100 Jahre Bauhaus: Von Dessau nach Moskau

Hannes Meyer im Bauhaus

Mit zahlreichen Ausstellungen und Veranstaltungen wird derzeit das 100. Jubiläum des Bauhauses gefeiert, eines der einflussreichsten Zentren für moderne Architektur, Kunst und Design im 20. Jahrhundert, das nach dem verheerenden Ersten Weltkrieg junge Menschen aus ganz Europa anzog und inspirierte.[1] Dabei wird ein Kapitel weitgehend ausgeblendet. Während das traurige Ende der berühmten Schule durch den Nationalsozialismus und das Weiterwirken von Walter Gropius, Mies van der Rohe und Joseph und Anni Albers in den USA immer wieder thematisiert werden, findet das Schicksal der Bauhäusler, die in die Sowjetunion gingen, kaum Erwähnung. Licht in dieses Dunkel brachte 2016 das Buch „Das rote Bauhaus“ der Architektin und Architekturhistorikerin Ursula Muscheler.[2]

Auch die Rolle von Hannes Meyer, dem Nachfolger von Gropius als Direktor der berühmten Schule, wird in der Bauhaus-Literatur nur selten ausführlich dargestellt. In den meisten Bauhausdarstellungen wird Meyer nur mit zwei, drei Sätzen erwähnt. Dabei hat Meyer, als er die Direktion übernahm, die Schule in technischer, sozialer und politischer Hinsicht gründlich reformiert. Eine etwas ausführlichere Beschreibung seiner Reformen und seiner Tätigkeit lieferte Magdalena Droste 2002 in ihrem Bauhausbuch.[3] Auch nachdem 1965 die erste Biographie von Meyer erschienen war, war dieser fast wieder in Vergessenheit geraten.[4]

1967 erschien ein Artikel von Hermann Funke in der Zeit (damals noch eine linksliberale Zeitung). Funke verwies auf die politischen Hintergründe, die der Anerkennung Meyers im Wege standen: „Das Schicksal Hannes Meyers ist nicht allein ein Familienskandal [gemeint sind Auseinandersetzungen innerhalb der Architekturszene], sondern ein Stückchen der unsäglich verpfuschten deutschen Geschichte. Der Dreck im Bauhaus-Nest ist der Dreck in unserem Nest. Und das Stück geht weiter.“ Damit spielt Funke auf den Antikommunismus der Zeit des Kalten Kriegs an, in der jeder, der sich zum Kommunismus bekannte, ganz gleich, welche Verdienste er sonst haben mochte, verdammt und möglichst totgeschwiegen wurde.

Daher ist es verdienstvoll, dass Ursula Muscheler sich der Geschichte Meyers, dieses Vertreters des Neuen Bauens, und seiner gleichgesinnten Kollegen widmet. Viele von ihnen waren dem Bauhaus und seinen Ideen verbunden und gingen Ende der 1920er und 30er Jahre in die Sowjetunion. Sie beschreibt die unsäglichen Mühen ihres Schaffens und ihres Scheiterns dort, auch wenn nicht alle von ihnen in Gulags landeten und das Abenteuer mit dem Leben bezahlen mussten.

Wer war Hannes Meyer?

Hannes Meyer um 1940

Gropius hatte 1928 die Leitung des Bauhauses niedergelegt, weil er sich wieder stärker eigenen Bauprojekten zuwenden wollte. Sein Nachfolger wurde der Schweizer Architekt Hannes Meyer. Diesem ging es vor allem um die Frage, wie gut gestaltete Produkte und Bauten so entwickelt werden können, dass sie für alle und nicht nur für die Eliten erschwinglich sind.

Der 1889 in Basel geborene Hannes Meyer war früh Halbweise geworden und in einem Waisenhaus aufgewachsen. Nach der Schule absolvierte er eine Lehre als Maurer, Steinmetz und ließ sich als Bauzeichner ausbilden. Nach dem Besuch der Baseler Gewerbeschule war er in verschiedenen Berliner Architekturbüros tätig und belegte Abend-Kurse an der Kunstgewerbeschule. Er unternahm Reisen in die Niederlande und nach England, wo er den englischen Städtebau und besonders die damals neuen Gartenstädte studierte, in denen er eine Chance zur Bewältigung der durch die Industrialisierung heraufbeschworenen Probleme der Arbeiterklasse sah. Er engagierte sich in der Schweizer Genossenschaftsbewegung.

Ab 1916 arbeitete er in Essen für die Krupp‘sche Bauverwaltung als Siedlungsplaner. Unter anderem beteiligte er sich an einem Entwurf für die Arbeitersiedlung der Germania Werft in Kiel-Gaarden sowie an Bebauungsplänen für Krupp-Siedlungen in Essen, denen er allerdings recht kritisch gegenüberstand.[6]

Blieb Meyers Baustil zunächst noch recht traditionell, so änderte sich dies Mitte der 1920er Jahre. Nach Kontakten mit Le Corbusier und der holländischen De Stijl-Gruppe schloss er sich der Bewegung des Neuen Bauens an. Zu dieser Zeit gehörte er zum Kreis um die Schweizer Architekturzeitschrift ABC Beiträge zum Bauen, für die führende Architekten des Neuen Bauens schrieben, die auch dem Bauhaus verbunden waren – darunter Hans Schmidt, der Niederländer Mart Stam [7] und der russische Konstruktivist El Lissitzky

Gropius wollte 1927 ursprünglich Mart Stam, als Leiter der Architektur ans Bauhaus berufen, dieser sagte jedoch ab und empfahl Meyer für die neu zu besetzende Architekturabteilung. Gropius folgte seinem Rat.

