Algerien: Massenproteste gegen das Bouteflika-Regime

Am Freitag demonstrierten in Algerien wieder Hunderttausende Menschen für das Ende des Regimes von Präsident Abdelaziz Bouteflika. Im Zentrum Algiers waren Berichten zufolge Straßen und Plätze komplett gefüllt. In Sprechchören forderten die Menschen den „Sturz des Regimes“.

Seit dem 22. Februar finden täglich kleinere Protestveranstaltungen, vor allem von Studenten und Jugendlichen statt. Die bisher größte Demonstration davor gab es am letzten Freitag, denn das ist traditionell der Tag, an dem häufig nach dem Mittagsgebet Proteste stattfinden. Am Sonntag hatte die regierende Nationale Befreiungsfront (FLN) dennoch angekündigt, der Präsident werde zur Wahl am 18. April erneut antreten. Seither haben sich die Proteste und Forderungen nach seinem Rücktritt noch ausgeweitet.

Der 82-jährige Bouteflika, der seit 1999 im Amt ist, soll sich in einem kritischen Gesundheitszustand befinden und in einer Schweizer Klinik in Genf behandelt werden. Er ist in jeder Hinsicht eine politische Leiche: Seit einem schweren Schlaganfall im Jahr 2013 hat er keine öffentlichen Reden mehr gehalten und gilt als Galionsfigur der inneren Kreise seines Regimes, das sich auf das Militär und den Sicherheitsapparat stützt. Sie versuchen, sich auf einen geeigneten Nachfolger zu einigen und haben zugesagt, Bouteflika werde nach einem Wahlsieg binnen eines Jahres zurücktreten.

Die Arbeiterklasse interveniert zunehmend durch Streiks, während die Gewerkschaften versuchen, die Kontrolle zu behalten. Am Mittwoch stimmte der nationale Verband der Lehrergewerkschaften für einen landesweiten eintägigen Generalstreik am 13. März. Die Lehrer schließen sich bereits den Protesten der Studenten und Schüler an. Am Dienstag hielten die Dozenten der Universität Mouloud Mammeri in Tizi Ouzou eine Versammlung auf dem Campus ab und stimmten dafür, zusammen mit den protestierenden Studenten zur Campusbücherei zu ziehen.

Der Unabhängige Gewerkschaftsbund der Produktivkräfte (COSYPOF) kündigte am Dienstag offiziell einen fünftägigen Streik vom 10. bis zum 14. März an und forderte von der nationalen Wahlbehörde, Bouteflika als Wahlkandidaten zu disqualifizieren. Die Gewerkschaft vertritt Arbeiter der Energiebranche sowie einen Teil der Beschäftigten im Gesundheitswesen. Der größte algerische Gewerkschaftsbund, die Generalunion der algerischen Arbeiter (UGTA), ist direkt mit der FLN verbündet und hat ihre Unterstützung für den Präsidenten erklärt.

Am Dienstag drohte der Stabschef des Militärs, Generalleutnant Gaed Salah, in einer Fernsehansprache auf Ennahar TV, das Militär sei bereit einzugreifen. Er erklärte, das Militär werde „der Garant für Sicherheit und Stabilität“ bleiben. Die Aktivitäten des Militärs „bei der Ausrottung des Terrorismus ... haben einige Parteien verärgert, die kein stabiles und sicheres Algerien wollen“. Er erklärte, das Militär werde „ein Bollwerk gegen alles errichten, was Algerien unberechenbaren Gefahren aussetzen könnte“.

Salah drohte, das Militär werde keine Rückkehr zu den Zuständen der „schmerzhaften Jahre“ des Bürgerkriegs von 1992 bis 2002 dulden. In dieser Zeit forderten Kämpfe zwischen dem Militär und islamistischen Kräften 200.000 Todesopfer.

Am Donnerstag veröffentlichte das Regime in Bouteflikas Namen einen Brief, in dem es vor sozialen Unruhen warnte: „Wenn eine verräterische Gruppe aus dem In- oder Ausland den friedlichen Diskurs stört, könnten Aufruhr und Chaos sowie daraus resultierende Krisen und Leiden die Folge sein.“

Die Parolen der Organisationen, die an den Protesten beteiligt sind, konzentrieren sich zwar ausschließlich auf die Forderung nach Bouteflikas Absetzung, aber was die Arbeiter und Jugendlichen auf den Demonstrationen antreibt, das sind viel umfassendere soziale Fragen. Die soziale Lage in Algerien ist extrem angespannt. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung sind jünger als 30 Jahre, das Durchschnittsalter liegt bei 28 Jahren, und mehr als jeder vierte Jugendliche ist arbeitslos.

