellschaftlich rückwärtsgewandten Weise gelöst wurde.

Aber auf einen besonders bemerkenswerten Aspekt der intellektuellen Umgebung der letzten 15 Jahre möchte ich doch hinweisen. Ungeachtet der Ereignisse seit Mitte der 1980er Jahre ist aus den Umwälzungen der sowjetischen und post-sowjetischen Gesellschaft nicht ein einziger Politiker hervorgegangen, der sich den Respekt, geschweige denn die Bewunderung der Welt errungen hätte. Insoweit die Menschheit nach neuen und vielversprechenden Ideen sucht, kommt es niemandem in den Sinn, sie im post-sowjetischen Russland zu suchen. Buchstäblich alle, die berühmt oder berüchtigt wurden, stellten sich als mittelmäßig oder einfach als Schurken heraus. Wer könnte heute über die „Größe“ eines Gorbatschow, Jelzin, Lebed, Sobtschak (an einige dieser Namen wird man sich wahrscheinlich kaum noch erinnern) oder – entschuldigt bitte – über die „Größe“ des heutigen Bewohners des Kreml sprechen, ohne dass das Publikum in Gelächter ausbricht? Diese Leute waren oder sind unbewusste Instrumente eines historischen und gesellschaftlichen Prozesses, den sie weder vorausgesehen noch verstanden haben.

Ich sollte hinzufügen, dass Blindheit und Mittelmäßigkeit nicht nur das politische Leben prägen. Vielleicht bin ich schlecht unterrichtet, aber ich glaube, man kann ohne ernsthaften Widerspruch sagen, dass das kulturelle Leben Russlands genauso verarmt ist wie seine Wirtschaft. Ist in den letzten zehn Jahren ein einziger großer Roman, ein wichtiges Gedicht, eine bedeutsame Komposition oder auch nur eine Filmproduktion entstanden, die wirklich internationale Aufmerksamkeit verdienen würde? Vor diesem Hintergrund einer intellektuellen und kulturellen Wüste hebt sich das Werk Wadim Rogowins umso mehr als eine monumentale Errungenschaft ab.

Die sieben Bände von Wadims Geschichte werden als ein wesentlicher Beitrag nicht in die russische, sondern auch in die Weltliteratur eingehen. „Große Geschichte wird dann geschrieben“, schrieb E.H. Carr, „wenn die Einsicht des Historikers in die Gegenwartsprobleme seine Vision der Vergangenheit erhellt.“ Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis, um Wadims Arbeiten zu verstehen. Es war Wadims Beschäftigung mit den Problemen seiner eigenen Zeit, seine Sorge um die Zukunft der Menschheit, die ihn trieben, die Vergangenheit zu studieren, zu analysieren und zu erklären. Wadims intensive Beschäftigung mit dem Problem der historischen Wahrheit entsprang nicht einfach seiner moralischen Überzeugung. Vielmehr war sie das Ergebnis einer tiefen Einsicht in das große Problem der Epoche, in der er lebte: Er sah den allgegenwärtigen Verlust einer gesellschaftlichen Perspektive, den Niedergang des Klassenbewusstseins, die alles durchdringende politische Verwirrung und Benommenheit des öffentlichen Bewusstseins als den Preis für Jahrzehnte stalinistischer Lügen und Fälschungen. Die Zerstörung von historischem Bewusstsein hat ein verwirrtes und desorientiertes Volk hinterlassen, das nicht in der Lage ist, den Charakter der gesellschaftlichen und politischen Probleme zu verstehen, mit denen es konfrontiert ist, und eine progressive Lösung der Probleme seiner Gesellschaft zu finden.

Welche Aufgabe hatte sich Wadim im letzten Jahrzehnt seines Lebens gestellt? Es ging ihm darum, die groben Fälschungen der Rolle Trotzkis in der sowjetischen Geschichte gerade zu rücken; der Lüge entgegenzutreten, der Stalinismus sei das notwendige und organische Produkt des Marxismus und der Oktoberrevolution; die Behauptung zu widerlegen, dass es in der UdSSR keine Alternative zum Stalinismus gegeben habe. In Diskussionen und in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale entwickelte Wadim seine Interpretation der stalinistischen Säuberungen der dreißiger Jahre als einer Form politischen Völkermords gegen die Repräsentanten marxistischer Politik und Kultur in der sowjetischen Arbeiterklasse und Intelligenz. Wadim interpretierte den Terror der dreißiger Jahre als eine Art Bürgerkrieg Stalins und seiner Handlanger (Molotow, Kaganowitsch, Woroschilow, Beria, Jeschow, Mikojan u.a.) gegen eine unterdrückte, aber immer noch mächtige sozialistische Opposition, deren herausragende Stimme die von Leo Dawidowitsch Trotzki war.