„Volksbedarf statt Luxusbedarf“

Meyer hatte erhebliche Kritik an der Art, wie das Architekturstudium am Bauhaus vor ihm betrieben wurde. So schrieb er über die zum 10-jährigen Jubiläum ausgestellten Arbeiten: „vieles erinnerte mich spontan an dornach – rudolf steiner, also sektenhaft und ästhetisch.“[8] Sein Credo lautete:„Volksbedarf statt Luxusbedarf.“

Die neuen Konzepte, die Meyer im Bauhaus durchsetzte, waren wissenschaftlich fundiert und berücksichtigten Einflussfaktoren wie „1. Sexualleben, 2. Schlafgewohnheiten, 3. Haustiere, 4. Gartenarbeit, 5. persönliche Hygiene, 6. Wetterschutz, 7. Hygiene im Haushalt, 8. Wagenpflege, 9. Kochen, 10. Heizung, 11. Ausrichtung gegenüber der Sonne, 12. Dienstleistungen.“ „Wir untersuchen den Alltag eines jeden, der im Haus lebt, und daraus entsteht das Funktionsdiagramm“, schrieb er 1928.[9] Durch soziologische und biologische Vorträge und Kurse prominenter Persönlichkeiten ließ er das Studium ergänzen. Architektur war für ihn vor allem ein logisch-rationaler Prozess. Auch das Ingenieurwesen führte er am Bauhaus ein. Er prägte dafür die Formel „Funktion × Ökonomie“.

Zu den umfangreichen Reformen Meyers gehörte auch die Einführung von Mitarbeitern in den Werkstätten. Diese arbeiteten dort täglich acht Stunden zusammen mit dem Meister. Diese Studenten brauchten kein Schulgeld zu bezahlen und erhielten einen Lohn, mit dem sie ihren Lebensunterhalt finanzieren konnten. Die Studierenden wurden am Umsatz und den Lizenzen für die Werkstücke und Entwürfe beteiligt. Zu den erfolgreichsten Produkten gehörten außer den Möbeln die Bauhaustapeten.

Schule des ADGB in Bernau

1928 entwarf Meyer zusammen mit Bauhausstudenten die Schule des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes in Bernau bei Berlin. Ein Bau, der bis heute als vorbildlich gilt. Meyer selbst charakterisierte ihn so: „Diese Schule darf mit Recht gelockert erscheinen. Die kürzesten Wege des Zusammenkommens sind nicht durch verkürzte Korridore zu schaffen, sondern durch die Gelegenheit zum freundschaftlichen Sich-ergehen. Das Resultat: Nicht konzentrische Häufung von Baumassen, sondern exzentrische Lockerung der Bauteile.“

Diese 1928 entworfene und bis 1930 gebaute Schule war ein Wettbewerbserfolg. Sein Entwurf basierte auf einer präzisen Analyse der landschaftlichen Gegebenheiten und der verschiedenen, beabsichtigten künftigen Funktionen des Gebäudekomplexes. Das Gebäude ist heute Weltkulturerbe der UNESCO.

Politische Radikalisierung und Polarisierung am Bauhaus

Meyers Neuerungen trafen nicht auf allgemeine Zustimmung, sondern trugen zur Verschärfung der bereits existierenden inneren und äußeren Auseinandersetzungen um die Zukunft des Bauhauses bei. Zu dieser Zeit hatte unter den Studierenden eine politische Radikalisierung eingesetzt. Diese fand allerdings statt, als die Kommunistische Partei bereits vollständig unter Kontrolle der stalinistischen Bürokratie in Moskau stand. Meyer selbst war zwar kein Mitglied der KPD, sondern hing weiterhin den Genossenschaftskonzepten an, aber unter den Studierenden gab es 1930 bereits eine Kommunistische Zelle mit 36 Mitgliedern. Dennoch warf man Meyer von Seiten der Dessauer Politik vor, dass er nicht entschieden genug gegen die kommunistischen Umtriebe vorgehe.

In einem Gespräch mit dem liberalen Dessauer Oberbürgermeister Fritz Hesse und einigen anderen Vertretern der Stadt und des Landes Sachsen-Anhalt hatte Meyer angeblich zugegeben, dass er „philosophisch-marxistisch“ sei. Aber zu seiner fristlosen Entlassung kam es erst, nachdem Bauhausstudenten einen von kommunistischen Arbeitern geführten Bergarbeiterstreik in Mansfeld unterstützt hatten. Auch Meyer hatte privat Geld dafür gespendet. Das war für die Nazis und die rechte Presse ein willkommener Anlass, ihre Hetze zu verschärfen: Für so etwas gebe man am Bauhaus das Geld aus.

Hesse legte Meyer daraufhin den Rücktritt nahe, was dieser ablehnte. Die Studentenschaft stellte sich hinter Meyer: „Hannes Meyer! In einer veralteten Welt, einer professoralen Umgebung, waren Sie jung. Wir wollen mit Ihnen jung bleiben“, hieß es in einem Protestschreiben an die anhaltinische Regierung. Die Meister und Bauhauslehrer unterstützen ihn allerdings mehrheitlich nicht.

So wurde Meyer im August 1930 fristlos entlassen. Allerdings schloss man nach einem Schiedsgerichtsspruch einen Vergleich, und Meyer trat von seinem Amt zurück.

In einem Brief an den Dessauer Oberbürgermeister fasst Meyer die bittere Erfahrung seiner Bauhaustätigkeit zusammen: „Was fand ich bei meiner, Berufung vor? Ein Bauhaus, dessen Leistungsfähigkeit von seinem Ruf um das Mehrfache übertroffen wurde und mit dem eine beispiellose Reklame getrieben wurde …. Überall erdrosselte die Kunst das Leben. So entstand meine tragikomische Situation: Als Bauhausleiter bekämpfte ich den Bauhausstil … So wurde ich von hinten abgekillt. Ausgerechnet während der Bauhausferien und fern von den mir nahestehenden Bauhäuslern. Die Bauhaus-Kamarilla jubelt. Die Dessauer Lokalpresse fällt in ein moralisches Delirium. Vom Eiffelturm stößt der Bauhauskondor Gropius herab und pickt in meine direktoriale Leiche, und an der Adria streckt sich W. Kandinsky beruhigt in den Sand: Es ist vollbracht.“[10]

Meyers Rücktritt war der Anfang vom Ende des Bauhauses Ihm folgte Ludwig Mies van der Rohe als dritter Direktor. Viele Neuerungen Meyers wurden wieder rückgängig gemacht. Der Vorkurs wurde abgeschafft und die Werkstattarbeit reduziert. Der neue Fokus in der Architektur lag auf konstruktiver Logik und räumlicher Freiheit.