Doch die Parteien und Organisationen, die die derzeitigen Demonstrationen gegen Bouteflika unterstützen, weisen es weit von sich, die Ursachen für die sozialen Bedingungen der Arbeiter und Unterdrückten zu thematisieren. Darin unterscheiden sie sich nicht von dem Bouteflika-Regime.

Die Organisatoren der Demonstrationen sind Vertreter abtrünniger Fraktionen des Regimes. Sie repräsentieren verschiedene Schichten der algerischen Kapitalisten und der Mittelklassen, die mit dem Machtmonopol von Bouteflikas innerem Kreis unzufrieden sind. Ihre Forderungen beziehen sich auf eine Umverteilung der Macht und des Reichtums innerhalb der herrschenden Schichten.

Die Gruppierung Mouwatana (Bürgerdemokratie), die an der Organisierung der Demonstrationen über Facebook beteiligt ist, wird in den internationalen Medien als treibende Kraft der „demokratischen Bewegung“ dargestellt. Sie wurde im Juli 2018 von Ahmed Benbitour, einem ehemaligen Premierminister unter Bouteflika, als Dachorganisation verschiedener Parteien gegründet.

Der nationale Führer von Mouwatana ist Sofiane Djilali, Präsident von Jil Jadid, einer wichtigen Partei innerhalb von Mouwatana. In ihrem Programm von 2017 fordert diese Partei die Öffnung des Regimes, aber sie lehnt es ab, für die Interessen der Arbeiter zu kämpfen. Das zeigt sich an der Behauptung Mouwatanas, die Jugendlichen „arbeiten nur so wenig wie möglich, wollen aber viel verdienen. Es ist schwierig, sie dazu zu bringen, an ihrem Arbeitsplatz zu bleiben. Wenig arbeiten und viel verdienen, das ist das Motto eines Großteils der Jugend ...“

In einer neuen Stellungnahme rief Mouwatana für Freitag zu Demonstrationen für den Rücktritt von Bouteflika und seinem Premierminister auf.

Vor einer Bewegung der Arbeiterklasse fürchten sich sämtliche bürgerlichen Fraktionen. Mehrere Minister der amtierenden FLN haben in den letzten Tagen ihren Rücktritt angekündigt. Sie fürchten, dass Bouteflika abgesetzt werden muss, um das Regime zu retten.

Die imperialistischen Großmächte beobachten die Lage aufmerksam, und zweifellos intervenieren sie auch direkt. Algerien besitzt die größten nachgewiesenen Gasvorkommen in Nordafrika und ist nach Norwegen und Russland der drittgrößte Gaslieferant Europas. Spanien bezieht von dort die Hälfte seiner Gasimporte. Das Bouteflika-Regime spielt eine wichtige Rolle bei französischen Sicherheitsoperationen und bei den Bestrebungen der Europäischen Union, afrikanische Migranten an der Flucht nach Europa zu hindern. Diese Flüchtlinge wollen den Lebensbedingungen entkommen, die das Resultat der Kriege und der neokolonialen Unterdrückung des europäischen und US-Imperialismus sind.

In den letzten Jahren hat sich China zum größten Handelspartner Algeriens entwickelt, was in Frankreich und den USA für Unruhe sorgt. Am Dienstag erklärte der Sprecher des US-Außenministeriums, Robert Palladino, vor der Presse: „Wir beobachten diese Proteste in Algerien. Wir werden das auch weiterhin tun. Und ich würde sagen, dass die USA die algerische Bevölkerung und ihr Recht auf friedliche Versammlungen unterstützen.“

Am Mittwochabend erklärte der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian: „Die „Stabilität, Sicherheit und Entwicklung Algeriens sind für Frankreich von absolut grundlegender Bedeutung.“

Die Macron-Regierung ist sich überaus bewusst, dass sich eine Bewegung der algerischen Arbeiterklasse schnell nach Frankreich selbst ausbreiten könnte. Bereits die Proteste der „Gelbwesten“ sind ein Ausdruck der immensen sozialen Wut. In Frankreich leben vier bis fünf Millionen Menschen algerischer Herkunft, darunter etwa eine halbe Million gebürtige Algerier.

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