Lehrermangel und Überlastung untergraben das niederländische Bildungssystem

Eine aktuelle Umfrage beim Lehrpersonal an Grund- und weiterbildenden Schulen sowie den Universitäten legt desaströse Arbeitsbedingungen in den Niederlanden offen.

Mehr als 10.000 befragte Mitglieder der Bildungsgewerkschaft AOb berichten darin über ihre Erfahrungen. Lehrer teilen mit, dass sie krank zur Arbeit gehen, dass sie einen Vertretungskollegen nach dem anderen einarbeiten müssen und dass sie auch deshalb nicht in der Lage sind, die notwendige individuelle Betreuung von Schülern zu gewährleisten. Der Bericht enthält zahlreiche Berichte aus erster Hand zur Lage in den Bildungseinrichtungen.

Der Bericht zeigt, dass die Bildungsqualität wegen des Personalmangels insgesamt gefährdet ist, denn 84 Prozent der Primarschulen beklagen einen Mangel an Vertretungen, und zwischen 20 und 29 Prozent der ausgeschriebenen Stellen blieben 2018 unbesetzt.

Das führt dazu, dass Lehrer weiterarbeiten, obwohl sie krank sind. Ein Lehrer berichtet: „Die Kollegen machen weiter, obwohl sie zur Genesung zu Hause im Bett bleiben sollten. Ich habe kürzlich trotz einer heftigen Schleimbeutelentzündung im Schultergelenk gearbeitet. Ich konnte nicht an die Tafel schreiben, um etwas zu erklären. Erst als es gar nicht mehr ging, blieb ich zu Hause.“

Das ist kein Einzelfall, denn 67 Prozent der Befragten aus den Grundschulen geben an, dass sie immer wieder arbeiten, auch wenn sie krank sind. Ein Lehrer erklärt: „Unser Krankenstand ist hoch, es gibt aber kein Geld für Vertretungen. Alle Ausfälle wegen Krankheit, Weiterbildung, Beurlaubung usw. müssen von der Stammbelegschaft ausgeglichen werden, was strukturelle Überlastung hervorruft. Man fühlt sich sogar im Krankheitsfall oder bei Abwesenheit dafür verantwortlich, wenn die Kollegen nun Überstunden schieben müssen.“

Die Schulbehörden versuchen für solche Ausfälle „kreative“ Lösungen zu finden. Schüler werden aufgeteilt und anderen Klassen zugeordnet (passiert in 82 Prozent der Grundschulen). Ein Lehrer beurteilt das so: „Es geht eigentlich nur noch darum, die Kinder zu beschäftigen. Jede Neuverteilung verunsichert nicht nur die betroffenen Kinder, die aufnehmenden Klassen sehen sich damit ja auch im Lernprozess beeinträchtigt.“

Ausgebildete Lehrer werden durch unausgebildete ersetzt, so berichten 45 Prozent der Befragten an weiterführenden Schulen. Achtunddreißig Prozent erklären, dass Schüler in vielen Fällen einfach zur Erledigung von vorgegebenen Aufgaben in verfügbare Klassenräume geschickt werden. Ein weiterer Lehrer stellt fest: „Qualifiziertes Personal fehlt, unqualifizierte Assistenten ‚sperren die Schüler zusammen‘, wobei vorgegebene Aufgaben erledigt werden, statt die Jugendlichen tatsächlich zu unterrichten.“

Eine zunehmende Anzahl offener Stellen und Schwierigkeiten, Vertretungen zu finden macht die Kinder nervös, was dann zu Unruhe in den Klassenräumen führt. Schüler sitzen wöchentlich drei bis fünf neuen Lehrern gegenüber. In der Untersuchung heißt es: „Die Kinder sind verängstigt, weil sie jeden Tag einen neuen Lehrer bekommen. Es gibt niemanden, der schwächeren Schülern besondere Unterstützung geben kann. Vertretungskräfte sehen sich nicht zu zusätzlicher Unterstützung oder Beratung verpflichtet, das führt zu steigender Unruhe, sie behindert die Schüler und breitet sich auch auf die Nachbarklassen aus.“

Insgesamt berichten 64 Prozent der Primarschulen und 45 Prozent der weiterführenden Schulen von gehäuften Turbulenzen in ihren Klassen.

All das verschärft die Situation derer, die noch weiter unterrichten. Wenn Schüler einer Klasse aufgeteilt werden, werden andere Klassen größer. Das erhöht nicht nur die Arbeitslast ihrer Lehrer, sondern auch die der Aushilfen, der Tutoren und von anderem Schulpersonal.

Schulleiter telefonieren rund um die Uhr, um über Vermittler Vertretungen zu finden, die dann in vielen Fällen entweder nicht qualifiziert sind oder sich noch im Studium befinden.

Aus der Studie: „Die Einarbeitung dieser neuen Mitarbeiter kostet viel Zeit. Außerdem bleiben sie nur kurz. Und dann beginnt diese ganze Einarbeitung von vorn.“

Die Qualität des niederländischen Bildungssystems verschlechtert sich zusehends. Das Bildungsministerium meint dazu, wenn Grundschulen 15% weniger Lehrer einstellen und dafür die Klassen um drei Schüler vergrößern würden, wäre das Problem „gelöst“. In der Studie berichten Lehrer aber wiederholt, dass steigende Klassengrößen ein Kernproblem darstellen und eine Menge Überlastung auslösen. Der Bildungssektor erreicht einen der höchsten Werte an Burnout bei Beschäftigten in den Niederlanden.