Aber auch Mies von der Rohe konnte die Schließung des Bauhauses nicht verhindern, die die Dessauer Stadtversammlung, in der die Nationalsozialisten inzwischen die Mehrheit hatten, am 30. September 1930 beschloss. Er führte es noch für ein weiteres Semester in Berlin-Steglitz als Privatinstitut weiter, bevor er nach vielfachen Fehden mit den Nationalsozialisten am 10. August 1933 in einem Rundschreiben die endgültige Auflösung bekannt gab.

1940, als er in Mexiko im Exil lebte, fiel Meyers Charakterisierung des Bauhauses etwas milder aus. In der Zeitschrift Edificacion bringt er die inneren Widersprüche, unter denen es seiner Auffassung nach litt, auf den Punkt:

„Das Bauhaus war ein ausgesprochenes Kind der deutschen Republik, mit der es das Geburts- und Todesjahr teilte, aber ebenso ausgesprochen war es von Anbeginn ein europäisches, ja internationales Bildungszentrum. 1919 im Wirrsal der Nachkriegszeit von dem Architekten Walter Gropius gegründet zu Weimar, war es in seiner Urform ein typischer Zeuge des damaligen gefühlsbetonten Expressionismus. Denn obwohl es von Anbeginn als ein Ausbildungszentrum für viele Zweige polytechnischer Betätigung bestimmt war, wirkten in seinem Lehrkörper neben zwei Architekten sieben abstrakte Künstler, und darunter Kapazitäten von späterem Weltruf, wie der Amerikaner Lyonel Feininger, der Russe W[ladimir]. Kandinsky, der Deutsche Paul Klee. Der exakte Wissenschaftler fehlte völlig. Unter den Studierenden überwogen Anhänger jeder Art von ‚Lebensreform‘. Lehrer und Studierende wohnten im gemeinsamen Gebäude; man hatte wenig Geld und viel gemeinsame Sorgen. Diese schufen die damals sehr ausgesprochen soziale Einheit des Bauhauses, in der es kaum Standesunterschiede gab. Die gegensätzlichsten Weltanschauungen schlossen unter seinem Dach Brüderschaft als eine Kathedrale des Sozialismus‘.“[11]

Neues Bauen in der Sowjetunion

Hannes Meyer resignierte nach seinem Hinauswurf aus dem Bauhaus nicht. Er wollte um jeden Preis seine Fähigkeiten und sein Engagement für eine neue, nicht vom Kapitalismus dominierte Gesellschaft einsetzen. Aber in vielen deutschen Stadtverwaltungen herrschte infolge der Weltwirtschaftskrise Sparzwang. Zudem wurde der moderne Bau als „bolschewistisch“ verunglimpft. Wo bot sich ihm daher ein neues Betätigungsfeld?

In der jungen Sowjetunion hatten seit der Oktoberrevolution die Avantgardekünstler und Architekten experimentiert, um die neue Gesellschaft, ihre Welt, ihr Gesicht und ihren Alltag nach ästhetischen und gesellschaftlichen Aspekten und den Bedürfnissen der Arbeiterklasse zu gestalten. Sie hatten freundschaftliche Beziehungen zu Künstlern und Meistern in Europa, insbesondere zum Bauhaus.

Anziehungspunkt war u.a. die berühmte Schule WChUTEMAS, die Staatlichen Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten, in denen ähnlich wie im Bauhaus Malerei, Bildhauerei und Architektur in ihrem Zusammenwirken als Verbindung der Schönen Künste mit den sogenannten Produktionskünsten gelehrt wurden. Viele Intellektuelle waren auch Ende der 1920er Jahre noch begeistert von Kunst und Design der russischen Avantgarde, die damals noch Möglichkeiten der Entfaltung fand.

Daher lag es für Meyer und viel andere durchaus nahe, in die Sowjetunion zu gehen und ihre Fähigkeiten in den Dienst des ersten Arbeiterstaats zu stellen, auch wenn Ende der 1920 Jahre Wchutemas und seine Nachfolgeeinrichtungen Wchutein, später WASI (Höheres Architektur- und Bauinstitut), bereits etliche bürokratische „Reformen“ erlebt hatten.

Ende der 1920er Jahre gerieten die sowjetischen Kulturschaffenden immer stärker ins Fadenkreuz der Bürokratie, die jegliche Kreativität fürchtete und zu unterdrücken suchte.

Hannes Mayer hält einen Vortrag am WASI in der Sowjetunion

Die Sowjetunion suchte damals zahlreiche westliche Spezialisten ins Land zu locken, nachdem Stalin den Ersten Fünfjahresplan verabschiedet hatte, der höchst ehrgeizige Pläne für die wirtschaftliche Entwicklung und den Ausbau der Infrastruktur festschrieb. Riesige Bauprojekte wurden geplant. Die Publikationen der Komintern-Parteien im Westen stellten die Aussichten und den gewaltigen Aufbau in dem rosigsten Licht dar. Auch im Westen gezeigte sowjetische Filme warben für den Aufbau. Der Glaube an das Sowjetprojekt und die düsteren Perspektiven der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise brachten damals viele Techniker, Wissenschaftler, Ingenieure und Architekten dazu, ihre Heimatländer zu verlassen und in der Sowjetunion eine sinnvolle, zukunftsweisende Betätigung zu suchen.

Meyer versammelte ein Team Gleichgesinnter um sich, mit denen er nach Moskau reisen und dort arbeiten wollte. Er kündigte seinen Entschluss in der Prawda an: „Ich fahre in die UdSSR, wo eine wirklich proletarische Kultur sich entwickelt, wo der Sozialismus entsteht, wo die Gesellschaft entsteht, für die wir unter den Bedingungen des Kapitalismus gekämpft haben.“[12] Von den scharfen Auseinandersetzungen über kulturelle Fragen in der Sowjetunion nach Lenins Tod, zu denen Leo Trotzki in seinem Buch „Literatur und Revolution“ Stellung bezog, hatten Meyer und die anderen Architekten offenbar keine Kenntnis.

