Berlinale: Zwischen Identitätspolitik und Widerstand gegen Rechtsextremismus

Dies ist der erste einer Reihe von Artikeln zur Berlinale, die noch bis zum 17. Februar 2019 stattfindet.

Mit rund einer halben Million Zuschauern jedes Jahr ist die Berlinale eines der größten internationalen Filmfestivals. Mehr als 400 Filme hat die 69. Berlinale in diesem Jahr im Programm.

Das offizielle Motto in diesem Jahr lautet „Das Private ist politisch“. Es ist die Losung der Studentenbewegung von 1968 und der zweiten Welle des Feminismus, die politische Themen auf höchst subjektive Weise anging. Diese Losung spiegelt sich im Festivalprogramm sehr deutlich wider. Die Retrospektive in diesem Jahr ist ganz Regisseurinnen deutscher Filme der Jahre 1960 bis 1990 gewidmet. Nach den Filmfestivals in Cannes, Venedig, Toronto, Locarno und Sarajevo unterzeichnete der scheidende Festivalleiter Dieter Kosslick am vergangenen Samstag den sogenannten „Gender Parity Pledge“.

Auch wenn die Filmauswahl sehr stark von Fragen des Geschlechts und der Identität bestimmt ist, wurden größere Fragen der Geschichte und Politik nicht ausgeschlossen. So gibt es eine Reihe interessanter Filme, die sich mit dem Flüchtlingselend oder der verbrecherischen Politik des westlichen Imperialismus befassen. Im Film Midnight Traveller nutzen der afghanische Regisseur Hassan Fazili, seine Frau und ihre zwei Töchter, Mobiltelefone, um ihre gefährliche Flucht aus dem vom Krieg heimgesuchten Afghanistan nach Europa sowie ihre Aufenthalte in verschiedenen gefängnisartigen Flüchtlingslagern zu filmen. Einer der für den Goldenen Bären nominierten Filme ist Vice für den Adam McKay (The Big Short, 2015) das Drehbuch geschrieben und Regie geführt hat. Darin handelt es sich um den ehemaligen amerikanischen Vizepräsidenten Dick Cheney. (Eine englischsprachige Besprechung gibt es hier: Vice: A portrait of an American corporate-military gangster)

Das eindeutige Highlight des erstenFestival-Wochenendes war eine Sondervorführung von Roberta Grossmans vielgelobter Dokumentation Who Will Write Our History? [Das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto?] Sie wurde kürzlich auf der World Socialist Web Site besprochen. Der Film stützt sich auf das bemerkenswerte Buch von Samuel Kassow, das vom historischen Archiv des Warschauer Ghettos „Oyneg Shabes“ [Fröhlicher Sabbath] handelt. Es wurde unter Leitung des jüdischen Historikers Emmanuel Ringelblum (1900-1944) angelegt und sammelte Dokumente, um die politischen und kulturellen Traditionen des polnischen Judentums vor der Gefahr der vollständigen Vernichtung durch die Nazis zu bewahren.

Die Tatsache, dass der Festivaldirektor Dieter Kosslick kurzfristig entschieden hat, diesen Film in das Programm aufzunehmen, ist ein Ausdruck des wachsenden Widerstands in Künstlerkreisen gegen die extreme Rechte in Deutschland.

Auf der Pressekonferenz zur Eröffnung des Festivals sprach Kosslick über die Abscheu, die er empfand, als Abgeordnete der Alternative für Deutschland (AfD) im Januar eine Holocaust-Gedenkfeier im Bayerischen Landtag boykottierten. „Alle AfD-Mitglieder, alle Abgeordneten der AfD im Bundestag, werden kostenlos ins Kino dürfen. Von mir persönlich eingeladen. Ich bezahle jedes Ticket,“ sagte er. „Und wenn sie dann noch sagen, das ist ein Fliegenschiss, dann muss ich sagen, sollte vielleicht jemand anderes einschreiten als die Filmemacher.“

Kosslick und die Berlinale haben sich auch die „Erklärung der Vielen“ unterzeichnet und sie auf der offiziellen Website des Festivals veröffentlicht.

Die „Erklärung der Vielen“ war von Künstlern verfasst worden, die besorgt sind über den wachsenden Einfluss der Rechtsextremen auf das kulturelle Leben in Deutschland. Auf einer Pressekonferenz im November letzten Jahres deckten einige prominente Persönlichkeiten des Berliner Kulturlebens Aktivitäten von AfD-Abgeordneten in Landtagen und im Bundestag auf, die versuchen Gelder für Kulturprojekte zu kürzen und Zensur auszuüben, die nicht ihrer rassistischen Ideologie entsprechen. So wurden auf Druck rechter Schläger Konzerte linker Popgruppen abgesagt. Berndt Schmidt, der Intendant des Berliner Musiktheaters Friedrichstadt Palast, berichtete, dass er Hassmails und Bombendrohungen für sein Theater bekommen hat, nachdem er sich gegen die AfD ausgesprochen hatte.

Erst vor wenigen Tagen hielt Marc Jongen, der für die AFD im Kulturausschuss sitzt, im Bundestag eine faschistische Rede, in der er die Verbrechen der Nazis herunterspielte und ihre Opfer verhöhnte. Im der Bundestagsdebatte fühlte sich niemand wirklich herausgefordert durch Jongens wohlbekannte Standpunkte. In seiner Tirade bezog sich Jongen explizit auf den Historiker der Humboldt Universität Jörg Baberowski, der eine wichtige Rolle beim Reinwaschen der Naziverbrechen spielt. In der letzten Sitzung des Kultur- und Medienausschusses des Bundestags behauptete Jongen, dass die einseitige Fokussierung auf NS-Verbrechen aus den „unterschiedlichsten Gründen falsch und schädlich“ sei.

