Berliner Erzieher und Sozialarbeiter streiken für bessere Arbeitsbedingungen

Am Dienstag legten nach Angaben der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) 2.500 Erzieher und Sozialarbeiter in Berlin für einen halben Tag die Arbeit nieder. Die Gewerkschaft hatte den Warnstreik noch vor der ersten Verhandlungsrunde ausgerufen, um ein Ventil für die enorme Wut der Beschäftigten zu öffnen. Tatsächlich arbeiten GEW und Verdi eng mit den drei Berliner Senatsparteien zusammen.

Die Demonstration am Bahnhof Friedrichstraße

Der Streik wurde anlässlich der Tarifverhandlung für den öffentlichen Dienst der Länder ausgerufen, der für alle Landesbeschäftigten gilt. Anders als in anderen Bundesländern fallen in Berlin darunter auch die Erzieher, die andernorts in dem in den Kommunen geltenden TvöD eingruppiert sind und damit bis zu 450 Euro mehr verdienen. Dadurch fehlen selbst nach offiziellen Senatsangaben in Berlin etwa 2000 Erzieher und die Kitas sind chronisch unterbesetzt. Die Gewerkschaften fordern in der Tarifrunde sechs Prozent mehr Lohn, dabei mindestens eine Erhöhung um 200 Euro pro Monat. Die Berliner Erzieher sollen an den TvöD angeglichen werden.

Die Teilnahme am Streik und an den Protesten war weitaus größer, als von der GEW erwartet. Allein 40 bis 50 Kindertagesstätten waren vom Streik betroffen. Auf dem Dorothee-Schlegel-Platz nahe dem Bahnhof Friedrichstraße versammelten sich tausende Streikende, aber auch Eltern mit ihren Kindern, um für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne zu kämpfen. Viele trugen selbst gemalte Transparente. „So schlecht können wir gar nicht arbeiten, wie wir bezahlt werden“, steht auf einem, „Politisches Versagen riskiert Kinderleben“, auf einem anderen.

Egal mit wem man an diesem Dienstagmorgen sprach, schlug einem eine enorme Wut entgegen. Heike, die in einer Kita arbeitet, nachdem sie über Jahre auf prekäre Jobs angewiesen war, hält den eklatanten Personalmangel für das größte Problem. „Teilweise werden ganze Horte von Auszubildenden betreut, die noch gar keinen Abschluss haben“, berichtet sie. Sie selbst sei als Quereinsteigerin einfach ins kalte Wasser geworfen und unzureichend eingearbeitet worden. Die Ausstattung vieler Kitas sei katastrophal. „Ich habe manchmal Angst um meine Gesundheit, wenn ich die Kita betrete“, sagt sie.

Julia

Auch Julia, die sich in berufsbegleitender Ausbildung in einem Hort befindet, beklagt die üblen Arbeitsbedingungen. In ihrem Hort würden 160 Kinder in einem Areal betreut, das eigentlich für 60 Kinder vorgesehen sei. Allein die Lärmbelastung sei unerträglich. „Das ist jeden Tag so wie heute hier“, schreit sie in ein ohrenbetäubendes Trillerpfeifenkonzert vor der Bühne hinein. „Für die Leistung, die wir bringen, ist die Bezahlung einfach schlecht“, resümiert sie.

„Gegen die Unterbesetzung hilft nur bessere Bezahlung“, sagt Jule, die zusammen mit Kita-Kolleginnen zu der Demonstration gekommen ist. „Das wäre besser für die Eltern, die Kinder und für uns.“ Im Moment sei das Personal so knapp, dass viele auch krank zur Arbeit kämen, um die Kollegen nicht im Stich zu lassen, denn Krankheitsvertretung gebe es nicht. „Dann wird man natürlich erst recht krank.“ So komme es, dass nicht selten zwei Erzieher für 40 Krippenkinder zuständig seien und nur von Azubis oder Quereinsteigern unterstützt würden. Ihre Kollegin Solmas arbeitet seit 35 Jahren in der Kita und berichtet, wie die Arbeitsbelastung kontinuierlich zugenommen habe.

Kristin, Maryem, Inga (v.l.n.r.)

Auch eine Gruppe von Sozialarbeiterinnen, die im Jugendamt arbeiten, hält den Personalmangel für das größte Problem. „Wir erhalten 300 Euro weniger als Sozialarbeiter in Brandenburg“, sagt Inga. „Der Kinderschutz ist mittlerweile gefährdet“, fügt ihre Kollegin Kristin hinzu. „Bald haben wir nur noch vier Mitarbeiter auf zehn Stellen.“ Die Lage verschärft sich noch weiter, weil immer mehr Menschen nach Berlin ziehen und damit auch die Zahl der Hilfebedürftigen steigt, aber keine neuen Stellen geschaffen werden.

Auch die Büroräume seien völlig unzureichend. „Die sind nicht einmal barrierefrei“, erklärt Maryem, eine weitere Kollegin. „Wir hatten Fäkalienbakterien in unserem Leitungswasser und dürfen es deshalb nicht mehr trinken“, fügt Kristin hinzu. „Wie sollen wir unter diesen Bedingungen Familien helfen?“

Jule, Kathrin, Solmas und Kolleginnen (v.l.n.r.)