Im Oktober 1930 reise Meyer zusammen mit dem Bauhausabsolventen Bela Scheffler, einem Weißrussen, der russisch sprach, nach Moskau, um die Arbeit vorzubereiten. Sie wurden zunächst freundlich empfangen. Meyer hielt viel besuchte Vorlesungen am WASI.

Später folgte ihnen Meyers Bauhaus-Stoßbrigade Rotfront nach, wie sie sich selbst nannte. Ihr gehörten Rene Mensch, Margarete Mengel, Tibor Weiner, Antonin Urban und Philipp Tolziner an. Die meisten hatten am Bauhaus studiert und mit Meyer u. a. bei den Laubenganghäusern und der Siedlung Törten in Dessau zusammengearbeitet. Diese Brigadeerhielt zunächst die Aufgabe, typisierte Schulgebäude zu entwickeln, die mit ortsüblichen Materialien am Fließband herzustellen waren, später erhielten sie andere Aufgaben im Städtebau.

Zur gleichen Zeit hielten sich bereits andere Vertreter des Neuen Bauens in der Sowjetunion auf. Darunter der renommierte Frankfurter Stadtplaner Ernst May mit zahlreichen Mitarbeitern. Insgesamt waren etwa 1000 ausländische Architekten in der Sowjetunion, die Hälfte von ihnen aus Deutschland. May und sein Team sollten dort Industriestädte aufbauen. Zu seiner Gruppe gehörten u. a. die Architekten Mart Stam und Fred Forbat. Zu der Brigade May gehörte auch Margarete Schütte-Lihotzky, die Erfinderin der berühmten Frankfurter Küche, des Urmodells der modernen Einbauküche. Mart Stam und der Schweizer Hans Schmidt, der ebenfalls in die UdSSR kam, waren Gastdozenten am Bauhaus gewesen.

Arbeits- und Lebensbedingungen der Spezialistenbrigaden

Alle Spezialisten fuhren mit großem Elan und voller Optimismus los. Sie hofften auf freieres Arbeiten in der Sowjetunion, ohne die Anfeindungen, denen das Neue Bauen in Deutschland zunehmend ausgesetzt war. Aber auch in der UdSSR waren sie nicht wirklich willkommen, und ihre Arbeitsbedingungen sollten sich als äußerst hart und beschwerlich herausstellen.

Vom Wirken der Brigaden Meyer und May gibt es nur relativ wenig Bildmaterial. Ursula Muscheler stützt sich in ihrem Buch daher weitgehend auf Briefe, Tagebuchnotizen und Erinnerungen. Aus ihnen gelingt ihr eine lebendige Darstellung der Erlebnisse und der ungeheuren Schwierigkeiten, auf die die Brigaden in der Sowjetunion trafen. Obwohl sie anfänglich noch ziemlich enthusiastisch nach Hause berichteten, änderte sich die Stimmung nur allzu bald. Eine Analyse der genaueren politischen Umstände, auf die dieser Umschwung zurückzuführen war, fehlt bei Muscheler allerdings.

Die Brigade Ernst Mays in der Sowjetunion

Der Zeitpunkt des Eintreffens der Brigade Meyer, wie auch der von May war für ihr Vorhaben nicht eben günstig. Die Sowjetunion wurde von einer tiefen Krise erschüttert. Die Hauptursache waren die verheerenden Auswirkungen des politischen und wirtschaftlichen Zickzackkurses der stalinistischen Bürokratie in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre. Stalin und seine Anhänger hatten die alternativen, von der Linken Opposition erarbeiteten Pläne zur Förderung einer harmonischen Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft verteufelt und zurückgewiesen. Die marxistische Opposition um Leo Trotzki war ins Exil gezwungen worden oder befand sich im Untergrund.

Die halb-marktwirtschaftliche Neue ökonomischen Politik und die damit verbundene Förderung des Großbauerntums wurde von Stalin abrupt beendet und durch Zwangskollektivierung (Entkulakisierung) der Bauernschaft und eine rasante Industrialisierung abgelöst. Das führte zu massiven Problemen, Engpässen und Hungersnot. Hatte die Sowjetbürokratie unter Stalin und Bucharin zunächst eine Entwicklung im Schneckentempo propagiert und die Industrialisierungspläne der Linken Opposition vehement abgelehnt, gab sie jetzt mit dem Fünfjahresplan ein Tempo vor, für das die Voraussetzungen und Ressourcen fehlten.[13]

Damit war das Scheitern der Bauhaus-Experten in der Sowjetunion bereits vorprogrammiert. Sie gerieten mitten in die konterrevolutionäre Offensive, mit der die stalinistische Bürokratie ihre Herrschaft zementierte, und der im großen Terror von 1937/38 schließlich Hunderttausende überzeugte Sozialisten, Kulturschaffende, Ingenieure und viele andere zum Opfer fallen sollten.

Der erste Schauprozess gegen mehr als 50 „Schädlinge“ hatte bereits 1928 stattgefunden. Darin wurden 53 russische Ingenieure, Techniker und Funktionäre sowie drei deutsche Ingenieure der Sabotage angeklagt und verurteilt. Sie wurden zu Sündenböcken für die katastrophale wirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion gemacht.

