Fake News im Spiegel

Der Spiegel hat in den letzten Jahren zahlreiche Reportagen veröffentlicht, die frei erfunden und erlogen waren. Das musste die Redaktion in der letzten Woche zugeben.

Claas Relotius, der Autor der gefälschten Artikel, habe „in großem Umfang eigene Geschichten manipuliert“ und „schön gemachte Märchen erzählt“, heißt es in der jüngsten Ausgabe des Nachrichtenmagazins. „Wahrheit und Lüge gehen in seinen Texten durcheinander.“ Einige seiner Geschichten seien „komplett erfunden, und wieder andere wenigstens aufgehübscht mit frisierten Zitaten und sonstiger Tatsachenfantasie“.

Der Spiegel hat nach eigenen Angaben 55 Originaltexte von Relotius veröffentlicht. „Viele davon sind ganz oder teilweise erfunden, verfälscht, gefälscht.“ Der 1985 geborene Journalist hatte seit sieben Jahren für den Spiegel gearbeitet, die letzten eineinhalb als fest angestellter Redakteur. Außerdem hat er Artikel für zahlreiche andere Publikationen verfasst, darunter Cicero, die taz, die Welt, das SZ-Magazin, die Weltwoche, ZEIT online, ZEIT Wissen, die Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und die Neue Zürcher Zeitung am Sonntag.

Der 33-Jährige Relotius galt als Journalistenstar. Er wurde für seine Reportagen mit zahlreichen Preisen überhäuft: Dem Peter Scholl-Latour-Preis, dem Konrad-Duden-, dem Kindernothilfe-, dem Katholischen und dem Coburger Medienpreis. CNN kürte ihn zum „Journalist of the Year“. Außerdem erhielt er den Reemtsma Liberty Award, den European Press Prize und wurde auf der Forbes-Liste der „30 under 30 – Europe: Media“ aufgelistet.

Der Spiegel reagiert auf die Enthüllung, dass er massenhaft Fake News verbreitet hat, mit einer Mischung aus Schuldbekenntnis, Selbstmitleid und Ablenkungsmanövern. Die Redaktion stellt sich als unschuldiges Opfer eines Hochstaplers dar, um dann gründliche Aufklärung zu versprechen.

„Dieses Haus ist erschüttert. Uns ist das Schlimmste passiert, was einer Redaktion passieren kann“, heißt es in der „Hausmitteilung“ der jüngsten Ausgabe des Spiegels, die dem Thema 24 Textseiten und das Titelbild widmet. „Wir werden jeden Stein umdrehen und haben eine Kommission ins Leben gerufen, die den Fall Relotius, aber auch alles andere, was vielleicht noch kommen könnte, gründlich durchchecken wird.“

Tatsächlich waren die Fälschungen von Relotius nicht schwer zu durchschauen. Als Spiegel-Mitarbeiter Juan Moreno, dessen hartnäckige Recherchen den Fälscher schließlich entlarvten, die Spiegel-Redaktion warnte, stieß er auf eine geschlossene Mauer der Ablehnung.

„Im Streit mit und über Relotius riskiert Moreno seinen eigenen Job, zwischenzeitlich recherchiert er dem Kollegen, verzweifelt, auf eigene Kosten hinterher,“ muss Chefredakteur Ullrich Fichtner zugeben. „Drei, vier Wochen lang geht Moreno durch die Hölle, weil Kolleginnen und Vorgesetzte in Hamburg seine Vorwürfe anfangs gar nicht glauben können.“

Moreno hatte schon lange, bevor Relotius beim Spiegel anfing, Misstrauen geschöpft. Er hatte einen Artikel von ihm über „den angeblich ersten Steuerberater im sozialistischen Kuba“ gelesen, der behauptete, Schuhputzer stünden Schlange, um sich vom Steuerberater beraten zu lassen. „Also noch mal, Schuhputzer haben Steuergestaltungsfragen, und das auf Kuba!“, schildert Moreno seine Reaktion und folgert: „Wer heute einen Claas-Relotius-Text liest, wird sich fragen, wie dämlich der Spiegel und all die Preisjurys gewesen sein müssen, um den Unfug zu glauben.“

Das schweizerische Magazin NZZ folio hatte Relotius bereits vor vier Jahren die Zusammenarbeit aufgekündigt, nachdem in einer von ihm geschriebenen Reportage über Finnland bizarre Widersprüche aufgetaucht waren.

Man kann aus all dem nur den Schluss ziehen, dass der Spiegel, die anderen Zeitungen und die Preisjurys Relotius‘ Fälschungen veröffentlichten und prämierten, weil er das schrieb, was sie hören wollten. Seine Lügen passten in ihr offizielles Narrativ, sie bestärkten die Propaganda der herrschenden Eliten.

Josef Joffe, langjähriger Mitherausgeber der Zeit und selbst bekannt für seine üblen Propagandaartikel, hat dies in einem Beitrag für Politico offen eingestanden. Er schreibt: „Im Fall Relotius wirkte wohl eine weitere, tückischere Dynamik: Die unausgesprochenen Vorstellungen der Herausgeber, die die Reportagen in Auftrag gaben, und ihre Erwartung, dass sie das bestätigen, was sie bereits für die Wahrheit halten.“

Ein Blick auf einige von Relotius‘ Reportagen, die laut Spiegel auf Fälschungen beruhen, bestätigen dies. Sie sind faktisch betrachtet so unwahrscheinlich wie Grimm’s Märchen, aber passen hervorragend in die offizielle außenpolitische und militaristische Propaganda.