Den Gewerkschaften stehen die meisten Demonstranten angesichts dessen skeptisch bis feindlich gegenüber. „Vor zwei Jahren haben uns die Gewerkschaften erklärt, dass die zwei Prozent mehr Lohn ein großer Erfolg seien“, sagt Jule. „Erst im Nachhinein kam heraus, dass wir dafür auch 24 Minuten pro Tag mehr arbeiten müssen.“ Das hätte ihnen aber niemand gesagt. „Uns wurde gesagt, das wir mehr Lohn bekommen würden, aber das Kleingedruckte haben sie uns verschwiegen.“

Maryem ist vor Jahren aus der Gewerkschaft ausgetreten. „Nach den Verhandlung zum TvöD standen wir schlechter da als vorher“, begründet sie ihren Schritt. Sie erinnert auch an den berüchtigten Waldspaziergang zwischen Verdi-Chef Frank Bsirske und dem Berliner Wirtschaftssenator Harald Wolf im Jahr 2005, der die Weichen für Kürzungen im ganzen öffentlichen Dienst gestellt hat. „Dafür werden die Gewerkschafter gut bezahlt. Bsirske muss sich keine Sorgen um seine Rente machen. Ich rette täglich Menschenleben und muss mir sorgen machen“, sagt Maryem.

Auch in dieser Tarifrunde spielen die Gewerkschaften eine üble Rolle und versuchen jeden ernsthaften Widerstand gegen die Sparpolitik zu unterdrücken. Obwohl die Tarifauseinandersetzung alle öffentlichen Beschäftigungsgruppen betrifft, hat die GEW ganz bewusst nur die Erzieher in den Kitas der Eigenbetriebe, an den staatlichen Schulen und beim Pestalozzi-Fröbel-Haus sowie die Sozialarbeiter in den Jugendämtern zum Streik aufgerufen. Die größere Gewerkschaft Verdi hat den Warnstreik komplett boykottiert und ihre Mitglieder gar nicht zur Arbeitsniederlegung aufgerufen.

Plakat auf der Demonstration

Auf der Kundgebung ließ die GEW Vertreter aller drei Senatsparteien auftreten. Von der Bühne sprachen die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Silke Gebel, der Vorsitzender der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Raed Saleh, und Katrin Seidel von der Linkspartei. Damit bewarb die Gewerkschaft genau die Parteien, mit denen sie seit Jahren zusammenarbeitet, um die Löhne der Beschäftigten zu drücken und das Spardiktat durchzusetzen. SPD, Grüne und Linkspartei haben Berlin zusammen mit den Gewerkschaften zur Hauptstadt der Armut gemacht und Schulen, Kitas und Universitäten kaputt gespart.

Viele Streikende wollen deshalb die Zwangsjacke der Gewerkschaft nicht mehr akzeptieren. „Eigentlich müssten alle öffentlich Beschäftigten zusammenstehen“, sagt Jule gerade in Hinblick darauf, dass auch bei der BVG Tarifverhandlungen begonnen haben. „Wir müssen alle zusammen streiken, wenn wir streiken merkt es ja keiner“, meint auch Sozialarbeiterin Maryem. „Ein Generalstreik wäre angebracht. Dieses ganze kapitalistische System bringt uns nicht weiter“, erklärt die Quereinsteigerin Heike.

Auf die Streiks in der Automobilindustrie im mexikanischen Matamoros angesprochen, die unabhängig von den Gewerkschaften organisiert wurden und von einer internationalistischen Orientierung ausgehen, sagt Maryem, dass sie davon schon gehört habe. „Ich wünschte die gleiche Energie würde hier entstehen. Mehr davon!“, ruft sie „Ich bin sehr beeindruckt. Hut ab!“

Auch Solmas zeigt sich von den unabhängigen Streiks in Matamoros begeistert. „Denen geht es ja sogar noch schlechter als uns, und trotzdem streiken sie ohne Gewerkschaft und damit ohne Streikgeld. Eigentlich müssten wir das hier genauso machen. Verdi ist korrumpiert, die streiken nicht“, sagt sie. „Es ist ein mutiger Schritt, den die Arbeiter in Matamoros tun“, fügt Jule hinzu.

Heike spricht auch die Rechtsentwicklung in Deutschland an, die ihr große Sorgen mache. Die unsicheren Verhältnisse, die durch die Sparpolitik geschaffen würden, böten den Rechten Nährboden. „Die waren nie weg und kommen jetzt wieder hervor“, sagt sie. Deshalb kaufte sie am Infotisch der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) das Buch Warum sind sie wieder da?, das aufzeigt, wie die extreme Rechte angesichts der kapitalistischen Krise von der herrschenden Klasse systematisch aufgebaut wird.

Andy Niklaus auf der Demonstration am Bahnhof Friedrichstraße

Der Kandidat der SGP zu den Europawahlen, Andy Niklaus, war mit einem Team zu der Demonstration gekommen, um über einen gemeinsamen Kampf aller Arbeiter und die Bildung von unabhängigen Aktionskomitees zu diskutieren. Er griff die Erfahrungen und Positionen der Streikenden auf und erklärte, dass Arbeiter in ganz Europa und auf der ganzen Welt mit den gleichen Fragen konfrontiert seien. Deshalb sei es nötig, mit den Gewerkschaften zu brechen und sich international zusammenzuschließen.

Niklaus selbst ist Busfahrer bei der BVG und erläuterte, warum Arbeiter im Kampf gegen die Senatsparteien und die Gewerkschaften eine sozialistische Perspektive benötigen. „Nur wenn die Banken und Konzerne enteignet und unter demokratische Kontrolle gestellt werden, kann die Gesellschaft nach den Bedürfnissen der Menschen umgestaltet werden und können die notwendigen Ressourcen für Bildung und gute Arbeit aufgebracht werden“, sagt er. Die SGP erhielt von den Demonstranten daraufhin zahlreiche Unterstützungsunterschriften für ihre Teilnahme bei den Europawahlen.

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