Im Gefolge des Schachty-Prozesses wurden bis 1931 etwa 7000 Fachleute verhaftet, in Lager deportiert oder unter Hausarrest gestellt. Damit wurden etwa zehn Prozent der technischen Kader dem Produktionsprozess entzogen, was die wirtschaftliche Misere noch verschlimmerte und die Erfüllung des Fünfjahresplans massiv gefährdete. Leo Trotzki und die Mitglieder der Linken Opposition, darunter bekannte Wirtschaftswissenschaftler wie Jewgeni Preobraschenski, wurden politisch verfolgt, eingesperrt oder wie Trotzki verbannt.[14]

1930 kam es zur nächsten Vergeltungsrunde. Weil Stalin die wachsende Unzufriedenheit der Massen über die Lebensmittelengpässe spürte, versuchte er, durch weitere gerichtliche und außergerichtliche Fälschungen den „Volkszorn“ auf angebliche „Schädlinge“ zu lenken. Wieder wurden Ingenieure, Wissenschaftler und Planungsfachleute verhaftet, vor Gericht gestellt und auf Grund erpresster Geständnisse zum Tode verurteilt. Allerdings wurden die Urteile zunächst nicht vollstreckt, sondern in lange Haftstrafen umgewandelt.

Von all diesen Vorgängen hatten die Bauhäusler und auch die anderen Architekten des Neuen Bauens, die nach Moskau gekommen waren, entweder keine Ahnung oder sie ignorierten sie. Selbst nach dem Schachty-Prozess riss der Strom der bereitwilligen Helfer nicht ab. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise nahm er sogar zu.

Ernst May 1931 in der Sowjetunion

Die beiden Brigadeleiter wurden für sowjetische Verhältnisse anfangs gut bezahlt. May bezog in den ersten beiden Jahren ein Gehalt von 1750 Dollar, später sogar von 2250 Dollar, zuzüglich monatlich 2000 Rubel. Die Mitarbeiter erhielten zwischen 50 und 400 Dollar sowie 400 bis 800 Rubel. Das waren, im Vergleich zu ihren sowjetischen Kollegen, fürstliche Gehälter. May und seine Leute wurden privilegiert in Zweizimmerwohnungen in einem Neubau untergebracht, im dem sie sich Küche und Bad mit jeweils einem anderen Paar teilten.

Die Bedingungen für die Brigade Meyer waren nicht ganz so vorteilhaft. Sie musste zwar nicht mit der in Moskau üblichen Wohnsituation vorliebnehmen. In einem Altbau erhielt immerhin jedes Mitglied ein Zimmer für sich allein. Die Einheimischen mussten sich ihre Zimmer sowie Küche und Bad meist mit mehreren Personen teilen.

Meyer hatte ohne Rücksprache mit seinen Mitarbeitern für diese auf hohe Rubelgehälter oder Valuta verzichtet und auf der Gleichstellung mit den sowjetischen Kollegen bestanden. Das hieß 400 Rubel monatlich und vier Wochen Erholungsurlaub. Das war recht bescheiden für einen Arbeitseinsatz von 15 bis 17 Stunden am Tag. Meyer selbst erhielt allerdings sein Gehalt zunächst in Valuta.

Was die Versorgung mit Lebensmitteln anging, waren beide Gruppen gleichgestellt. Im Gegensatz zu ihren sowjetischen Kollegen und den Arbeitern wurden sie anfangs geradezu üppig versorgt. Aber das sollte sich bald ändern.

Erste Enttäuschungen

Alle Brigadisten stürzten sich sofort in die Arbeit. Zeit sich in der Stadt oder der Umgebung umzuschauen, blieb kaum. Zunächst konnten sie sich etlichen vielversprechenden Projekten widmen. Die Projekte der Brigade May umfasstenGeneralbebauungspläne für neue Industriestädte in Sibirien, unter anderem für Magnitogorsk am südlichen Ural und einen Stadterweiterungsplan für Moskau.

Aber schon der erste Entwurf für Magnitogorsk von Mart Stam wird abgelehnt. „Er wirke zu eintönig und lasse überhaupt einen sozialistischen Charakter vermissen.“[15] Das Leben beim Aufbau der Siedlungshäuser in Magnitogorsk war für Stam und seine Familie hart. Sie erhielten lange kein Gehalt, die Lebensmittel waren knapp und die Lage verschlechterte sich 1931 zusehends.

Zwar konnte in Magnitogorsk der erste Bauabschnitt nach Planänderungen mit einfachen Reihenhäusern vollendet werden, aber überall fehlte es an den notwendigsten Materialien. Vor allem der Innenausbau stagnierte wegen Materialmangels. Es fehlten die inneren Trennwände und Wasserleitungen, die Klosetts standen vor dem Haus und die Straßen bestanden nur aus festgefahrenem Lehm.

Dazu kam die heftige Kritik der Sowjetbürokratie, die das moderne Bauen ablehnte, sich immer eindeutiger historistischen Baustilen zuwandte und das Monumentale liebte. Die Häuser sähen aus wie Militärbaracken. An der Straßenseite fehlten die Fenster, so dass die Bewohner keine Aufmärsche beobachten oder dort flanieren könnten. Diese Art zu bauen, „verdanke sich ganz offensichtlich dem dekadenten System des Kapitalismus und eigne sich nicht für den sozialistischen Menschen“, lautete die Kritik.[16]

Da sich immer weitere Spezialisten aus Deutschland bewarben, wurden infolge der fortschreitenden Wirtschaftskrise und des Konkurrenzdrucks die Lebensmittel für die Architekten massiv gekürzt. Stalin wetterte gegen die Gleichmacherei, um die zunehmende Differenzierung der Löhne zwecks Steigerung der Arbeitsleistung und Privilegierung der Bürokratie zu rechtfertigen. Die ausländischen Spezialisten wurden mehr und mehr mit ihren darbenden sowjetischen Kollegen gleichgestellt. Die Valutazahlungen blieben ganz aus.

Meyers Leute erhielten in Moskau zunächst verschiedene Aufträge. Sie arbeiteten für den Schul- und Hochschulbau unter der Regie des Volkskommissariats der Schwerindustrie. Sie mussten Einrichtungen für 300 bis 3000 Studenten planen, ohne zu wissen, ob ihre Pläne je umgesetzt werden würden.