Im Februar 2017 veröffentlichte der Spiegel „Löwenjungen“, eine Reportage von Relotius über zwei Brüder im Alter von 12 und 13 Jahren, die vom „Islamischen Staat“ verschleppt, gefoltert, umerzogen und mit Sprengstoffwesten nach Kirkuk geschickt werden. Obwohl der Text laut Spiegel „ein besonders abstoßendes Beispiel für Relotius‘ Fälschungen“ ist, schwärmt er weiter darüber.

„In solchen Texten zieht sich die Gegenwart einmal auf ein lesbares Format zusammen, große Linien der Zeitgeschichte werden fassbar und schlagartig wird das Große ganz menschlich verständlich“, schreibt Chefredakteur Ullrich Fichtner in der aktuellen Ausgabe. „Wer als Reporter über solches Material verfügt, und wer Talent hat für Dramaturgie, kann daraus Gold spinnen wie im Märchen. Relotius hat das Talent. Das Material erfindet er. Er legt eine der besten Geschichten der vergangenen Jahre vor, ein Meisterwerk.“ Er habe „alle geblendet. Chefredakteure, Ressortleiter, Dokumentare, Kollegen, Journalistenschüler, Freundinnen und Freunde. In diversen Jurys haben sich Bischöfe und Unternehmer, Menschenrechtler und Medienschaffende, Politiker und Mäzene verzückt über seine Texte gebeugt, und zu Recht: Sie waren oft groß und schön.“

Wäre der Spiegel ehrlich, müsste er zugeben, dass die Bischöfe und Unternehmer, Menschenrechtler und Medienschaffende, Politiker und Mäzene über Relotius‘ Text „verzückt“ waren, weil er nahtlos in die offizielle Kriegspropaganda passt, die versucht, die militärischen Interventionen und Verbrechen der imperialistischen Mächte im Irak und Syrien als Kampf für Demokratie und Menschenrechte zu verbrämen.

Relotius‘ Text ist nicht nur auf empirischer Ebene falsch, weil er Ereignisse, Personen und Dialoge frei erfindet, er verfälscht auch den Kontext, die Hintergründe und die Ursachen der Katastrophe im Nahen Osten, die Millionen Menschen in den Tod oder die Flucht getrieben haben.

In dieser Hinsicht bleibt Relotius ein Amateur. Seine Entlarvung ist für den Spiegel und die anderen Medien deshalb so peinlich, weil er mit plumpen Fälschungen das getan hat, was sie mit subtileren Mitteln machen. In einer Zeit, in der linke und sozialistische Medien regelmäßig als Fake News denunziert und im Internet zensiert werden, verstärkt der Spiegel-Skandal bei vielen Menschen die Einsicht, dass sie von den offiziellen Meiden getäuscht, manipuliert und hinters Licht geführt werden.

Ein weiteres Beispiel, wie Relotius offiziell geschürte Vorurteile bedient hat, ist seine im März 2017 vom Spiegel veröffentlichte Reportage „In einer kleinen Stadt“. Er stellt darin die Einwohner von Fergus Falls in Minnesota, die mehrheitlich für Donald Trump gestimmt haben, als primitive Hinterwäldler dar. Die Geschichte ist – völlig unabhängig von der Spiegel-Redaktion – von zwei Bewohnern der Kleinstadt in anderthalbjähriger Kleinarbeit nachrecherchiert und Punkt für Punkt als Fälschung entlarvt worden.

Auch hier dient die Fälschung Propagandazwecken. Die komplexe Realität – insbesondere die unsoziale und militaristische Politik von Barack Obama und Hillary Clinton, ohne die Trumps Wahlsieg nicht denkbar gewesen wäre – wird ausgeblendet. Stattdessen werden Trumps Wähler pauschal als rückständige, reaktionäre Masse dargestellt.

Relotius hat nicht zufällig beim Spiegel eine journalistische Heimat gefunden. Das Blatt ist immer wieder mit aggressiven Kampagnen im Dienste des deutschen Imperialismus in Erscheinung getreten, die sich als Reportagen tarnten. So veröffentlichte Dirk Kurbjuweit, mittlerweile stellvertretender Chefredakteur, im Februar 2014 den Artikel „Der Wandel der Vergangenheit“, der die deutschen Verbrechen im Ersten und Zweiten Weltkrieg verharmloste, um die Wiederbelebung des deutschen Militarismus zu unterstützen.

Später beteiligte sich der Spiegel an der Kampagne gegen die trotzkistische Jugendorganisation IYSSE, die diesen Artikel – und insbesondere die Aussage des Historikers Jörg Baberowksi: „Hiter war nicht grausam“ – kritisiert hatte. Im Uni-Spiegel und auf Spiegel Online durfte Sebastian Kempkens die IYSSE übel beschimpfen, ohne seine Anschuldigungen auch nur ansatzweise zu belegen. „Gossenjournalismus im Dienst des deutschen Imperialismus“, kommentierten wir damals Kempkens Artikel.

Im Juli 2014 erschien der Spiegel mit einem Titelblatt, das die Kriegshetze gegen Russland anfeuerte. Es forderte in großen Lettern „Stoppt Putin jetzt!“, umgeben von einer Galerie von Privatfotos, die Opfer des über der Ukraine abgeschossenen Flugs MH 17 zeigten. Dabei gibt es bis heute keine schlüssigen Beweise, dass Russland für den Abschuss verantwortlich war.

Soviel zu der jetzt immer wieder aufgestellten Behauptung, der Spiegel sei von Relotius hintergangen worden und sei ansonsten der Wahrheit und dem von Spiegel-Gründer Rudolf Augstein formulierten publizistischen Ideal „Sagen, was ist“ verpflichtet.

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