3.000 Beschäftigte des öffentlichen Dienstes protestieren in Den Haag

Erneut protestierten Lehrer, Pflegekräfte und weitere Beschäftigte des öffentlichen Dienstes am Dienstagabend im niederländischen Den Haag gegen die Kürzungen im öffentlichen Sektor. Seitdem die liberal-konservative Regierung von Mark Rutte (VVD) angekündigt hat, die Dividendensteuer abzuschaffen, wächst die Wut über die offensichtliche soziale Umverteilung. Diesmal kamen etwa 3.000 Menschen zu einem Protestmarsch durch die Innenstadt des Regierungssitzes.

Die Auftaktkundgebung in Den Haag

Aufgerufen hatte ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Aktionsgruppen der Lehrer und anderer Organisationen. Die Wut über die unerträgliche Arbeitsbelastung im öffentlichen Dienst und Erziehungsbereich, Personalmangel, niedrige Gehälter, vor allem aber die geplante Abschaffung der Dividendensteuer, hätte mehr Teilnehmer erwarten lassen. Doch die Organisatoren hatten alles dafür getan, die Proteste möglichst klein zu halten.

Der sozialdemokratische Dachverband FNV hatte lange gezögert, überhaupt eine Demonstration anzumelden. Einen Streik im öffentlichen Dienst lehnten die Gewerkschaften strikt ab. Schon im Vorfeld des Protests am Dienstagabend war der Verzicht auf einen Streik und die Beschränkung auf einen abendlichen Protestmarsch in den sozialen Medien von Teilnehmern scharf kritisiert worden.

Mitglieder der Sozialitischen Gleichheitspartei (SGP) und niederländische Unterstützer des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) verteilten ein Statement der Europäischen Redaktion der WSWS. Es ruft zum Aufbau unabhängiger Aktionskomitees auf und erklärt, dass der Kampf gegen den sozialen Kahlschlag im Öffentlichen Dienst eine sozialistische Perspektive und den Aufbau einer Sektion des IKVI auch in den Niederlanden erfordert.

Unter Arbeitern stieß der Aufruf auf große Resonanz. Die Diskussionen, die Reporter der WSWS führten, zeigten die enorme Wut über die Arbeitsbedingungen, die Regierung und deren unsoziale Politik. Viele Arbeiter und Jugendlichen suchen nach einer politischen Perspektive, um die soziale Konterrevolution, die de facto auch von den offiziellen Oppositionsparteien und den Gewerkschaften unterstützt wird, zu stoppen.

Mart

Mart arbeitet in der Hochschulbildung. „Seit zehn Jahren kürzen sie im Bildungssektor und nun wollen sie die Dividendensteuer abschaffen“, erklärt er. „Die zwei Milliarden Euro, die nun die Banken und Konzerne jährlich erlassen bekommen, könnten besser in Bildung und Gesundheit investiert werden. Eigentlich wird seitdem ich geboren bin, in den 1980er Jahren, ständig gekürzt. Deshalb bin ich hier.“ Er hofft, dass die anhaltenden Proteste die Regierung zu einer Änderung dieser Politik bringen werden, ist jedoch skeptisch. „Die Gewerkschaften verhandeln und verhandeln, aber der letzte Abschluss ist kaum eine Verbesserung.“

Ben ist Maurer und wohnt an der deutsch-niederländischen Grenze. Der Vater von zwei 14- und 18-jährigen Teenagern war weit über hundert Kilometer gefahren, um an der Demonstration teilzunehmen. Eine Lungenentzündung kostete ihn den Job. Nun ist er gezwungen über Zeitarbeit wieder in seinen erlernten Beruf einzusteigen. Sein Einkommen sank um ein Drittel. „Dem Bausektor geht es gut, wir sollten also eigentlich alle in der Lage sein, ein bisschen mehr Geld zu verdienen“, sagt er. Das gehe aber über Zeitarbeit nicht, in der er schlecht verdient. Gerade deshalb – wegen der niedrigen Löhne trotz boomender Bauwirtschaft – war er zur Demonstration gegen die Abschaffung der Dividendensteuer gekommen.