Neben den wirtschaftlichen Problemen nahmen für alle ausländischen Architekten die Schikanen von Seiten der Bürokratie zu, die das Neue Bauen immer offener ablehnte. Zunehmend rücksichtsloser setzte sie ihre Doktrin vom historistischen Bauen und dem sogenannten „sozialistischen Realismus“ durch. Statt schlichter Fassaden wurden Verzierungen, Säulen und Türmchen verlangt. Die Zeiten der Avantgarde waren ein für allemal vorbei.

So stellten nach wenigen Jahren viele wie Ernst May fest, dass ganzheitliche Konzepte des Neuen Bauens nicht mehr durchzusetzen waren oder die Qualität der Bauausführung weit unter gewohnten Standards lag. May selbst hatte immerhin mit seiner Gruppe an etwa 20 Orten in aufstrebenden Industrieregionen Großsiedlungen errichtet, wo es vorher nur Lehm- oder Holzbebauungen gegeben hatte. Seine Gruppe hinterließ, bevor sie aufgab, im Rahmen des gigantischen Stadtbauprojekts Magnitogorsk 50 einfache Zeilenbauten.

Meyer entwickelte sich trotz aller Schwierigkeiten immer mehr zu einem überzeugten Stalinisten. Im Oktober 1931 hielt er in Berlin einen Vortrag über seine Arbeit in der Sowjetunion. Er redete dort wie ein stalinistischer Funktionär: „In der Sowjetunion sind die Architekten Bauarbeiter an der Front des Fünfjahresplans. An dieser Arbeitsfront stehen wir als Bauarbeiter und Offiziere der technischen Kader... Bei uns wird nur in Gruppen gearbeitet, also kollektive Arbeit geleistet, es kommt nicht an auf die Persönlichkeit, wir sind ein Atom unter tausenden. Bei uns erhalten die Studierenden gründliche Unterweisung in den marxistisch-leninistischen und stalinistischen Ideen ... Der Rotarmist ist bei uns nicht nur dazu da, im Falle der Gefahr das proletarische Vaterland zu schützen, sondern er ist ein großer Kulturfaktor überhaupt... Die GPU leistet eine ungeheure Aufbau- und Erziehungsarbeit für den Sozialismus “[17]

Aber immer mehr stießen alle Ausländer auf Ablehnung und immer neue bürokratische Hindernisse. Sie waren Intrigen sowjetischer Kollegen ausgesetzt, die ebenfalls unter Druck standen. Zunehmend litt der Wohnungsbau an Materialmangel, da die Industriebaustellen bevorzugt versorgt wurden.

Wie Trotzki in „Verratene Revolution“schrieb, wurden im Verlauf des Kampfs gegen die Linke Opposition in der Partei alle Schulen und Experimente, die das kulturelle Leben in den Jahren nach der Revolution geprägt hatten, erstickt: „Die heutige herrschende Schicht fühlt sich dazu berufen, das geistige Schaffen nicht nur politisch zu kontrollieren, sondern auch seine Entwicklungsrichtung vorzuschreiben. Die unantastbare Herrschaft erstreckt sich in gleichem Maße auf Konzentrationslager, Ackerbau und Musik. Das Zentralorgan der Partei druckt anonyme richtungsweisende Artikel in der Form militärischer Befehle über Architektur, Literatur, dramatische Kunst, Ballett, ganz zu schweigen von der Philosophie, der Naturwissenschaft und der Geschichte.“[18]

Alle Privilegien der Ausländer wurden abgeschafft und ihre Vergütungen zusammengestrichen. Das moderne Bauen galt als kapitalistische Verirrung. Viele deutsche Architekten kehrten der Sowjetunion den Rücken und versuchten, anderswo neu anzufangen. Nur wenige gingen zurück nach Deutschland. Denn sie mussten fürchten, von den Nazis verfolgt zu werden, entweder weil sie überhaupt in die Sowjetunion gegangen waren oder weil sie jüdischer Herkunft waren. Auch in der Sowjetunion waren sie zunehmend Antisemitismus ausgesetzt.

May selbst gelang schon 1933 die Ausreise. Er ging nach Ostafrika. Nach seiner Abreise, wurden die deutschen Architekten immer häufiger von größeren Projekten ausgeschlossen und konnten bestenfalls in Nischen ihr kümmerliches Auskommen fristen.

Opfer des Stalinismus

Die stalinistische Wende zum historischen Bauen wurde für Meyer 1934 am Wettbewerb für den Palast der Sowjets deutlich. Der Palast sollte Teil einer von Stalin propagierten umfassenden baulichen Umstrukturierung Moskaus sein. Die Jury, in der Stalin selbst den Ton angab, lehnte nicht nur den Entwurf Meyers, sondern alle Entwürfe berühmter westlicher Architekten ab, darunter die von Gropuis, Erich Mendelsohn und Le Corbusier.

Den Ersten Preis erhielt Boris Jofan, der in Italien ausgebildet worden war und auch dort gewirkt hatte. Sein monumentaler Entwurf, der 415 Meter hoch werden sollte, war mit vielen Rampen, Säulen und Türmen versehen und sollte an der Spitze von einer monumentalen Leninstatue gekrönt werden. Stalin verlangte jedoch, dass auch eine Statue von ihm daneben platziert wird, was Jofan nicht realisieren konnte. Daher entschied Stalin, dass nur seine eigene göttliche Figur den Turm zieren sollte. Realisiert wurde das Projekt allerdings nie. Bis auf das Fundament und einige Betonstützen wurde nichts gebaut. Zunächst wegen Materialmangel und Problemen, die der sumpfige Moskauer Boden machte, und dann infolge des Zweiten Weltkriegs.

Wettbewerb für den Palast der Sowjets: Der Entwurf von Meyer (oben) und der siegreiche Entwurf von Jofan

Meyer und seine Brigadisten arbeiteten noch eine Zeitlang an verschiedenen Projekten. Er selbst blieb Professor an der Hochschule, war aber auch noch als leitender Architekt an Projekten tätig. Aber nur wenig davon wurde verwirklicht. Er entfernte sich weit von seinen früheren wissenschaftlichen Ansprüchen an das Bauen. Er sagte sich los vom Neuen Bauen und „begann sich nun für historische Formen zu erwärmen“[19] Aber auch diese opportunistische Wandlung brachte ihm keinen Erfolg.