Die „Erklärung der Vielen“ beginnt mit den Verbrechen der Nazis. „Als Aktive der Kulturlandschaft in Deutschland stehen wir nicht über den Dingen, sondern auf einem Boden, von dem aus die größten Staatsverbrechen der Menschheitsgeschichte begangen wurden. In diesem Land wurde schon einmal Kunst als entartet diffamiert und Kultur flächendeckend zu Propagandazwecken missbraucht. Millionen Menschen wurden ermordet oder gingen ins Exil, unter ihnen auch viele Künstler*innen.”

Und weiter: „Der rechte Populismus, der die Kultureinrichtungen als Akteure dieser gesellschaftlichen Vision angreift, steht der Kunst der vielen feindselig gegenüber. Rechte Gruppierungen und Parteien stören Veranstaltungen, wollen in Spielpläne eingreifen, polemisieren gegen die Freiheit der Kunst und arbeiten an einer Renationalisierung der Kultur. Ihr verächtlicher Umgang mit Menschen auf der Flucht, mit engagierten Künstler*innen, mit allen Andersdenkenden verrät, wie sie mit der Gesellschaft umzugehen gedenken, sobald sich die Machtverhältnisse zu ihren Gunsten verändern würden.“

Es folgt eine Verpflichtung „kein Podium für völkisch-nationalistische Propaganda“ zu bieten und „die illegitimen Versuche der Rechtsnationalen“ abzuwehren, „Kulturveranstaltungen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren“. Die Erklärung schließt mit den Worten: „Wir verbinden uns solidarisch mit Menschen, die durch eine rechtsextreme Politik immer weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.“

Die Initiative wurde im November letzten Jahres von 140 Künstlern und Organisationen unterstützt. Seitdem ist die Zahl der unterstützenden Institutionen enorm gewachsen. Zahlreiche Kultureinrichtungen im ganzen Land haben sich ihr angeschlossen. Die Intendanten der meisten großen Theater, Opernhäuser, Bibliotheken und Kulturinstitutionen in Berlin haben sie unterschrieben. Die Unterstützung für die „Erklärung der Vielen“ zeigt, dass es großen Widerstand gegen den zunehmenden Nationalismus und Rechtsextremismus in deutschen Kulturkreisen gibt.

Im Gegensatz zu dieser ermutigenden Entwicklung haben die deutschen Medien den Film Das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto und die deutliche Stellungnahme der Festivalleitung zum Rechtsextremismus kaum erwähnt. Vielmehr dreht sich die Berichterstattung über die Berlinale vor allem um Genderfragen und zahlreiche Artikel heben die Anzahl von Regisseurinnen, Darstellerinnen und Festivalteilnehmerinnen hervor.

Mitglieder der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) verteilten bei der Vorführung von Das Geheimarchiv im Warschauer Ghetto im Kino International am vergangenen Samstag Flugblätter. Darunter eine Besprechung des Films und eine Erklärung zur jüngsten Verhöhnung des Holocaust Gedenkens im Bundestag durch die AfD. Sie bewarben auch das Buch „Warum sind sie wieder da?“ des stellvertretenden SGP-Vorsitzenden Christoph Vandreier. Es weist detailliert nach, wie der Aufstieg der AfD durch Professoren, Medien und Parteien ideologisch und politisch vorbereitet wurde.

Viele Besucher zeigten großes Interesse an den historischen und politischen Fragen und drückten ihre Opposition gegen das Anwachsen des Rechtsextremismus in Deutschland und international aus.

Bernd, ein Berliner Krankenpfleger meinte: „Ich kam hierher, weil ich mich für Geschichte interessiere. Ich bin ein Berliner und die gesamte Familie der Mutter meines Vaters, die Juden waren, wurde im Holocaust vernichtet. Deshalb wollte ich diesen Film sehen. Nur eine kleine Anzahl von Nazis wurde nach dem Krieg in Nürnberg vor Gericht gestellt. Viele andere überlebten und verbreiteten ihre Ideologie im Nachkriegsdeutschland und ihre Ideen leben fort in Leuten wie Bernd Höcke.“ Diesen Personen und ihrer Ideologie muss man entgegentreten. Angst ist ein schlechter Ratgeber.“

Orlando stammt aus Kolumbien und arbeitet als Filmemacher. Er macht überwiegend kurze Werbeclips und kam letzte Woche in Berlin an. „Ich habe von der AfD gehört,“ sagte er. Er sei nicht überrascht, von SGP-Mitgliedern über die faschistische Rede des AfD-Abgeordneten Jongen im Bundestag zu erfahren.

Er sagte: „Das findet nicht nur in Deutschland, sondern überall auf der Welt statt. Das ist genau wie in den 30eer Jahren. Der Kapitalismus ist ein verkommenes System. Es geht nicht mehr um wirkliche Werte. Er propagiert nur die Gier. Das wird immer im Faschismus enden.“

„Es ist unglaublich, wie die Faschisten in Kolumbien wachsen. Sie werden von den USA unterstützt. Der Nazismus wurde von den USA unterstützt, weil sie den Kommunismus bekämpfen und ihn eindämmen wollten. Überall leiden die Menschen. Die Arbeiterklasse wird enteignet und ihrer Rechte beraubt. Kolumbien ist der wichtigste Verbündete der USA in der Offensive gegen Venezuela.“

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