Dieser historischen Analyse lag eine tiefe philosophische Einsicht zugrunde. Wadim betonte, dass das Hauptmotiv, das den mörderischen Charakter des stalinistischen Regimes bestimmte, das Streben nach gesellschaftlichen Privilegien war: die Aneignung materieller Vorteile durch Wenige auf Kosten der Vielen. Die Gesellschaftspolitik der Bürokratie, die in den Verbrechen Stalins ihren Ausdruck fand, war die Förderung und Verteidigung von sozialer Ungleichheit. Genau dies war der grundlegende Unterschied zwischen Bolschewismus und Stalinismus: Das historische Ziel des ersteren war die Erreichung sozialer Gleichheit; das Ziel des letzteren war der Schutz individueller Privilegien. Wadim schrieb: „Stalins Gier nach materiellen Dingen, sein Jammern nach grenzenlosem Luxus im täglichen Leben, wurden an seine Nachfolger bis hin zu Gorbatschow weitergegeben, die, anders als die Alte Garde der Bolschewisten, nicht bereit waren, die Probleme und die Entbehrungen des täglichen Lebens mit dem Volk zu teilen.“

Im Zentrum von Wadims Geschichtsphilosophie stand die unerschütterliche Überzeugung von der ontologischen Gültigkeit objektiver Wahrheit. Die Anerkennung der Wahrheit als Übereinstimmung des subjektiven Denkens mit den objektiven Eigenschaften und Prozessen des gesellschaftlichen Seins ist die wesentliche Grundlage wissenschaftlichen Geschichtsbewusstseins. Dieses Axiom muss nicht nur Grundlage des Studiums der Geschichte der UdSSR sein. Es geht hier um ein wahrhaft internationales Problem: um das Verständnis der historischen Erfahrungen und Lehren des gesamten 20. Jahrhunderts. Nicht nur in Russland verdient diese Frage Aufmerksamkeit.

Mit meinen Bemerkungen über den beklagenswerten Zustand der post-sowjetischen Gesellschaft wollte ich nicht den Eindruck erwecken, dass in Amerika und Europa eine intellektuelle Blüte zu verzeichnen wäre. Jenseits der Grenzen Russlands ist die Lage nicht weniger schlimm. In unterschiedlichen Formen und in unterschiedlichem Ausmaß entdeckt man auf der ganzen Welt die gleiche Desorientierung, Verwirrung und Ignoranz. Wie in Russland ist die Quelle dieser Desorientierung die Unfähigkeit, die historischen Ereignisse und Lehren zu verstehen, aus denen heraus sich die Gegenwart entwickelt hat. Wie aber können die Lehren der Vergangenheit aufgenommen und verarbeitet werden, wenn schon die geschichtlichen Fakten – besonders die Fakten, welche die Oktoberrevolution und die Zeit danach betreffen – verborgen und verfälscht sind? Aus diesem Grund ist das Werk von Wadim Rogowin von weltweiter Bedeutung, und aus diesem Grund spricht es ein internationales Publikum an.

Es gibt geschichtliche Perioden, in denen revolutionäre gesellschaftliche Umwälzungen alte Barrieren niederreißen und den Weg für große Fortschritte auf jedem Gebiet der menschlichen Kultur freimachen. In der Vorbereitungsperiode solcher Umwälzungen treten die Genies auf, die als Sprecher der neuen Zeit fungieren. Sie verstärken alle progressiven Impulse ihrer Zeit und geben ihnen die tiefste, universellste und zeitloseste Form.

Aber es gibt andere, schwierigere und schmerzlichere Perioden der Geschichte, in denen kreative Genies in Isolation und Opposition zu arbeiten gezwungen sind. Die herausragenden Figuren einer solchen Epoche sind nicht Männer und Frauen ihrer Zeit, sondern Männer und Frauen gegen ihre Zeit. In diesem Sinne gibt es eine Parallele zwischen dem Leben Trotzkis und dem Leben Rogowins. Wäre Trotzki 1923 gestorben, wäre er wahrscheinlich als einer der großen Führer der aufblühenden russischen Revolution in die Geschichte eingegangen. Aber es sind die Errungenschaften der letzten 17 Jahre seines Lebens, von 1923 bis 1940 – sein unnachgiebiger Kampf gegen den Verrat des Stalinismus an der Weltrevolution – die ihm die historische Unsterblichkeit als wichtigster revolutionärer Denker und Führer des 20. Jahrhunderts (und vielleicht sogar des 21.) sichern.

Wadims Größe, wie die Trotzkis, zeigte sich in seiner politischen, intellektuellen und moralischen Opposition: in seiner mutigen, prinzipienfesten und unermüdlichen Treue zur historischen Wahrheit in einer Umgebung, die von Jahrzehnten der Lügen, des Zynismus, der Heuchelei und der Feigheit verdorben war. In Opposition zu der Zeit, in der er lebte, schuf Wadim Rogowin sieben Bände, die als moralische und intellektuelle Meilensteine der Rekonstruktion des revolutionären Erbes der Menschheit in die Weltliteratur eingehen werden.

Der Titel des siebten Bands von Wadims Buch lautet „Das Ende ist der Anfang“. Dieser Titel könnte auch als passende Grabinschrift für Wadim selbst dienen. Nur seine physische Hülle hat uns am 18. September 1998 verlassen. Was in Wadims Leben und Werk unsterblich ist, lebt in uns weiter und gewinnt mit jedem Tag an Stärke.

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Anmerkung der Redaktion: In der englischen Fassung gibt es eine zweite Würdigung David North‘ für den großen Historiker, die er am 12. Mai 1997 zu seinem 60. Geburtstag in Moskau hielt.

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