Ben

Er glaubt aber nicht, dass durch Proteste wie diese eine Änderung der Regierungspolitik zu erreichen sei. „Es müsste viel härtere Aktionen und Streiks geben. Ich nehme hier heute Abend zwar teil, aber es sollten wirkliche Streiks organisiert werden.“

Erwin und Judith arbeiten im Gesundheitssektor. „In den letzten Jahren gab es immer mehr zu tun, weniger Personal muss jetzt noch mehr arbeiten und das für weniger Geld. Viele meiner Freunde haben ihren Job quittiert, weil die schönen Dinge des Jobs wie die Betreuung, weshalb wir ja eigentlich diese Berufe ausgewählt hatten, nicht mehr geleistet werden können“, berichtet Judith.„Wir haben keine Zeit mehr, zum Beispiel für Spaziergänge oder so etwas. Wir haben in unserer täglichen Arbeit mit Administration, Dokumentation und dergleichen alle Hände voll zu tun. Dafür wird die Betreuung nun von anderen Firmen übernommen, deren Mitarbeiter schlechter bezahlt werden. Die Betreuung wird so ausgegliedert und privatisiert.“

Erwin ergänzt: „Die Kürzungen im Gesundheitsbereich haben somit ein Geschäftsmodell hervorgebracht, an dem sich andere bereichern.“ Zudem gebe es zwar immer weniger Pflegepersonal, aber dafür immer mehr Manager. „Von jedem Euro, der in den Gesundheitssektor kommt, geht ein immer größerer Anteil an Manager, anstatt ins Pflege- und Krankenpersonal und damit an diejenigen, die die Hilfe benötigen“.

In der Diskussion über die politischen Ursachen dieser Entwicklung sagt Judith: „Die Gewerkschaften sitzen seit Jahren mit den Unternehmen an einem Tisch und verhandeln. Aber es wird nichts besser.“ Erwin fügt hinzu: „Die Gewerkschaften sind zu sehr Teil des Systems.“ Die gesamte Gesellschaft gehe in die falsche Richtung. „Eigentlich sollte es Aufgabe der Gesellschaft sein, ihre Alten und Kranken zu pflegen“, meint Judith. „Doch denjenigen, die Hilfe benötigen, wird sie vorenthalten, dafür erhalten Konzerne jegliche Hilfe und Unterstützung, die sie benötigen.“ „Wir bräuchten etwas mehr Sozialismus“, meint Erwin.

„Als die Banken Geld brauchten, haben sie Milliarden bekommen“, ergänzt Judith, „aber wenn der Gesundheitssektor Geld benötigt, sagen sie uns, es sei kein Geld da. Das Problem ist, dass die Politiker nicht die Interessen der Bevölkerung vertreten, sondern die der Banken und Konzerne“.

Erwin hatte in der Vergangenheit bei Wahlen für die Sozialistische Partei gestimmt. Aber das sei vorbei. „Sie sind mir zu engstirnig und nationalistisch. In den letzten Jahren sind sie gegenüber Ausländern immer feindlicher geworden. Sie sind nach rechts gegangen.“

Sophie und Freek

Sophie und Freek, Altenpfleger im ambulanten Pflegedienst aus Utrecht haben gerade ihre Ausbildung abgeschlossen. Sie berichten ebenfalls vom ansteigenden Personalmangel. „Deswegen können wir viele Menschen gar nicht mehr aufnehmen und müssen ihnen praktisch die Pflege verweigern“, schildert Freek. „An meinem Arbeitsplatz muss ich praktisch jeden Tag vier bis fünf Leute wegschicken, weil wir zu wenig Personal haben.“

„Es macht die Arbeit einfach schwer“, fährt Sophie fort, „wenn wir den Patienten ständig sagen müssen: ‚Nein, tut mir leid, das können wir leider nicht machen.‘ oder ‚Dafür habe ich leider nicht die Zeit.‘ oder ‚Unsere Einrichtung hat leider keinen Platz für Sie.‘ Die Menschen abzulehnen, weil es einfach kein Personal gibt… das ist, was mich bei meiner Arbeit am meisten belastet.“

Die Behauptung, es sei kein Geld für Alten- und Krankenpflege da, lehnen sie ab. „Es gibt immer Geld! Es ist nur die Frage, wo es hinfließt“, sagt Sophie. Es werde nun weitere sich lang hinziehende Verhandlungen zwischen Regierung und Gewerkschaften geben, glaubt Freek. „Und es wird vielleicht Veränderungen geben. Aber das werden nicht die Veränderungen sein, die wir wollen.“

Arbeiter seien „mit politischen Fragen konfrontiert“ und „die ganze Situation nähert sich einem Punkt, an dem es einen Bruch geben wird“, sagt Sophie. „Man merkt diese Spannung wirklich überall, auch bei der täglichen Arbeit. Eine Kollegin von mir ist vor ein paar Monaten in Rente gegangen und sie sagte mir, dass sie in den 45 Jahren, in denen sie gearbeitet hatte, noch nie eine derartige Entwicklung gesehen hat. Noch nie sei es so schlimm gewesen. Viele von denen, die heute hier mitlaufen, sehen diesen Wendepunkt, sie sehen, dass jetzt alles den Bach runter geht.“

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