Nach der globalen Finanzkrise von 2008 wurden große Beträge an öffentlichen Geldern gestohlen, um Banken zu retten und die Mitwirkung der Niederlande an den US-geführten Kriegen in Afghanistan und dem Nahen Osten zu finanzieren. Bildungsausgaben sind im letzten Jahrzehnt dramatisch gekürzt worden, und viele Lehrer haben seither keine Gehaltssteigerungen erhalten, während die Inflation gestiegen ist. Schlimmer noch, die Steuern auf Güter des täglichen Bedarfs wie z.B. Lebensmittel und Medizin sind zu Beginn dieses Jahres um 50% gestiegen.

Eine ganze Generation junger Schüler leidet unter dem Profitstreben der Herrschenden. In vielen Fällen (d.h., 43 Prozent der Grundschulen und 34 Prozent der weiterführenden Schulen) werden Schüler einfach nach Hause geschickt, weil kein Lehrer da ist, um sie zu unterrichten. Darunter leidet im Grunde die gesamte Arbeiterklasse. Unqualifiziertes Personal unterrichtet immer mehr Klassen zu niedrigeren Löhnen und ohne professionelle Begleitung. Es wird für junge Lehrer, die ihre erste Stelle suchen, immer schwieriger, eine anständige Bezahlung zu erhalten.

Im Jahr 2018 haben rund um die Welt zahlreiche Lehrerstreiks stattgefunden. Jedes Mal waren die Forderungen dieselben: für bessere Löhne und weniger Arbeitsbelastung, gegen die Privatisierung des Bildungswesens. In den USA haben Lehrer in Arizona, Oklahoma und West Virginia gestreikt, nicht nur gegen die staatlichen Arbeitgeber, sondern auch gegen den Willen der Gewerkschaften, die alles taten, um die Streiks zu beenden, und wertlose Vereinbarungen ohne irgendwelche Verbesserungen geschlossen haben.

Das neue Jahr begann mit Protesten und Streiks in Frankreich, Belgien, Deutschland, dem Vereinigten Königreich, den Niederlanden, und Mexiko sowie mit großen Lehrerstreiks in Los Angeles. In Frankreich haben Tausende von Lehrern ihre Solidarität mit ihren Klassengenossen in den USA zum Ausdruck gebracht, indem sie die Proteste der „Rotstift“-Gruppen auf Facebook unterstützten.

2018 hat „PO in Actie“ („PO in Aktion“), eine angebliche „Basisorganisation“, erfolgreich eine große Anzahl an niederländischen Lehrern zu Protestdemonstrationen mobilisiert und die Regierung gezwungen, mehr Gelder für die Bildung bereit zu stellen. Aber die vermehrten Geldmittel im Regierungshaushalt von 2018-2019 stellen keine effektive Hilfe dar. Jährlich werden weitere Milliarden benötigt, um den Bedarf im Bildungsbereich zu decken.

Der äußere Anschein einer „Basisorganisation“ den sich die PO in Actie gibt, sollte jedoch niemanden zu dem Gedanken verleiten, dass sie für die Lehrer kämpfen. Während des letztjährigen Protestmarsches in Den Haag haben WSWS-Anhänger eine Erklärung der europäischen Redaktion der WSWS verteilt, die das Folgende über PO in Actie erklärte: „Der Abschluss hat auch den Charakter der ,in Actie‘-Initiativen offen gelegt. Sie haben den Ausverkauf [Tarifvertrag vom Jahresbeginn 2018] mit ausgehandelt und feiern ihn als Erfolg. Nach getaner Arbeit haben die Wortführer von ,PO in Actie‘, Thijs Roovers und Jan van de Ven, zum 1. Oktober ihren Rückzug angekündigt. Beide repräsentieren nicht die Interessen der einfachen Lehrer, sondern die der etablierten Gewerkschaften und der Regierung. Roovers hat enge Verbindungen zur FNV und zum christlichen Gewerkschaftsdachverband CNV, und Van de Ven ist Mitglied der Regierungspartei D66.“

Die Lehrergewerkschaft AOb hat nun eine „Aktionswoche“ ab 11. März angekündigt, die in einen landesweiten Streik am 15. März münden soll. Die CNV jedoch hält ihre Mitglieder zurück, weil sie gerade noch mit der Regierung verhandelt. Die etablierten Gewerkschaften veranstalten keine Proteste und Streiks für die Lehrer, die sie angeblich repräsentieren, sondern für ihre komfortablen Positionen am Verhandlungstisch. Sie halten die Arbeiter mit ihren „besser-als-nichts“-Ausverkäufen unter Kontrolle, was schnell zurückgedreht werden kann (und wird), wenn sich eine neue Wirtschaftskrise entfaltet. Streiks werden nur dazu genutzt, um Dampf abzulassen.

Weder Regierungen noch Gewerkschaften repräsentieren die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung, der Arbeiterklasse. Der Kampf um Arbeitsplätze, höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen erfordert eine breite und unabhängige Mobilisierung der arbeitenden Menschen auf der Grundlage eines revolutionären, sozialistischen Programms.

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