So blieb auch ihm letztlich nur die Möglichkeit der Ausreise. In der Schweiz, wo er von Freunden unterstützt ein Kinderheim bauen konnte, fühlte er sich als Russlandfahrer und Kommunist verfolgt. In der Sowjetunion wurde er gleichzeitig als Nichtskönner verleumdet. Dennoch bekannte er sich weiterhin zur stalinistischen „‚nationalen Schwenkung‘, welche die Architektur in der Sowjetunion genommen habe, um sie den nationalen Belangen dienstbar zu machen“, wie er beschönigend an seine Bekannte Karola Bloch schrieb.[20]

In einem Brief an seine sowjetischen Kollegen schob er seinen als „dekadent funktionalistisch“ abgelehnten Entwurf für den Sowjetpalast seinen Mitarbeitern Antonin Urban, Philipp Tolziner und Tibor Weiner in die Schuhe, die ihn angeblich ohne seinen Willen erarbeitet und eingereicht hätten. Dass dies für Urban und Tolziner, die noch in der UdSSR waren, höchste Gefahr bedeutete, nahm er offensichtlich in Kauf.

Gerade noch rechtzeitig reiste Brigademitglied Konrad Püschel 1937 ab. „Ausländer wurden nun systematisch vom Leben ausgegrenzt … Einst von der Sowjetunion als willkommene Aufbauhelfer und Freunde begrüßt, wurden er und seinesgleichen nun vom stalinistischen Machtsystem auf großen Transparenten als Faschisten und Feinde bedroht, die man aus dem Heimatland der Arbeiterklasse hinauswerfen müsse, während ihnen in der Heimat Verhöre und möglicherweise Strafe und Haft drohten.“[21]

Im August 1937 konnten auch Margarete Schütte-Lihotzky und ihr Mann die Sowjetunion verlassen. Sie reisten über Odessa und Istanbul nach Paris, wo sie immer nur kurzfristig Arbeit fanden. Schließlich versuchten sie es vergeblich in London, bis sie ebenfalls nicht sehr erfolgreich in der Türkei landeten.

Der Ungar Tibor Weiner konnte zwar rechtzeitig ausreisen, aber ebenfalls nicht zurück in seine Heimat, in der inzwischen der Diktator Miklós Horty mit Hitler und Mussolini paktierte. Weiner ließ sich vorübergehend in Chile nieder, bis er 1949 nach Ungarn zurückkehren konnte. Er war trotz seines grundsätzlichen Festhaltens am Neuen Bauen in der Lage, sich an die jeweiligen Richtungen der bürokratischen Machthaber anzupassen und blieb ein anerkannter Architekt mit wichtigen Aufträgen, wie dem Bau der neuen „sozialistischen“ Stadt Dunaújváros, in der er selbst bis zu seinem Tod 1965 lebte.

Bauhäusler im Fokus der Säuberungen

Muscheler beschreibt das traurige Schicksal der einzelnen Mitglieder der Stoßbrigade Rotfront, denen es nicht mehr gelang, die Sowjetunion rechtzeitig zu verlassen. „1938 wurde Bela Scheffler in Swerdlowsk verhaftet, Im Mai 1939 wundersamerweise wieder freigelassen, im Herbst 1041 erneut abgeholt, als Spion angeklagt und erschossen. Im Februar 1938 wurde Margarete Mengel, 32 Jahre alt, verhaftet und ein halbes Jahr später erschossen. Mengels und Meyers gemeinsamer Sohn Johannes, der inzwischen 11 Jahre alt war, kam unter dem Namen Iwan Iwanowitsch in ein Heim für kriminelle Jugendliche. Von jeder Schulbildung ausgeschlossen, wurde er bereits mit 15 Jahren als Grubenarbeiter unter Tage eingesetzt. Johannes Mengel erfuhr erst 1993 vom gewaltsamen Tod seiner Mutter und kehrte ein Jahr später als Spätaussiedler nach Deutschland zurück.“[22] Ebd. S. 118f

Antonin Urban wurde ebenfalls 1938 verhaftet, gefoltert und an einem unbekannten Ort erschossen. Unter der Folter verriet er Kollegen als „Mitspione“. Es gelang ihm, einem Mitgefangenen einen Zettel zuzustecken, auf dem er sich dafür entschuldigte. Seine russische Frau wurde mit ihrer Tochter nach Osten deportiert.

Philipp Tolziner, der seit 1931 in der Sowjetunion lebte, wurde im Februar 1938 verhaftet, in die Lubjanka gebracht und verhört. Ihm wurde nicht klar, weshalb man ihn verdächtigte. Unter der Folter, halb totgeschlagen, hielt er es für besser zu gestehen, er habe Spionagematerial gesammelt und an Kollegen gegeben, die er sicher im Ausland wusste.

Ein späterer Widerruf nützte ihm nichts. Er wurde ohne Gerichtsverhandlung wegen „konterrevolutionärer Tätigkeit“ zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt und ins Gulag USOLag nach Sibirien gebracht, wo er wie viele Mithäftlinge beinahe erfroren wäre. Später schaffte er es, sich für die Lagerleitung durch eine Fähigkeiten und seinen Erfindungsreichtum als Architekt unentbehrlich zu machen. Er blieb nach seiner Entlassung zunächst in Sibirien. Er widmete sich der Denkmalpflege und kam erst als Pensionär nach Moskau zurück, wo er 1996 90-jährig starb.

Konrad Püschel, der nach seiner Ausreise aus der Sowjetunion in Thüringen im Büro eines ehemaligen Bauhäuslers unterkam, der inzwischen Mitglied der NSDAP war, ereilte noch einmal sein Schicksal. Er wurde im Januar 1945 von der Roten Armee verhaftet und wegen seiner Russischkenntnisse für einen faschistischen Spion gehalten, von einem Militärgericht verurteilt, in ein Strafbataillon gesteckt, schließlich als Kriegsgefangener in das Lager Zichinow, später in das in Wilna und dann nach Weißrussland gebracht, wo er im Straßenbau eingesetzt wurde. Dort blieb er bis Ende 1947, bevor er abgemagert zu seiner Familie zurückkehren konnte. In der DDR konnte er schließlich als Professor an der Hochschule für Baukunst und bildende Künste in Weimar seine berufliche Karriere beschließen.

Mitglieder von Meyers Brigade in Moskau: (v.l.) Natja Catalan, Tibor Weiner, Philipp Tolziner, Konrad Püschel, Margarete Mengel, Lilya Polgar und Anton Urban

Meyer selbst ging nach vergeblichen Versuchen, ein Exilland und neue Aufgaben zu finden, nach Mexiko. Aber auch dort gelang es ihm kaum, beruflich Fuß zu fassen. 1943 veröffentlichte er in Mexiko ein Schwarzbuch über den Naziterror in Europa (El libro negro del terror nazi en europa). Er trat der Kommunistischen Partei Mexikos bei und blieb dem Stalinismus treu.

Ende 1949 ging er nach Zerwürfnissen mit den mexikanischen Behörden zurück in seine Schweizer Heimat und widmete sich bis zu seinem Tod im Jahre 1954 vor allem der Herausgabe architekturwissenschaftlicher Literatur. In die Schweiz zurückgekehrt, lebte er mit seiner Familien ziemlich kümmerlich von Spenden, die ihm Parteimitglieder aus der Schweiz und Italien verschafften.

Obwohl sich nach dem Krieg die Prinzipien des Neuen Bauens, für die Meyer gekämpft hatte, allenthalben in Europa durchsetzten, konnte er nirgends einen Auftrag erhalten. Andere ehemalige Bauhäusler, die sich im Dritten Reich angepasst und zum Teil Nazis geworden waren, wurden problemlos als Dozenten an die Weimarer Hochschule berufen. Meyer dagegen bemühte sich jahrelang vergeblich um einen Posten in der DDR. Sowohl die Stalinisten als auch die gewendeten ehemaligen Nazis wollten nichts von ihm wissen.

Mart Stam musste sich, 1935 rechtzeitig nach Holland zurückgekehrt, mühsam als angestellter Architekt durchschlagen. Er blieb weiterhin Mitglied der Kommunistischen Partei, wurde 1948 an die Akademie der bildenden Kunst nach Dresden berufen, wo er erneut mit den Vertretern der stalinistischen Architekturdoktrin aneinandergeriet. 1953 verließ er die DDR wieder.

Meyer selbst wurde in der frühen DDR totgeschwiegen. Das änderte sich erst in den 1970er Jahren, als die DDR-Machteliten es opportun fanden, ihr Image mit dem Ruhm des Bauhauses aufzupolieren.

Die tragische politische Geschichte des „roten Bauhauses“, seiner Lehrer und Schüler und ihr tragisches Scheitern, in der Sowjetunion ihre Ideen vom Bauen für eine neue Gesellschaft umzusetzen, illustrierten die konterrevolutionäre Rolle der stalinistischen Bürokratie. Sie war keine Variante des Sozialismus, sondern Ausdruck der einsetzenden Konterrevolution, die jegliche fortschrittliche Perspektive und Kreativität erstickte.

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Anmerkungen:

1) Eine Übersicht über die Veranstaltungen findet sich auf bauhaus100.de

2) Ursula Muscheler, Das rote Bauhaus. Einer Geschichte von Hoffnung und Scheitern, Berlin 2016. Muscheler verfolgt nicht nur das Schicksal der Bauhäusler in der UdSSR, sondern aller Vertreter des Neuen Bauen, die damals in der Sowjetunion eine Zukunft suchten.

3) Magdalena Droste, Bauhaus, Hrsg. Bauhausarchiv Berlin, Köln 2002

4) Claude Schnaidt: Hannes Meyer – Bauten, Projekte und Schriften; Stuttgart, 1965

5) Hermann Funke. Wer hat Angst vor Hannes Meyer? Ein verfluchter Architekt, in:Die Zeit, 24. Februar 1967 Die ZEIT Nr. 08/1967

6) Ausführlich dazu: Martin Kieren: Hannes Meyer. Dokumente zur Frühzeit. Architektur und Gestaltungsversuche 1919–1927. Heiden 1990. S. 28.

7) Mart Stam (1928/29 Gastdozent am Bauhaus) hatte das erste funktionstüchtige Modell des berühmten Freischwingers, des Stuhls ohne Hinterbeine, entworfen.

8) Brief von Hannes Meyer an Adolf Behne, zitiert nach Droste:, S. 166

9) Zitiert nach Theo van Leeuwen: Introducing Social Semiotics. London und New York 2005. S. 71 (aus dem Englischen)

10) siehe Hermann Funke. Wer hat Angst vor Hannes Meyer?

11) ebd.

12) Ursula Muscheler, Das rote Bauhaus. Eine Geschichte von Hoffnung und Scheitern, Berlin 2016, S. 33

13) Vgl. Leo Trotzki, Die Wirtschaftsentwicklung und die Zickzackpolitik der Führung, in: Verratene Revolution. Essen 1980, S. 38ff

14) Zu den Auseinandersetzungen innerhalb der Parteiführung und die politischen Auswirkungen auf die Wirtschaft in dieser Epoche, siehe: Wladimir S. Rogowin, Stalins Kriegskommunismus, Essen, 2006

15) Muscheler, S. 29

16) ebd. S. 50

17) Zitiert in: El Lissitzki, 1929 Russland: Architektur für eine Weltrevolution, Bauwelt Fundamente 14, Berlin 1965

18) Trotzki, Verratene Revolution, S. 189.

19) Ursula Muscheler, Das rote Bauhaus. Einer Geschichte von Hoffnung und Scheitern, Berlin 2016, S. 62

20) Ebd. S. 114

21) Ebd. S. 106, 107

22) Ebd. S. 118f

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